Das deutsche Bundesverfassungsgericht setzt der Überwachung durch die Polizei und den Verfassungsschutz erneut enge Grenzen. Das Urteil des Ersten Senats vom 26. April 2022 bezieht sich zwar auf Bayern, hat jedoch darüber hinaus Bedeutung. Aber werden die Bürger nicht schon längst weit mehr überwacht, als es den Behörden in den Sinn käme?
Im Jahr 2016 versuchte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann, mit seiner «Reform» des bayerischen Verfassungsschutzes mächtig zu punkten. Die bisherigen massiven Einschränkungen für die Wohnraumüberwachung, die Durchsuchung von privat genutzten Computern und die Speicherung von Daten mehr oder weniger anlasslos «auf Vorrat» sollten weitgehend aufgeweicht werden. Dagegen wurde von einigen Privatpersonen beziehungsweise Organisationen wie der «Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten» Klage erhoben.
Das Bundesverfassungsgericht hat den Klägern weitgehend recht gegeben. So muss weiterhin eine scharfe Abgrenzung zwischen der Polizei und dem Verfassungsschutz vorgenommen werden. Diese Abgrenzung bemisst sich daran, dass der Verfassungsschutz im Vorfeld von Gefahren tätig ist, während die Polizei bei konkreten Straftaten eingreift. So ist es zum Beispiel der Polizei möglich, bei einer konkreten Straftat auf richterliche Anordnung eine Wohnung zu durchsuchen oder auf Daten von Computern zuzugreifen. Daraus lässt sich aber nicht ein Freibrief für den Verfassungsschutz ableiten. Mit ihrem Urteil haben die Richter in Karlsruhe der bayerischen Staatsregierung, die so stolz auf ihre Juristen ist, eine deftige Klatsche verpasst. Bis Ende Juli 2023 muss sie ihre Gesetze entsprechend umarbeiten.
Das Urteil orientiert sich an den Freiheitsrechten, wie sie im Grundgesetz ausformuliert sind und in die nur unter streng geregelten Auflagen im Zusammenhang mit Straftaten seitens der Polizei «zur Abwehr einer gegenwärtigen gemeinen Gefahr oder einer gegenwärtigen Lebensgefahr für einzelne Personen» eingegriffen werden kann. Unter diesem Schutz steht die Wohnung ebenso wie das eigene Handy, das, wie die Richter jetzt feststellten, vom Verfassungsschutz nicht geortet werden darf. Er darf also nicht prophylaktisch Bewegungsprofile erstellen.
Einerseits ist es wohltuend, dass das Bundesverfassungsgericht noch einmal in dieser Klarheit an die Grundrechte erinnert. Auf der anderen Seite wirkt dieses Urteil geradezu altmodisch. Denn alles das, woran der Gesetzgeber und die Justiz den Verfassungsschutz und die Polizei hindern, geschieht nun schon seit Jahrzehnten seitens der Internet-Industrie, ohne dass sich die Kunden und Nutzer dagegen wehren könnten oder gar einen Aufschrei der Empörung ausstiessen. Jeder weiss, dass von ihm, wenn er nicht zentrale Funktionen seines Handys deaktiviert, Bewegungsprofile erstellt werden. Auch werden seine Abfragen und Vorlieben im Internet gespeichert und kommerziell ausgewertet. Seine Krankendaten sind ebenfalls zentral gespeichert und können von mehr oder weniger befugten Interessenten abgerufen werden.
Dazu kommt die Gesichtserkennung, die es nahezu unmöglich macht, sich irgendwo im öffentlichen Raum unerkannt zu bewegen. Diese Entwicklungen sind gewollt, wie vor einigen Jahren Edward Snowden voller Entsetzen erkennen musste und in einem ausführlichen Buch dargelegt hat. Zu seiner Erkenntnis gehört auch, dass zumindest in Amerika staatliche Stellen immer mehr Aufgaben an private Dienstleister delegieren, um sich aus der Verantwortung und der Haftbarkeit zu stehlen.
Vor diesem Hintergrund wirkt das Karlsruher Urteil wie die ehrenwerte Erinnerung an die gute alte Zeit.