Alles begann spätestens mit Ilan Halimi, einem 23-jährigen Juden, der 2006 von einer Gruppe muslimischer Einwanderer drei Wochen lang festgehalten und am Ende zu Tode gefoltert wurde. Das war passiert im Frankreich des Jahres 2006 und als Reaktion darauf passierte im Grunde nicht sonderlich viel. Die Presse nannte die Peiniger Halimis die „Gang der Barbaren“, ansonsten aber gab es keinen wirklichen Aufschrei der Empörung im Land, keine Grossdemonstrationen gegen Antisemitismus. Dafür wurde im Lauf der letzten Jahre eine Gedenktafel für den grausam ermordeten Ilan Halimi wiederholt geschändet.
Sechs Jahre nach dem tödlichen Gewaltakt der „Gang der Barbaren“ erschoss dann der 24-jährige Mohamed Merah vor einer jüdischen Schule in Toulouse drei Kinder und einen Lehrer.
Im Januar 2015 folgte der Anschlag auf den jüdischen Supermarkt in Paris. Und im April 2017 traf es schliesslich Sarah Halimi, eine Rentnerin, die mitten in Paris von einem Nachbarn mit Migrationshintergrund aus dem Fenster geworfen und getötet wurde, weil sie Jüdin war.
Alltäglicher Antisemitismus
Diese Kapitalverbrechen gegen jüdische Mitbürger im Lauf der letzten zehn Jahre sind eine Sache. Eine andere ist der alltägliche Antisemitismus, der sich ganz überwiegend in Frankreichs Vorstädten immer offener breitmacht. Erst letzten Monat wurde zum Beispiel in Créteil, östlich von Paris, ein koscherer Supermarkt in Brand gesteckt, nachdem er Wochen zuvor schon mit antisemitischen Parolen beschmiert worden war.
Statistisch gesehen ist die Zahl der Anschläge gegen jüdische Einrichtungen in den letzten Jahren zurückgegangen, wohl auch, weil sie seit den Terroranschlägen stärker bewacht werden. Dafür aber haben gewaltsame Angriffe auf jüdische Personen in den letzten drei Jahren deutlich zugenommen.
Letztes Beispiel, vor zwei Wochen, der Angriff auf einen 8-jährigen Jungen, der bei einfallender Dunkelheit auf dem Weg zur Nachhilfestunde in der nördlichen Pariser Vorstadt Sarcelles seine Kippa trug und von zwei 15-Jährigen verprügelt wurde. Nach diesem erneuten, schockierenden Vorfall äusserte sich Frankreichs Regierungschef Edouard Philippe persönlich vor dem französischen Parlament und sagte unumwunden: Um den Antisemitismus wirksam zu bekämpfen, muss man den Mut haben anzuerkennen, dass in Frankreich inzwischen eine neue Form eines gewalttätigen, brutalen Antisemitismus existiert, der inzwischen auch immer offener zum Ausdruck kommt.
Klein-Jerusalem
Der Angriff auf den 8-jährigen Jungen hat eine hohe Symbolkraft. Denn er ereignete sich just in Sarcelles, einer Trabantenstadt aus den 60er Jahren nördlich von Paris, die im Volksmund, auf Grund ihrer bedeutenden jüdischen Gemeinde von rund 15’000 Mitgliedern, gerne als Klein-Jerusalem bezeichnet wird. Jahrzehnte lang galt Sarcelles auch als Modell für ein relativ harmonisches Zusammenleben zwischen Muslimen, Juden und Christen und war so etwas wie das Vorzeigebeispiel für eine gut funktionierende, multikulturelle Gemeinde par exellence.
Seit mehreren Jahren schon gehört dies jedoch der Vergangenheit an. Und zwar spätestens seitdem eine Pro-Palästina-Demonstration in Sarcelles im Juli 2014 völlig aus dem Ruder gelaufen und in Pogrom-ähnliche Gewalttätigkeiten ausgeartet war. Jüdische Geschäfte und Einrichtungen brannten damals in Sarcelles und die Synagoge konnte erst im letzten Moment vor dem anstürmenden Mob gerettet werden. Kein Wunder, dass das Spuren hinterlassen hat und die jüdische Gemeinde in Sarcelles sich seit vier Jahren nicht mehr in Sicherheit wähnt.
Appell des Bürgermeisters
„Natürlich bin ich beunruhigt“, sagte nach dem jüngsten Vorfall ein Vater, der gerade seine Kinder in einer jüdischen Schule in Sarcelles abgeliefert hatte, „im Grunde aber erleben wir derartiges hier jetzt schon seit Jahren.“
„Die Situation hat sich verschlimmert, die jüdischen Mitbürger bekommen langsam Angst und beginnen zu tun, was man nicht tun sollte, nämlich Sarcelles zu verlassen“, klagte der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde dort.
Der Bürgermeister von Sarcelles – einer seiner Vorgänger in den 90er Jahren hiess Dominique Strauss-Kahn – beschwor nach der Attacke auf den 8-jährigen Jungen die jüdische Bevölkerung, in der Stadt und in Frankreich zu bleiben, auch wenn er ihre Verunsicherung verstehen könne. Einfach wegzugehen regele das Problem nicht, vielmehr gälte es, gemeinsam Widerstand zu leisten gegen derartige Entwicklungen, so das Stadtoberhaupt, das an der Entwicklung der letzten Jahre nichts beschönigen will.
„Ich habe natürlich gesehen“, so Bürgermeister Nicolas Macioni, „wie eine Reihe von Jugendlichen in gewissen Vierteln dieser Stadt nach und nach einen ganz primitiven Antisemitismus entwickelt hat, der zwar auch vorher schon existierte, aber nie, wie jetzt, ganz offen und tagtäglich zum Ausdruck kam. Das Schimpfwort: „Sale Juif“ (Drecksjude) z. B. ist heute schon fast alltäglich geworden. Und was man aus dem Mund dieser Jugendlichen auch immer wieder zu hören bekommt, sind Sätze wie: „Die Juden haben alles und wir haben nichts.“
Primitiver Antisemitismus
Diesen ganz primitiven Antisemitismus bekamen vergangenen September z. B. auch Roger Pinto und seine Frau zu spüren, als sie abends in ihrem Haus im östlichen Pariser Vorort Livry Gargan überfallen und stundenlang misshandelt wurden, bevor die Täter mit Schmuck und Bargeld wieder abzogen.
„Sie sagten sofort: Ihr seid Juden, ihr seid reich, gebt uns das Geld, ihr habt viel Geld. Das haben sie mehrmals wiederholt“, erinnert sich Roger Pinto. „Und dann haben sie sich an uns vergriffen und immer wieder gesagt: Ihr seid reich und habt viel Geld, wenn ihr es uns nicht gebt, bringen wir euch um.“
Dinge beim Namen nennen
Eine ganze Reihe von Intellektuellen, überwiegend die so genannten Neokonservativen, wie etwa die Philosophen Alain Finkielkraut oder Pascal Bruckner, prangern schon seit Jahren diese neue Form des Antisemitismus an. Ebenso der Essayist und Anwalt, Gilles-William Goldnagel, der auf den jüngsten Vorfall in Sarcelles besonders heftig reagierte:
„Ich habe genug von den halbherzigen Verurteilungen derartiger Vorfälle in der Öffentlichkeit, um ja nicht den Vororten den Prozess zu machen. Dieser kleine Junge in Sarcelles ist ja nicht von irgendwelchen Skinheads verprügelt worden. Nein, es handelt sich hier um einen echten Antisemitismus mit islamistischen Wurzeln. Man muss die Dinge benennen. Seit 30 Jahren sage ich, dass der Antisemitismus in Frankreich ein anderer geworden ist. Anfangs wurde ich dafür noch als Rassist beschimpft. Jetzt aber ist es praktisch schon zu spät. Wir reden hier noch über die jüdische Gemeinde in Sarcelles. Diese jüdische Gemeinde haut aber inzwischen ab aus Sarcelles.“
In der Tat sind, laut Zahlen eines Beobachtungszentrums für antisemitische Vorfälle, in den letzten zehn Jahren in der Grossregion Paris rund 60’000 Juden umgezogen, weg aus den östlichen und vor allem aus den nördlichen Pariser Vororten und hin in die reicheren, westlichen Vororte oder nach Paris selbst. In La Courneuve zum Beispiel, einer Stadt im Departement Seine-Saint-Denis, dem ärmsten in ganz Frankreich und demjenigen mit dem höchsten Ausländeranteil, leben von ehemals 300 heute nur noch 80 jüdische Familien. Ein Stück weiter in Tremblay oder Aulnay-sous-Bois sind die Synagogen inzwischen immer weniger besucht. Dafür weiss die beigeordnete Bürgermeisterin im gutbürgerlichen 17. Arrondissement von Paris zu berichten, dass dort die Zahl von koscheren Restaurants in den letzten zehn Jahren von zwei auf mittlerweile über dreissig gestiegen ist und das Arrondissement derzeit zu einem neuen Zentrum des jüdischen Lebens in der französischen Hauptstadt wird.
Struktureller Antisemitismus
Amine El Khatmi, Franzose mit nordafrikanischen Wurzeln, ist sozialistischer Abgeordneter aus Avignon, wo der heute 31-Jährige in einer Vorstadt aufgewachsen war. Er hat gerade ein Buch veröffentlicht unter dem Titel „Ich werde nicht mehr schweigen“, in dem er die relative Blauäugigkeit der Linken gegenüber islamistischen Tendenzen in der französischen Gesellschaft anprangert und auch den Antisemitismus in Frankreichs Vorstädten.
„Man kann um gewisse Worte streiten“, so El Khatmi, „aber in Frankreichs Vororten existiert ein struktureller, ja ein kultureller Antisemitismus. In arabisch-muslimischen Familien wird er den Kindern von klein auf beigebracht. Ich bin selbst in einem solchen Vorort bei Avignon aufgewachsen. Wie oft habe ich dort das Wort „Al-Yahudi“ gehört, das arabische Wort für Jude, das als eines der schlimmsten Schimpfwörter benutzt wurde. Die Kinder, die in dieser Umgebung heranwachsen, hören, dass die Juden ihre Feinde sind, und hören all die schrecklichen Klischees über Juden: sie würden die Finanzwelt, die Medien und die Banken beherrschen. Am Ende sind die Kinder überzeugt, dass das tatsächlich so ist. Wir stehen vor einer enormen Herausforderung, um mit Hilfe von Erziehung dieses Schema, diese antisemitischen Vorurteile in den Köpfen vieler Jugendlicher zu dekonstruieren.“
Weg aus öffentlichen Schulen
Amine El Khatmi weiss auch, dass es in manchen öffentlichen Vorstadtgymnasien Frankreichs inzwischen schwer bzw. unmöglich geworden ist, im Geschichtsunterricht die Shoah zu behandeln. Gleichzeitig haben jüdische Kinder in zahlreichen Vorstädten Frankreichs die öffentlichen, staatlichen Schulen fast vollständig verlassen, wurden von den Eltern aus Sicherheitsgründen in jüdischen Privatschulen eingeschrieben. Vor einigen Wochen hat der Direktor einer öffentliche Schule in Marseille in einem Zeitungsinterview sogar eingestanden, dass er einer jüdischen Familie geraten habe, ihr Kind nicht in seiner Schule einzuschreiben, aus Angst, dass dessen Sicherheit nicht gewährleistet wäre.
Als 1990 auf dem jüdischen Friedhof der südfranzösischen Stadt Carpentras mehrere Gräber geschändet worden waren, gingen damals im ganzen Land umgehend Hunderttausende Menschen auf die Strasse, in Paris mischte sich selbst Staatspräsident Mitterrand unter die Demonstranten.
Knapp 30 Jahre später kann man sich in Frankreich einen derartigen Aufschrei gegen einen antisemitischen Gewaltakt kaum noch vorstellen.