Siebzehn Jahre ist es her, da machte sich der Sozialist Lionel Jospin dank einer unverständlichen Auflösung des Parlaments durch den konservativen Staatspräsidenten Jacques Chirac daran, die Parlamentswahlen zu gewinnen und in einer dieser merkwürdigen Kohabitationen à la française Premierminister zu werden.
Zwei Jospin-Boys
In seinem Umfeld entdeckte man damals zwei brillante junge Männer, die zu jener Zeit schon das Interesse der Presse erweckten. Der eine schrieb während des Wahlkampfs die Reden des Kandidaten Jospin und später die des Premierministers Jospin, der andere wurde Jospins Sprecher im Hôtel Matignon, der Residenz des Regierungschefs. Beiden war gemein, dass sie Söhne spanischer Immigranten waren, die unter Franco nach Frankreich geflohen waren. Der Vater des ersten war Dreher bei Renault im Vorort Nanterre gewesen, der des anderen ein Maler, der sich gerade so über Wasser halten konnte, verheiratet mit einer Tessinerin.
Zwei Immigrantenkinder, die in der fünfjährigen Amtszeit von Lionel Jospin zu sympathischen Jungstars der französischen Sozialisten geworden waren – zumindest bis zu jener Präsidentschaftswahl 2002, bei der ihr politischer Ziehvater wegen einem gewissen Jean Marie Le Pen plötzlich nicht mal in die Stichwahl kam.
Aufstieg und Entfremdung
Der fulminante Aufstieg der beiden flotten Mittdreissiger war damit erst mal gebremst. Irgendwas mussten auch sie falsch gemacht haben, damit dieses politische Erdbeben hatte zustandekommen können. Auch ihnen war damals offensichtlich entgangen, dass sich die linken Wähler massiv von Jospin und den Sozialisten abzuwenden begannen.
Es war ihnen entgangen, dass die Unterschichten, von deren Alltagsleben sie offensichtlich damals schon nur noch sehr wenig wussten, wegen der so gefeierten 35-Stunden-Woche – die emblematische Reform der Regierung Jospin – plötzlich weniger Geld in der Tasche hatten. Sie merkten auch nicht, dass der ärmere Teil der Bevölkerung nichts mehr anfangen konnte mit einem Jospin, der ausdrücklich erklärte, sein Programm sei nicht sozialistisch und der einen Dominique Strauss Kahn mit in der Mannschaft hatte. Dieser Teil der Bevölkerung hatte damals schon die Nationale Front zur ersten Arbeiterpartei Frankreichs gemacht.
Der erste dieser hoffnungsvollen Jungpolitiker – beide pure Produkte der immer wieder zitierten Schule der Republik, die angeblich jedem Franzosen den sozialen Aufstieg ermöglichte – hiess Aquilino, der zweite Manuel.
Bis letzten Freitag, bevor er über Nacht seinen Posten räumen musste, war der erste der engste politische Berater von Staatspräsident Hollande. Der zweite ist der frischgebackene Premierminister Frankreichs. Aquilino Morelle und Manuel Valls.
Die Verwandlung des Manuel Valls
Siebzehn Jahre – und zwei junge Hoffnungsträger der französischen Sozialisten sind von der Macht und ihren äusseren Attributen, vom grenzenlosen Ehrgeiz, von der Selbstüberschätzung und der Arroganz, die sich offensichtlich stets in der Nähe der Macht aufhält, regelrecht verschlungen worden.
Manuel mauserte sich im Lauf der Jahre zum Law-and-Order-Mann. Die Bewegung seines Kinns erinnert seit mehreren Jahren schon an einen schwarz gekleideten Italiener der zwanziger und dreissiger Jahre. Als Innenminister von Präsident Hollande hatte er bettelnde Roma aus der Umgebung seines Privatdomizils im 11. Pariser Arrondissement entfernen lassen und später gemeint, diese Menschen seien nicht dazu berufen, sich hierzulande zu integrieren, sondern dazu, in ihr Land zurückzukehren.
Entgleisungen und Ambitionen
Bei einem Besuch in der Pariser Vorstadt Evry, wo er früher zehn Jahre lang Bürgermeister war, raunte er seinen Kommunikationsfritzen zu, sie sollten ihm für Fernsehbilder und Photos gefälligst ein paar «Gallier, ein paar Blancos» herholen, damit nicht nur Dunkelhäutige die Kulisse bilden. Gleichzeitig liess er sich mit seiner Gattin, einer Violonistin, die unter anderem Johnny Hallyday begleitet, für die Hochglanzmagazine ablichten und machte auf Glamour. Jetzt, kaum dass er Premierminister ist, spürt man quasi aus jeder seiner Poren, dass er auch noch François Hollande im Elyséepalast beerben will.
Nur zwei kleine Anzeichen: Plötzlich hält der Premierminister Valls und nicht der Präsident eine überraschende Ansprache im Elyséepalast, um Hollandes «Pakt der Verantwortung» und das 50-Milliarden-Sparprogramm zu erläutern – auch die ältesten Hasen der französischen Presse hatten derartiges noch nie erlebt.
Diesen Freitag dann hat das Hôtel Matignon, der Sitz des Premierministers, erstmals eine Wochenagenda des Regierungschefs vorgelegt, in der fein säuberlich jedes einzelne Treffen mit jedem einzelnen Minister der Regierung aufgelistet wird – formal exakt so, wie der Elysée dies seit zwei Jahren mit der Agenda des Staatspräsidenten macht.
Arzt und Politiker
Aquilino Morelle, Valls’ politischer Gefährte seit über zwanzig Jahren, war nach Jospins Schlappe 2002 fast ein Jahrzehnt lang aus der Politik abgetaucht. Im Gegensatz zu Manuel, der nur eine ganz normale Uni absolviert hat, im Alter von zwanzig in die Politik eingestiegen ist und nie einen normalen Beruf ausgeübt hat – es ei denn, Politiker ist ein normaler Beruf – wurde Aquilino zunächst einmal Arzt.
Offensichtlich reichte ihm das nicht, also bewarb er sich kurzerhand für die Elitehochschule ENA, schaffte die Aufnahme und auch das Abschlussdiplom und war damit geweiht, in den höchsten Sphären der Verwaltung oder der Politik mitzumischen. Was er zwischen 1996 und 2002 im Umfeld von Lionel Jospin dann auch tat.
Heute sind es die Jahre nach 2002, die ihm zum Verhängnis wurden und zu seinem plötzlichen Sturz geführt haben. Damals verdiente Aquilino sein Geld bei der Nationalen Kontrollbehörde über das Gesundheitswesen. Dummerweise hat er in jener Zeit – so viel ist sicher – gleichzeitig auch für ein Pharmaunternehmen als Berater gearbeitet, welches um stabile Preise für seine Produkte auf dem französischen Markt kämpfte.
Mit Pharma-Lobby verbandelt
Auch wenn es nur um 12’500 Euro ging: Es herrschte ein Interessenskonflikt, der Aquilino nun zu Fall brachte. Um so mehr, als er seit zwei Jahren in der Öffentlichkeit und in mehreren Zeitschriften nach dem Servier-Skandal gegen die Pharmalobby und eben gegen die von ihr heraufbeschworenen Interessenskonflikte in der Welt der Politik und der hohen Verwaltungsebene heftig vom Leder gezogen hatte. Plötzlich ist das alles für ihn nur noch hochnotpeinlich.
Zudem denkt natürlich jeder in Frankreich an die exakt ein Jahr zurückliegende, weitaus schwerwiegendere Affäre um den damaligen Budgetminister Cahuzac. Auch dieser, von Beruf Chirurg, hatte einst für die Pharmalobby gearbeitet. Seine auch als Schönheitschirurg verdienten Millionen hatte er in die Schweiz und nach Indonesien geschafft, vorbei am französischen Fiskus. Auch ihn hatte Präsident Hollande unbesehen ins Kabinett geholt, so wie er Aquilino Morelle in fahrlässiger Art zum politischen Berater verpflichtet hat.
Der Marquis
Dieser Morelle hatte bei Altgedienten im Elyséepalast von Anfang an Stirnrunzeln ausgelöst. Schliesslich ist er auch einer, der es im Alter von 51 trotz drei Versuchen nie geschafft hatte, in irgendeinem Wahlkreis vom Volk gewählt zu werden – und trotzdem zum Chefberater des Präsidenten aufsteigen konnte.
Als solcher fabulierte er dann gerne über die Robe und das Alter der besten Cognacs, die er für seine Besucher aus den Kellern des Elyséepalastes holen liess oder über die Vorzüge der teuersten Weine, die dort lagern. In zwei Jahren hat er eines der schönsten Büros im Elysée, in dem einst Giscard d’Estaing als Präsident arbeitete, zweimal neu möblieren lassen.
Seine Sekretärinnen sollen sich unter anderem auch darum gekümmert haben, von zweien seiner Wohnungen die Mieten einzutreiben, mit denen Aqulinos Mieter im Verzug waren. Und schliesslich hat er sich – ein besonders hässliches Symbol für einen Sozialisten angesichts der Krisenzeiten – einen privaten Schuhputzer gehalten, der regelmässig im Elysée ein- und ausging, um sich der dreissig Paar Luxusschuhe des Präsidentenberaters anzunehmen und sie auf Hochglanz zu bringen.
Just im Moment, da der französischen Bevölkerung besondere Anstrengungen abverlangt werden und ein 50-Milliarden-Sparprogramm aufgelegt wird, ist das für Präsident Hollande alles in allem nicht weniger als eine weitere Katastrophe.
Die Sitten am Hof
Der eher biedere, aufrechte «Honnête Homme» Jean Marc Ayrault hat nicht zufällig den Strippenzieher mit den Attituden eines kleinen Marquis nie ausstehen können, welcher seinerseits im Elysée in den letzten Monaten kräftig am Stuhl des jetzt verflossenen Premierministers gesägt haben soll.
Manchmal scheint es dieser Tage auch, als sei der Elyséepalast heute immer noch nicht grundlegend anderes als damals der Hof unter Ludwig XIV mit seinen intrigierenden Lakaien und Beratern, die um den Präsidenten herumschwänzeln und mit der einen oder anderen Marquise, die auch noch ihren Einfluss geltend machen will.
Der nun so tief gestürzte Aquilino Morelle war im Elysée erst seit wenigen Monaten ganz oben in der Hierarchie angelangt und in die wichtigen Entscheidungsprozesse einbezogen worden – nämlich erst, seitdem dort eine gewisse Valerie Trierweiler ihr Büro geräumt hatte, nachdem François Hollande bei einer Fahrt mit dem Motorroller photographiert worden und ihre gemeinsame Beziehung damit endgültig zu Ende war. So lange Trieweiler noch die Gefährtin des Präsidenten gewesen war, durfte der Herr mit den teueren Schuhen offensichtlich nicht ganz oben mitmischen. Madame mochte ihn nicht leiden.
Untadelige Republik
Von der «untadeligen Republik», von welcher der Wahlkämpfer François Hollande 2012 so vollmundig gesprochen hatte, ist keine zwei Jahre später nichts mehr übrig geblieben. Der Präsident hätte dieses Wort besser nie in den Mund genommen. Heute kann das ganze Land nur noch schulterzuckend höhnisch darüber lachen, genau so wie über den vorgeblich «normalen Präsidenten», der Hollande werden wollte und der er letztlich nie war – nicht nur wegen den nächtlichen Motorrollerfahrten durch Paris.
Kaum an der Macht, hat er unter anderem das bis dahin benutzte Wir blitzschnell gegen das Ich ausgetauscht, wenn es darum ging, Entscheidungen oder Massnahmen anzukündigen oder zu erklären.
Schlachtruf der extremen Rechten: «UMPS»
Schaut man sich jetzt nach zwei Jahren an, wen François Hollande da alles gefördert, gepuscht, plaziert und nominiert hat aus seinem Jahrgang an der Elitehochschule ENA, aus seinem allernächsten und weiteren Umkreis, wer da alles versorgt und auf Posten geschoben wurde, dann fällt es auch den letzten noch verbliebenen Anhängern des sozialistischen Präsidenten immer schwerer zu erklären, was daran anders sein soll als an der einst so heftig kritisierten Vetternwirtschaft der Marke Sarkozy.
Ja schlimmer noch. Welches Argument soll man angesichts all der Verfehlungen und Begehrlichkeiten im Umfeld des sozialistischen Staatspräsidenten heute noch der extremen Rechten und Marine Le Pen entgegenhalten, die seit Jahren und immer stärker mit der fast täglichen Äusserung punkten, wonach UMP und PS ein und dasselbe seien? Die extreme Rechte hämmert der französischen Bevölkerung das Schlagwort von der «UMPS» in die Köpfe. Dagegen hat man schlicht kein Argument mehr.
Nachtrag
Ein Freund schickt aus Italien das Sprichwort: «Il potere logora» – die Macht nutzt ab, höhlt aus, korrumpiert. Diese Aussage soll der Machiavelli der italienischen Nachkriegspolitik, eine der korrumpiertesten und langlebigsten Gestalten des italienischen Politzirkus, Giulio Andreotti, einst ein wenig abgewandelt haben, indem er sagte: «Il potere logora chi non ce l'ha» – also: Die Macht korrumpiert den, der sie nicht hat. Dass passt zu Andreotti, ist an Zynismus kaum zu überbieten, ist aber nicht wirklich ein Trost für all diejenigen, die in Frankreich zumindest ein wenig an François Hollande und an die Sozialisten geglaubt hatten.