Bis zur Uraufführung seiner Oper «Samson» hat es länger gedauert, als Joachim Raff sich das gewünscht hatte, nämlich rund 170 Jahre … Eine lange Zeit, in der Raff und seine Kompositionen in Vergessenheit gerieten und kaum mehr gespielt wurden. Bis jetzt!
Als echte Entdeckung wird Raffs Oper nun in Deutschland gefeiert und die Uraufführung fand jetzt in Weimar im Nationaltheater statt, dessen Leiter kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe 25 Jahren lang war, teilweise gemeinsam mit Friedrich Schiller. Und man darf es gleich vorwegnehmen: «Samson» war auch beim Publikum ein voller Erfolg mit langanhaltendem Applaus und vielen Bravo-Rufen für Sängerinnen und Sänger, für den Regisseur, den Dirigenten, das Orchester, und auch für Joachim Raff … 170 Jahre später als geplant.
Konkurrenz für Raff
Es ist eine verrückte Geschichte, denn Joachim Raff, gebürtig aus Lachen am oberen Zürichsee (1822–1882), war als Assistent von Franz Liszt aus der Schweiz nach Weimar gekommen. Animiert von der künstlerischen Umgebung und auch durch die Beschäftigung mit Kompositionen Richard Wagners, schrieb Joachim Raff Sinfonien und Opern. Auch Wagner stand zu dieser Zeit noch am Beginn seiner Karriere. Raffs «Samson» hätte damals in Weimar zum ersten Mal gespielt werden sollen, allerdings kam ihm 1850 die Uraufführung von Wagners «Lohengrin», unter der Leitung von Franz Liszt, zuvor. Dass 1877, ebenfalls in Weimar, «Samson et Dalila» von Camille Saint-Saëns uraufgeführt wurde, machte Raff gleich noch einmal einen Strich durch die Rechnung. Raff gab auf und «Samson» blieb liegen.
Und nun also mit 170 Jahren Verspätung: «Samson» zum Saisonauftakt in Weimar. Ein Ereignis nicht nur für das Nationaltheater, sondern ganz besonders auch für den Musikverleger Volker Tosta, der jahrelang unermüdlich versucht hat, «Samson» auf die Bühne zu bringen. Ein Ereignis aber insbesondere auch für Res Marty aus Lachen, den Präsidenten der Joachim-Raff-Gesellschaft. Mit einer Gruppe von 30 Mitgliedern ist er nach Weimar gereist, wo sie den Höhepunkt des Raff-Jahres gemeinsam erleben wollten.
Abenteuer «Samson»
Die Spannung am Premierenabend ist gross, denn immerhin liegt die Inszenierung in den Händen von Calixto Bieito, international einer der spannendsten und kompromisslosesten Regisseure, der nicht nur die Darsteller auf der Bühne fordert, sondern auch das Publikum aufrüttelt. (Foto © WEB)
Ganz sanft und liebenswürdig sitzt Bieito ein paar Stunden vor der Premiere noch in seinem Hotel am Tisch. Vor sich ein grosses Notizbuch, in das er bereits die nächsten Gedanken und Ideen einträgt. Ganz wunderbare Musik habe Raff da geschrieben, sagt er. Dann erzählt er, wie er überhaupt auf Raff gestossen ist. «Ich bin grundsätzlich neugierig, und als ich vor etwa zehn Jahren im Internet nach Honegger und Schweizer Komponisten gesucht habe, bin ich auf Raff gestossen. Als mir später ‘Samson’ in Weimar angeboten wurde, habe ich mich schnell dafür entschieden.» Ausserdem hatte er gerade Zeit, weil wegen Corona eine andere Inszenierung ausgefallen war. «Ich habe ’Samson’ als Abenteuer angesehen. Und ich mag alte Geschichten, Mythen und Märchen.»
Seltbstmordattentäter
Samson, der kraftstrotzende Held und Freiheitskämpfer der Israeliten im Alten Testament, verlor seine Stärke durch den Verrat seiner Frau Delilah. Der Konflikt zwischen Pflicht und Treue führt schliesslich zum brutalen Ende, indem Samson nur noch den Suizid als Ausweg sieht … und 3000 Israeliten mit sich in den Tod reisst, indem er einen Tempel zum Einsturz bringt. Samson wird zum Selbstmordattentäter. Wenn man in Raffs Werk nur schon die Namen Israel, Palästina und Gaza hört, wirkt die Geschichte von damals wieder ganz aktuell. «Es gibt ja in Israel die ‘Samson operation’, dieses nukleare Abschreckungs-Szenario», sagt Bieito. «Aber ich war bei der Inszenierung nicht am Politischen interessiert und die Situation ist heute auch nicht so wie im Alten Testament. Aber trotzdem: Die Menschen können offenbar nicht ohne Konflikte leben.»
Treibende Kraft hinter der Aufführung in Weimar war von Anfang an Dominik Beykirch, Chefdirigent der Staatskapelle Weimar, der nun auch «Samson» dirigiert. «Der Verleger Volker Tosta hatte mir vor ein paar Jahren den Klavierauszug geschickt, den er schon an verschiedenen Häusern vergeblich unterzubringen versucht hat. Zuvor waren die Noten schon mal bei uns im Papierkorb gelandet …» erzählt Beykirch und lacht. «Aus irgendeinem Instinkt heraus habe ich sie wieder hervorgeholt und war so geflasht von der Qualität, dass es in mir anfing zu brodeln. Ich habe mich total dafür eingesetzt. Dass es aber zur Aufführung kam, war nicht selbstverständlich, aber es freut mich natürlich sehr.»
Und schliesslich ist da auch noch Hasko Weber, der Intendant des Weimarer Nationaltheaters, der «ja» sagen musste zum Projekt «Uraufführung Raff». «Unser Chefdirigent Dominik Beykirch hatte den Impuls schon vor geraumer Zeit gegeben», sagt Weber. Aber erst mit der neuen Operndirektorin Andrea Moses, die ihrerseits Calixto Bieito ins Spiel brachte, nahm das Projekt Fahrt auf. «Und Calixto ist da extrem schnell: Er liest Material und Partitur, groovt sich da ein und weiss sofort, ob er es macht oder nicht. Als ich dann zwei Proben gesehen habe, war klar: ‘Samson’ hat musikalisch eine grosse Wucht, es ist komplex und auch füllig, voll und kraftvoll, das entspricht auch Bieito.»
Sehr modern zu seiner Zeit
«Samson» besteht aus fünf Akten und dauert gut drei Stunden. Das Libretto stammt übrigens ebenfalls von Joachim Raff, geschrieben in einem Deutsch, das man heute als leicht verschroben bezeichnen könnte. Damit ähnelt die Sprache den Opern-Texten Richard Wagners, die ebenfalls höchst eigenwillig bis teilweise fast unverständlich daherkommen. Musikalisch hat Raff grosse Chöre und ein Ballett eingebaut. Es gibt Holzbläser- und Streicher-Soli, wunderschöne Duette und verschiedenste musikalische Stilmittel. «Samson» war damals bei seiner Entstehung ein sehr modernes Stück in Sachen Harmonik und Orchestrierung», erklärt Verleger Volker Tosta. Raff sei zu dieser Zeit stark von Wagners «Lohengrin» geprägt gewesen, dessen Uraufführung Raff in Weimar miterlebt habe. «Aber Raff hat die Dinge bei Wagner nicht einfach abgeschaut und kopiert, sondern analysiert und in der Verarbeitung zu etwas ganz Eigenem gemacht», so Dirigent Dominik Beykirch.
Auch wenn der Stoff aus dem Alten Testament stammt, auf der Bühne findet die Handlung im Heute statt. Das Volk trägt Jeans und einfache Alltagskleider, von Reichtum ist nichts zu sehen. Ist es Naher Osten? Vielleicht. Aber nichts deutet explizit darauf hin. Es spielt im Irgendwo, und Irgendwo ist überall.
Beklemmende Aktualität
Keine leichte Aufgabe für Peter Sonn als Samson, Emma Moore als Delilah, Uwe Schenker-Primus als Delilahs Vater Abimelech und alle anderen, zwischen den rivalisierenden und heftig kämpfenden, gegnerischen Gruppen auch noch zu singen …, aber sie schaffen das grossartig über die drei Stunden hinweg. Kämpfe, Brutalität auf der Bühne. Wie im wahren Leben, wie gerade jetzt wieder, wird sich manch einer im Publikum gesagt haben, denn die Aktualität ist beklemmend.
Grossartig auch die Staatskapelle Weimar unter der Leitung von Dominik Beykirch.
Die Staatskapelle ist übrigens eines der ältesten Orchester überhaupt und wurde 1491 gegründet, damals als Hofkapelle des Kurfürsten Friedrich III. Zu Raffs Zeiten war Franz Liszt dort Hofkapellmeister, und auch Richard Strauss prägte die Hofkapelle fünf Jahre lang als zweiter Kapellmeister. Inzwischen ist die Staatskapelle längst ein modernes Orchester und Joachim Raff hätte sich für die Uraufführung seines «Samson» kaum etwas Besseres wünschen können.
Strahlende Gesichter nach der Premiere, auch bei der Reisegruppe der Raff-Gesellschaft aus der Schweiz. Man stösst an mit thüringischem Wein und natürlich auf Joachim Raff, der es endlich auf die grosse Bühne geschafft hat.
Dominik Beykirch, Dirigent der Uraufführung, über Joachim Raff und «Samson»
Annette Freitag: Hatten Sie schon beim Lesen der Partitur eine Vorstellung oder mussten Sie es auch erst hören?
Dominik Beykirch: Nö, ich bin Dirigent und muss nicht zwangsläufig hören, was ich in den Noten lese. Das Bild baut sich dabei im Kopf schon auf, und das nahm mich sofort gefangen… Das lag vor allem an dieser Kratzbürstigkeit, dieser Kühnheit, die Raff vor allem harmonisch an den Tag legt, dann auch diese Stringenz, die in dem Werk steckt, und dass man tatsächlich in diesen Konflikt katapultiert wird. Es wird einem nie langweilig. Dann habe ich es mal für mich gespielt, habe die Orchestrierung studiert, und es war relativ schnell klar, dass ich es hier in Weimar platzieren wollte. Dann kam noch das Raff-Jubiläum hinzu und die Beziehung Raffs zu Weimar… Zwischen Weihnachten und Neujahr habe ich mich mit meiner Repetitorin hingesetzt und habe alle Stimmen eingesungen während sie den kompletten Klavierpart gespielt hat! Die Aufnahme haben wir zur Verfügung gestellt, damit das Entscheidungs-Gremium weiss, um was es geht. Es war sehr schnell klar: wir machen das. Zumal auch Calixto Bieito coronabedingt gerade ein Zeitfenster hatte. So kam eins zum anderen.
A.F. Und wie lange hat sich das hingezogen?
D.B. Na, gut vier Jahre.
A.F. Hatten Sie vorher schon von Raff gehört?
D.B. Gehört ja, aber künstlerisch habe ich mich nicht darum gekümmert. Ich frage mich heute selber, warum. Denn gerade in unserer Stadt liegt es ja so nahe. Aber da er 170 Jahre nicht gespielt wurde, ging er vergessen. Inzwischen habe ich vieles von Raff gehört, was mich interessiert: Chormusik, vielstimmige Sinfonien, das ist wirklich magisch.
A.F. Wie würden Sie Raff musikalisch einordnen?
D.B. Sein Stellenwert ist nicht hoch genug einzuordnen. Er hat einen persönlichen Stil kreiert und durchgezogen, der rechts und links von ihm nichts Vergleichbares hat. Er reflektiert Wagner, ohne ihn zu kopieren. Allein das ist schon grosse Kunst!
A.F. Es war vielleicht auch eine schwierige Zeit, weil Wagner schon da war, und Liszt.
D.B. Richtig. Und sich gegen die Titanen durchzusetzen, ist schwierig. Und wenn einer nicht in die Schublade Wagner passt, aber auch nicht in die Schublade Brahms, dann bleibt er in der Fuge zwischen den Fliesen stecken. Das ist einfach auch ein bisschen Pech. Bei «Samson» hat es verschiedene Versuche gegeben, es gab viele Befürworter, die das Stück auf dem Schirm hatten und als Camille Saint-Saëns ausgerechnet in Weimar «Samson et Delila» uraufführte, hiess es, für die nächsten Jahre brauchen wir keinen Samson-Stoff mehr. Einfach Pech.
A.F. Und wie hat das Orchester auf das Stück reagiert?
D.B. Mit einem grossen Fragezeichen…! Manche sagten, also es ist doch eine Uraufführung, aber es sind richtige Melodien. Und ich sagte: Leute, das Werk ist 170 Jahre alt! Für die meisten war es ein Novum. Dadurch, dass es noch nie aufgeführt wurde, gibt es in der Partitur ein Ungleichgewicht. Es gibt Kollegen, die sitzen im Orchester und warten lange, bis sie ein Solo haben, dann warten sie wieder viele Takte lang. Wir haben eine unterforderte Zweite-Geigen-Gruppe und eine überforderte Erste-Geigen-Gruppe. Wenn Raff das damals in der Praxis erlebt hätte, wäre es wahrscheinlich anders aufgeteilt. Aber inzwischen lieben sie das Stück, weil es Spass macht, weil es stringent geschrieben ist, mit grossen Chören und auch leisen, berührenden Szenen.
Und der Schluss wird immer schneller, es ist eine Dynamik wie in einem Strudel. In dieser Intensität erinnert mich der Schluss schon an «Elektra». Es geht total in diese Richtung, Dieser Mut, eine Melodie zu brechen, das ist grossartig.
«Samson» von Joachim Raff
Nationaltheater Weimar
www.nationaltheater-weimar.de/
«Samson» in ganzer Länge am 08.10.2022 auf Deutschlandfunk Kultur