Das Vertrauen in die Kompetenz der deutschen Bundes- und Landesregierungen sinkt dramatisch. Die Bürger fühlen sich nicht nur schlecht regiert, sondern mit ihren drängenden Problemen geradezu im Stich gelassen. Gleichzeitig legt die AfD in Wahlen und Umfragen konstant zu und liegt jetzt schon vor der SPD.
Man muss kein Politikwissenschaftler oder Parteienforscher sein, um hierin einen Zusammenhang zu erkennen. Die AfD profitiert von den Frustrationen, die insbesondere die deutsche Bundesregierung auslöst. Im Politbarometer vom ZDF vom vergangenen Wochenende bescheinigten 72 Prozent dem Bundeskanzler Olaf Scholz, dass er konkreten Fragen ausweicht. Von Scholz bekommen die Wähler also kaum noch Antworten auf ihre Sorgen. Dieser Befund wird durch die neueste Umfrage des Deutschen Beamtenbundes zugespitzt. Nur noch 27 Prozent der Bürger sind der Auffassung, dass der Staat seine Aufgaben erfüllen kann, 69 Prozent halten ihn für überfordert. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Bürgerbefragung, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag des Deutschen Beamtenbundes (DBB) durchgeführt hat.
Ganz wie Angela Merkel
Jenseits der aktuellen demoskopischen Befunde kann man auch einmal fragen, ob die Ansprüche der Bürger an den Staat nicht zu hoch sind. Der Staat erscheint mehr und mehr wie ein Wohltäter, der möglichst viele Härten des Lebens abfedert. Damit schreiben sich die Politiker Kompetenzen zu, die sie nicht einlösen können. Irgendwann sind Staatshaushalte überdehnt und globale Probleme so gravierend, dass Politiker die Grenzen ihrer Gestaltungsmacht erkennen sollten. Aber das tun sie nicht. Und wenn, geben sie es nicht zu.
Ganz wie er es von seiner Vorgängerin Angela Merkel gelernt hat, lässt Olaf Scholz jede Frage ins Leere laufen, die die Grenzen seiner Gestaltungsmacht berühren könnte. Das kardinale Vorbild für diese Taktik ist Angela Merkels Satz während der Flüchtlingskrise von 2015: «Wir schaffen das.» Mit diesem Satz wischte sie die naheliegende Frage, «Wie schaffen wir das?» vom Tisch oder hat sie «abgeräumt», wie Merkel gerne sagte. Bürger vor Ort interessieren sich aber mehr für das «Wie» als für hehre Ziele, deren Kosten sie in ihrer unmittelbaren Umgebung früher oder später sozial und materiell zu tragen haben.
Das Niemandsland der AfD
In diesem Niemandsland zwischen überdehnten Versprechungen der grossen Politik und den fühlbaren Härten vor Ort siedelt die AfD. Ganz wie die anderen rechtspopulistischen Parteien innerhalb und ausserhalb Europas fasst sie berechtigte Ängste und Frustrationen in hasserfüllte Parolen. Mit diesem Parolen schreibt sie sich selbst eine Lösungskompetenz zu, über die sie aber ebenso wenig verfügt wie die etablierten Parteien. Und um das Mass voll zu machen, drapiert sie sich mit Versatzstücken aus der Zeit Hitlers oder, wie in Italien, der Zeit Mussolinis, um ihren Anhängern einen zusätzlichen Kick zu verschaffen und den Etablierten einen gehörigen Schrecken einzujagen.
Anstatt sich darüber zu ereifern, ob ein Vertreter einer demokratischen Partei je für einen Antrag der AfD stimmen darf, wäre eine Entzauberungsstrategie wesentlich sinnvoller. Die bestünde darin, Vertreter der Rechtsradikalen wieder und wieder in Diskussionen zu verwickeln und sie dort zu stellen. Schon in vereinzelten Fernseh-Talkshows kann man bei versierten und hartnäckig fragenden Moderatoren miterleben, wie schnell die heisse Luft der bombastisch klingenden Parolen der Populisten abgelassen werden kann.
Auch auf dem Magdeburger Parteitag der AfD, und nicht nur da, wurde überdeutlich, wie gross die Probleme der AfD werden, wenn sie sich – wie zum Beispiel in Bezug auf die Wahlen für das EU-Parlament – nicht mehr in Luftschlössern, sondern in realen politischen Institutionen positionieren will. Das mitzuerleben ist bisweilen recht amüsant.
Die argumentative Schlacht
Entsprechend sollten die etablierten Parteien Alice Weidel, Björn Höcke oder andere Protagonisten wie den bemühten Vorsitzenden Tino Chrupalla wieder und wieder einladen, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihre politischen und intellektuellen Grenzen vorzuführen. Kann man sich aber einen Olaf Scholz in der Rolle eines entlarvenden Gesprächsteilnehmers gegenüber der AfD vorstellen? Eher nicht, denn er kann nur die Rolle des moderierenden Sachbearbeiters. Auch andere Politiker werfen Fragen auf. Die CDU steht noch sehr unter dem argumentativen Mehltau von Angela Merkel. Und so weiter. Hierin liegt das eigentliche Problem, man kann auch sagen, das argumentative Defizit, das durch moralische Entrüstung nur zugedeckt wird.
Nötig wäre der kämpferische Diskurs in der Politik. Die Lust an der Auseinandersetzung. Keine Angst vor vermeintlichen Verletzungen von Tabus. Wenn Alexander Gauland die nationalsozialistische Gewaltherrschaft als einen «Vogelschiss» in der ansonsten glorreichen Vergangenheit Deutschland bezeichnet und Meloni beteuert, unter Mussolini sei «nicht alles schlecht» gewesen, dann muss nachgefragt werden: Sind die ermordeten Juden und die Kriegsverbrechen wirklich nichts als ein «Vogelschiss»? Was wäre dann heute ein «Vogelschiss»? Vielen Dank, Herr Gauland. Und Mussolini: Reden wir über Äthiopien – Ist es das, was Italien noch heute im Angebot hat?
Die Entzauberung des politischen Gegners, das «Besen, Besen, seid’s gewesen», erfordert keine Zauberworte und wundersame Lösungen für allzu offensichtliche Probleme, sondern die Wiederentdeckung der Chancen politischer Kommunikation. Die sollten Politiker nicht PR-Agenturen und Personal Coaches überlassen, sondern dem eigenen Denken. Und dem Mut zur argumentativen Schlacht.