Streng gezogener Scheitel im dichten Haar, starker Bartwuchs, buschige Augenbrauen. Der sportliche Körper wirkt untersetzt und die Schultern sind leicht nach vorne gebeugt. An diesen äusseren Merkmalen des 62-Jährigen labt sich Frankreichs Karikaturistenschar.
Vulkan unter der Eisdecke
François Fillons Miene, die zumindest in der Öffentlichkeit kaum Emotionen verrät und nur selten von einem Lächeln durchzogen wird, scheint kontrolliert bis in die letzten Poren. Auf den ersten Blick strahlt der Mann eine Mischung aus Niedergeschlagenheit und Griesgrämigkeit aus. „Bonjour Tristesse“, seufzt so mancher Leitartikler dieser Tage, da der vermeintliche Mister Nobody, der vielen als Langweiler mit unerschütterlichem Phlegma galt, plötzlich in aller Munde ist.
Er ist der Mann, der sich als Premierminister geschlagene fünf Jahre lang von seinem Präsidenten Nicolas Sarkozy hat erniedrigen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Selbst als der Regierungschef Fillon vom Präsidenten mit den notorisch schlechten Manieren öffentlich als einfacher Mitarbeiter bezeichnet wurde, schien ihm dies nichts anhaben zu können. Nur sein Körper reagierte: Der Ischiasnerv liess ihn monatelang höllisch leiden.
Und nun diese Überraschung – zumindest für die Demoskopen und die Pariser Medien, die seit einem guten Jahrzehnt regelmässig das Gewicht der stillen France profonde unterschätzen. Sie hätten vielleicht auch mehr auf diejenigen hören sollen, die François Fillon besser kennen und von ihm unter anderem sagten, er sei ein Vulkan unter einer Eisdecke. Und auch seine Qualitäten eines Amateur-Rennfahrers – er dreht wann immer möglich auf der Rennstrecke von Le Mans unweit seines Heimatortes Sablé sur Sarthe seine Runden – hätten all denen zu denken geben sollen, die François Fillon für ein blasse Erscheinung halten, die keinen Hund hinter dem Ofen hervorholen kann.
Die Welt des François Fillon
Die Welt, in welcher der mögliche künftige Präsident Frankreichs herangewachsen ist und vor vierzig Jahren seine politische Karriere begonnen hat, ist das wohlhabende, konservative, erzkatholische französische Provinzbürgertum. Eine Welt und eine Atmosphäre, wie Claude Chabrol sie in seinen Filmen unerbittlich seziert hat: Vater Notar, Mutter Geschichtsprofessorin, vier Brüder und Schwestern, Schulausbildung bei den Jesuiten, Jurastudium.
Auch Fillon selbst und seine walisische Ehefrau Penelope haben fünf Kinder, grossgezogen im ahnsehlichen Schloss mit grossem Park in Solesmes unweit von Fillons Geburtsort. Es ist die Welt, in der die Mädchen beim sonntäglichen Kirchgang blaue Faltenröcke und weisse Kniestrümpfe tragen und die Mütter einen Haarreif über der Stirn, wo die Stoffe der Sakkos aus Tweed und die Mäntel aus Loden sind. Eine Welt, in der die Kinder selbstverständlich auf katholische Privatschulen gehen, die Mütter als Hobby Pferde reiten und sich um die Blumen im parkähnlichen Garten kümmern. Eine Welt, in der noch nachwirkt, dass für Grosseltern und Urgrosseltern General De Gaulle ein Gott war.
Milieu der älteren Katholiken
Es war überwiegend dieses Milieu, aus dem die eher betagten Menschen diszipliniert zur Wahl gegangen sind und François Fillon, dem bekennenden und praktizierenden Katholiken, der den letzten drei Päpsten die Hand geschüttelt hat, zu seinem Triumph verholfen haben. Mehr als die Hälfte von Fillons Wählern ist über fünfzig Jahre alt, ein Drittel bereits Rentner. Es ist ein Milieu der leisen Worte, wo Anstand, Manieren und Höflichkeit mit der Muttermilch eingesogen werden. Ein Milieu, das selten von sich reden macht und überwiegend nach dem Motto lebt: „Pour vivre heureux, vivons caché.“
Nur drei Mal in dreissig Jahren hat dieses Milieu in Frankreich für öffentliches Aufsehen gesorgt: 1984, als die sozialistische Regierung die katholischen Privatschulen abschaffen wollte, waren zwischen Versailles und Paris plötzlich eine Million Menschen auf der Strasse. Ähnlich, knapp dreissig Jahre später, als dieser mittlerweile über Kirchengemeinden und soziale Netzwerke gut organisierte Teil der französischen Bevölkerung versuchte, die Homo-Ehe zu verhindern. Und jetzt erneut, da sich dieses traditionell konservative Bürgertum im entscheidenden Moment zusammengetan und mit François Fillon einen der Seinen gekürt hat.
Berufspolitiker seit vier Jahrzehnten
Einen, der im Jahr 1981, just als sich das Land erstmals einen sozialistischen Präsidenten gegeben hatte, bei den darauf folgenden Parlamentswahlen, als die so genannte rote Welle über Frankreich hinweg schwappte, gegen den Trend mit nur 27 Jahren in seiner westfranzösischen Provinz für die Konservativen ein Abgeordnetenmandat holte. Fillon zog damals als Benjamin in die französische Nationalversammlung ein und wurde gleichzeitig Bürgermeister seines Heimatortes.
Danach hat er im Land der Ämterhäufung praktisch alles an politischen Posten bekleidet hat, was es so gibt: Präsident des Departementrates, Präsident der Region Pays de Loire, fünfmal Minister und schliesslich Regierungschef.
Der Wertkonservative
Die ökonomisch-soziale Rosskur bis hin zu einer weitgehenden Zerschlagung des französischen Sozialversicherungssystems, die der wirtschaftsliberale Fillon dem Land verabreichen will, stört seine Klientel und Wählerschaft nicht sonderlich. Sie wird davon allenfalls am Rande betroffen sein. Für sie ist wichtig: Fillon will die traditionelle Familie als Grundstock der Gesellschaft wieder ins Zentrum der Politik rücken und etwa das Kindergeld wieder unabhängig von Einkommen und Vermögen verteilen.
Der Schlossherr Fillon, der sich vor drei Jahren lautstark gegen die Homo-Ehe ausgesprochen hatte, will jetzt zumindest die vollwertige Adoption für gleichgeschlechtliche Paare unterbinden, und er hat klargestellt, dass er persönlich gegen Abtreibung ist. Wie andere hat sich auch der künftige Präsidentschaftskandidat der Konservativen in der unsäglichen Burkinidebatte des letzten Sommers für ein Gesetz ausgesprochen, das diese Badekleidung muslimischer Frauen verbieten soll.
Rückwärts gewandter Patriotismus
Fillon ist auch fest entschlossen, an den Schulen im Geschichtsunterricht wieder das hohe Lied auf Frankreichs Ruhm anstimmen zu lassen. Er will die grossen Personen und Namen des Landes ins Zentrum stellen und Schluss machen mit den von Ideologen ausgearbeiteten Schulprogrammen, wie er wörtlich sagte. Mit anderen Worten: weniger glorreiche Kapitel der französischen Geschichte, wie der Kolonialismus oder die Kollaboration unter der Vichyregierung, sollen möglichst unter den Tisch fallen.
Dazu passt, dass François Fillon in der letzten Fernsehdebatte vor der Wahl eindeutig klargestellt hatte: Ich will in diesem Land keine multikulturelle Gesellschaft. – Als sei das in Frankreich nicht schon seit Jahrzehnten eine schlichte Tatsache.