Im Konzertsaal und nicht in der Vergessenheit soll der Schweizer Komponist Joachim Raff zum 200. Geburtstag seinen Platz bekommen.
Es ist grau und regnerisch an diesem Tag in Lachen am oberen Zürichsee. Aber Res Marty strahlt, als er über Joachim Raff erzählt. Res Marty ist Präsident der Joachim-Raff-Gesellschaft und hat alle Hände voll zu tun, denn dieses Jahr wird Raffs 200. Geburtstag gefeiert. Joachim Raff? Wirklich bekannt ist der Name nicht. Aber Raff ist ein Schweizer Komponist, einer der meistgespielten seiner Zeit – dennoch ist er in Vergessenheit geraten. Das soll sich ändern, hat Res Marty beschlossen und rückt den Komponisten mit einer Vielzahl von Veranstaltungen im Jubiläumsjahr wieder ins Rampenlicht.
Draussen am See steht ein etwas verwittertes Denkmal, an dem vermutlich die meisten nicht nur an diesem trüben Tag achtlos vorbeigehen. Und eine Gedenktafel am Haus, gleich neben dem Hafen, weist darauf hin, dass hier Joachim Raff geboren wurde. Heute ist dort die Joachim-Raff-Gesellschaft zuhause.
Res Marty kennt sich in Raffs Leben aus und kann wohl auch einiges nachvollziehen, denn Marty war selbst Sänger, neben seiner Tätigkeit als Studien- und Laufbahnberater. Und wenn man Marty zuhört, sieht man Raff, nach und nach, immer klarer vor sich. Ein Rastloser war er wohl, ein Getriebener, dieser Joachim Raff, dem seine engere Heimat schon in jungen Jahren buchstäblich zu eng wurde …
200 Jahre ist es nun her, seit Joachim Raff als Sohn eines Schullehrers in Lachen geboren wurde. Dank der musikalischen Fähigkeiten des Vaters lernte Joachim auch Geige, Klavier und Orgel zu spielen. Im benachbarten Rapperswil betätigte auch er sich vorübergehend als Lehrer, aber die Schule war nicht so sein Ding. Er fühlte sich zu Höherem berufen. Zur Musik!
Mit Unterstützung von Franz Liszt
Mehr schlecht als recht schlug er sich in Zürich als Gelegenheitskomponist durch, da erfuhr er, dass Franz Liszt, damals ein Superstar auf Europas Bühnen in Basel auftreten würde. Zu Fuss und ohne Geld machte Raff sich auf den Weg nach Basel, wo er zwei Tage später, vom Regen durchnässt und ohne Ticket, vor dem ausverkauften Konzertsaal stand. Und der grosse Liszt erbarmte sich, liess einen Stuhl auf die Bühne stellen – und Raff konnte aus nächster Nähe zuhören und schwelgen … Mehr noch: Liszt und Raff kamen ins Gespräch und Liszt vermittelte seinen jungen Verehrer nach Deutschland. Die Probleme, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, waren damit allerdings noch längst nicht gelöst. Undiplomatisch habe er sich verhalten, wird kolportiert, kein Musikverlag wollte ihm einen festen Vertrag geben, seine Schulden stiegen.
Liszt unterstütze ihn zu wenig, klagte Raff, zog nach Köln, nach Hamburg, nach Stuttgart, suchte schliesslich wieder den Kontakt zu Liszt – und liess sich von ihm als Assistent nach Weimar engagieren. Neben der Arbeit für Liszt komponierte er eigene Werke, und er lernte Doris kennen, die Tochter des Weimarer Hoftheaterdirektors. Die beiden zogen nach Wiesbaden, wo Doris am Theater engagiert war, und heirateten. Von nun an ging’s bergauf … Raff hatte mit seinen Sinfonien zunehmend Erfolg, in Wiesbaden freundete er sich auch mit Richard Wagner an und konnte sich als freischaffender Komponist etablieren. Als er schliesslich zum Direktor ans Frankfurter Konservatorium berufen wurde, hatte er es nicht nur künstlerisch, sondern auch finanziell geschafft.
Einer der meistgespielten Komponisten
Raff hatte inzwischen Kantaten, Klavierkonzerte, Opern und Sinfonien komponiert und seine Werke wurden quer durch Europa und sogar in den USA aufgeführt. Er war einer der meistgespielten Komponisten zu seiner Zeit, bis er 1882 im Alter von 60 Jahren in Frankfurt an einem Herzinfarkt starb. Von da an wurden seine Werke immer seltener aufgeführt, sein Name verschwand aus den Konzertprogrammen.
Aber warum eigentlich? «Tja, da kann man nur spekulieren», sagt Gregor Meyer. Er ist Dirigent beim renommierten Leipziger Gewandhausorchester und leitet den Gewandhaus-Chor, mit dem er am 26. Mai in der Kirche Lachen Raffs Oratorium «Welt-Ende – Gericht – Neue Welt» grandios als Jubiläumskonzert zum 200. Geburtstag des Komponisten aufgeführt hat. «Ich habe den Eindruck, dass das viel mit Glück zu tun hat», so Meyer, «also wann man wo und mit welchem Stück Erfolg hat und was daraus entsteht. Aber ich finde es auch schön, dass nicht alle gleichermassen bekannt sind. In einer Zeit, in der es einen grossen Kanon gibt mit Werken von Mendelssohn, Brahms, Wagner, Mahler usw., haben wir damit die Möglichkeit, abseits der Hauptstrasse immer wieder neue Stücke zu entdecken.» Der Gewandhaus-Chor, so Meyer, verfolge dieses Ziel schon seit etlichen Jahren.
Ein Oratorium zum Jubiläum
Und wie ist er dabei auf Joachim Raff gestossen, frage ich Gregor Meyer. «Nicht ich bin auf ihn gestossen», sagt er und lacht, «Raff ist auf mich gestossen!» Und dahinter steckte natürlich Res Marty. «Vor fünf Jahren hatten wir den ersten Kontakt für dieses Jubiläumskonzert mit dem Oratorium … und wir dachten, du liebe Güte, werden wir das realisieren können?» Inzwischen ist klar: alles hat bestens geklappt.
Und wie würde Gregor Meyer den Komponisten Raff nun einordnen, nachdem er sich intensiv mit ihm beschäftigt hat? «Ich würde ihn gar nicht einordnen», sagt er, «Raff steht für sich. Ich glaube, dass seine Art des Komponierens etwas Unverwechselbares hat, obwohl verschiedene tonsprachliche Elemente vorkommen, die man auch von anderswoher kennt. Also es gibt Strecken, die sehr an Mendelssohn-Bartholdy erinnern, aber es gibt auch viel Wagnerisches bei Raff.» Das Oratorium, das nun in Lachen aufgeführt wurde, findet Meyer sehr interessant. «Man kann eigentlich gar nicht von einem Oratorium sprechen. Ich finde, es ist eine Mischform aus sinfonischer Dichtung und Oratorium. Das Orchester hat eine äusserst präsente Rolle. Während der gesamten ersten Hälfte hört man vor allem Orchestermusik: ausdrucksstark und sehr vielfältig, sehr reich instrumentiert. Das macht Raff einmalig, wie er mit diesen vielen Farbkombinationen agiert.»
Wandelndes Konversationslexikon
Diese Fähigkeiten Raffs beeindrucken auch Res Marty ganz besonders. «Raff hatte sozusagen drei Identitäten: Komponist, Musikpädagoge und Forscher. Wie kaum ein anderer kannte Raff die Werke der Musikgeschichte. Er war, übrigens auch für Liszt, ein ‘wandelndes Konversationslexikon’. In einer Art Synthese verwendete er viele Stilelemente und Kompositionstechniken in seinen Werken und bewegte sich damit souverän über dem damaligen Musikstreit zwischen Konservativen und Neudeutschen. Weil aber bei ihm das Ganze mehr ist als die Summe der Teile, gehört er damit auch zu den eigenständigen und unabhängigen Komponisten seiner Zeit, was ihm dann auch etwas zum Verhängnis wurde, weil man ihn nirgends ‘in einer Schublade versorgen’ konnte.»
Facettenreichtum und überraschende Momente
So hat auch die Dirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer Raff nicht in einer Schublade entdeckt, sondern durch einen Eintrag im Lexikon, der sie neugierig machte. «Bei der Recherche bin ich rasch auf die Joachim-Raff-Gesellschaft gestossen und kam mit Res Marty und dem Archivar Severin Kolb ins Gespräch. Daraus entwickelte sich eine inspirierte Zusammenarbeit zwischen dem Joachim-Raff-Archiv und dem Swiss Orchestra, deren Resultat unter anderem die Ersteinspielung von Raffs Orchesterlied ‘Traumkönig und sein Lieb’ bei Schweizer Fonogramm, sowie die Schweizer Erstaufführung seiner Orchesterlieder ‘Zwei Szenen’ op. 199 mit Marie-Claude Chappuis sind.» Seither gehört Raff auch in Wüstendörfers Repertoire und taucht immer mal wieder in ihren Konzerten auf. «Joachim Raff beeindruckt durch seinen Facettenreichtum im Einsatz der orchestralen Mittel», sagt sie. «Er komponierte Werke in praktisch allen Gattungen seiner Zeit und hinterliess so ein umfassendes Œuvre mit immer wieder überraschenden Momenten.»
Die Beurteilung Raffs durch heutige Musiker würde Raff wohl gefallen haben. Sie entspricht dem, was Raff 1859 in seinem Brief an einen Verleger geschrieben hatte: «Mein Grundsatz ist: Thue nur das, was andere nicht können! Wenn du aber etwas thust, was andere auch thun, so thue es so, wie es andere nicht thun.»
Neben den vielen Jubiläumsveranstaltungen quer durch die Schweiz wird es im September auch noch die Welt-Uraufführung einer Oper von Joachim Raff geben: «Samson», ein musikalisches Trauerspiel, das im Deutschen Nationaltheater in Weimar auf die Bühne kommt. Es wird ein Höhepunkt des Raff-Jahres werden und vielleicht dazu beitragen, den Namen Raff wieder bekannter zu machen. Res Marty wird weiterhin alle Hände voll zu tun haben in Sachen Raff …
Veranstaltungen im Raff-Jahr