Welches sind die Fakten? Ein Rückblick. In der Nacht vom 12. auf den 13. Juni werden drei israelische Jugendliche entführt, als sie versuchen, per Autostop von einer Talmud-Schule nahe Hebron nachhause zukommen. Wie man später erfährt, erhielt die israelische Polizei in derselben Nacht einen telefonischen Notruf von einem der Entführten.
Die Kidnapper sind – laut israelischen Angaben – zwei Palästinenser. Falls dies zutrifft, hatten die Täter möglicherweise den Plan, mit der Entführung Häftlinge freizupressen, die in israelischen Gefängnissen sitzen. Denkbar ist, dass sie in Panik gerieten und die Entführten erschossen, als sie nach dem Telefonanruf mit dem Auftauchen der Polizei rechnen mussten.
Regierungschef Benjamin Netanyahu macht am Tag nach Bekanntwerden der Entführung ohne langes Federlesen die Hamas und die palästinensische Regierung unter Mahmud Abbas verantwortlich: „Das kommt davon, wenn man eine terroristische Organisation an der Regierung beteiligt.“ (New York Times, 13. Juni 2014) Er bezieht sich auf den angestrebten Zusammenschluss der im Gazastreifen regierenden Hamas mit der Regierung der Westbank.
Aus der rechten Ecke der Regierung Netanyahu tönt es ähnlich. Ayala Shaked, Fraktionsführerin der Partei Jüdisches Heim , sagt: „Mit einem Volk, dessen Helden Kindermörder sind, müssen wir entsprechend umgehen.“
Danny Danon, stellvertretender Verteidigungsminister, sagt: „Falls ein russischer Junge entführt worden wäre, hätte Putin ein Dorf nach dem andern platt gemacht.“
Noam Perl, Chef der Jugendbewegung der Siedler, sagt: „Eine ganze Nation und Tausende von Jahren Geschichte, verlangen Rache.“
„Wir heiligen das Leben, sie heiligen den Tod.“
Netanyahu sagte: „Sie sind nicht so wie wir. Wir heiligen das Leben, sie heiligen den Tod.“ Wer so redet, weiss, welches die Konsequenzen sein werden. Die extreme Rechte in Israel würde sich nicht zufrieden geben, ohne dass neuerlich Blut fliesst.
Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery beobachtet die Entwicklung in den folgenden Tagen und Wochen mit Entsetzen: „Eine Orgie rassistischer Aufwiegelung, die von Tag zu Tag schlimmer wurde. Zeitungen, Radiostationen und TV-Kanäle wetteifern miteinander mit dreisten Schmähreden, wiederholen die offizielle Linie bis zur Übelkeit…. jeden Tag rund um die Uhr.“
Tausende von Soldaten sind in der Folge damit beschäftigt, auf der Suche nach den drei Jugendlichen die Westbank zu durchkämmen. Sie durchstöbern Wohnungen, fallen in nächtlichen Razzien in Wohngebiete ein, nehmen Hunderte von Palästinensern fest, darunter 240 Hamas-Politiker und Parlamentarier aus dem Westjordanland. Die Armee tötet dabei fünf Palästinenser, verletzt Dutzende durch Schüsse. Die Medien nehmen kaum Notiz davon.
Die palästinensische Polizei arbeitet von der ersten Minute an mit den israelischen Behörden zusammen. Nur so können die mutmasslichen Täter, die bislang nicht gefasst wurden, schnell identifiziert werden. Die Hamas erklärt, sie habe nichts mit dem Verbrechen zu tun. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas verurteilt die Tat. Er wird in den israelischen Medien als Heuchler hingestellt.
Ein treffender Vergleich
Die drei Jugendlichen wurden in einem Gebiet der Westbank entführt, welches unter israelischer Kontrolle steht. Die israelische Polizei ist dort für die Sicherheit verantwortlich, nicht die Palästinenser. Adnan Dameiri, Chef der palästinensischen Polizei der Westbank stellt die Frage: „Wenn es in Tel Aviv einen Verkehrsunfall gibt, sind dann wir dafür verantwortlich?“ (New York Times, 13. Juni 2014)
Der Vergleich trifft die Problematik. Wenn eine kriminelle Handlung vorliegt, dann ist es Aufgabe von Polizei und Justiz, die Täter zu suchen und vor Gericht zu stellen. Wie ist es möglich, dass ohne jeglichen Beweis die palästinensische Regierung und die Hamas verantwortlich gemacht werden? Die Hamas müsste nicht bei Trost sein, wenn sie Hand böte zu einem grauenhaften Mord an Talmud-Schülern, dessen Folgen abzusehen waren. Er öffnete erneut die Pandora-Büchse von Hass und Gewalt.
Ministerpräsident Netanyahu zeigt sich von der ersten Minute an überzeugt, Israel müsse die Hamas für die Tat zur Rechenschaft ziehen. Eine Haltung, die jeglicher Rationalität und Logik entbehrt. Es ist diese völlig verantwortungslose Haltung Netanyahus, die zur Eskalation der Gewalt führt.
Ein Lynchmob findet ein arabisches Opfer
Das heisst, es sind nicht die Raketen, die in der Folge aus dem Gaza-Gebiet auf Israel abgefeuert werden, die den gegenwärtigen Konflikt auslösen. Dieser Sachverhalt scheint den meisten Medien entgangen zu sein. Statt dessen bedient man sich ausgiebig der bekannten Formeln: Von einer „Gewaltspirale“ ist die Rede, von einem „Schlagabtausch“. Von „Kriegstreibern auf beiden Seiten“ und so weiter.
Israel müsse sich schützen vor den Raketenangriffen aus dem Gaza-Streifen, so der allgemeine Tenor der meinungsführenden Medien. Mit einem Mal werden die Palästinenser als Urheber der Probleme gesehen.
Es gibt zwar in Tel Aviv in diesen Tagen immer wieder Kundgebungen von Friedensaktivisten, doch sie finden kaum Beachtung in der allgemeinen Kriegshysterie. Die Zeichen stehen auf Rache.
Als die Leichen der drei gekidnappten Talmud-Schüler gefunden werden, erreicht die Volkswut einen neuen Höhepunkt. Soldaten setzen Zehntausende von Botschaften ins Internet mit dem Aufruf zur Rache. Die extreme Rechte mobilisiert gewaltbereite Gruppen, die sich an vielen Plätzen in Jerusalem sammeln, um Araber zu jagen.
Ein solcher Mob greift sich den 16-jährige Abu-Kheir, schlägt ihn, übergiesst ihn mit Benzin und zündet ihn an. Die verkohlte Leiche ist der Funke, der die Gewalt vollends zur Explosion bringt. Nun ist es die arabische Bevölkerung, die sich in gewalttätigen Demonstrationen erhebt.
Raketen aus dem Gazastreifen
Aus dem Gazastreifen fliegen Hunderte Raketen nach Israel. Die meisten dieser hausgemachten Kassam-Geschosse haben noch nie viel Schaden anrichten können. Sie sind auch ohne grosse Abschuss-Einrichtungen zu handhaben. Deshalb kann die Hamas-Regierung ihren Einsatz nur schwer kontrollieren, selbst wenn sie dies wollte. Die israelische Regierung gibt an, dass die radikalen Gruppen im Gaza-Streifen seit neustem auch Raketen grösserer Reichweite einsetzen. Netanyahu malt den Teufel an die Wand. Die Bedrohung Israels durch palästinensische Raketen wird schlagartig zum Thema Nummer eins in dem Konflikt. Doch das amerikanische Raketen-Abwehrsystem Iron Dome funktioniert äusserst effizient wie immer, und die Zahlen sprechen für sich.
Am 8. Juli startet die israelische Armee den Angriff auf den Gaza-Streifen. Bereits in der ersten Nacht werden 160 Ziele bombardiert, dabei kommen rund 50 Menschen ums Leben, 400 werden verletzt. Mittlerweile ist von fast 200 Toten und weit mehr als tausend Verletzten die Rede.
Schaulustige
Und wenn man man nicht umhin kommt, auf dieses Body Counting hinzuweisen, um den Konflikt in seinen Proportionen zu zeigen, so heisst das nicht, dass ein Menschenleben – und sei es auch nur ein einziges – gering geachtet werden soll. Dem gewaltsamen Tod, auch dem eines einzelnen Menschen in Israel, soll nicht Trauer und Achtung versagt werden.
Man muss sich jedoch fragen, was das für ein „Krieg“ sein soll, in dem israelische F-16-Kampfjets und Artillerie ein Armenhaus in der Wüste zusammenschiessen. Ein Krieg, in dem die eine Seite hundertmal soviel Tote zu verzeichnen hat wie die andere. Ein Krieg, in dem auf den Hügeln an der Nordgrenze des Gazastreifens israelische Schaulustige auf Campingstühlen sitzen und die Einschläge der Bomben feiern, wie die „Huffington Post“ in ihrer spanischen Ausgabe mit eindrücklichen Fotos zeigte.
Der Chef der israelischen F-16 Flotte sagt der New York Times am Telefon, man verfolge „das klare Ziel, so wenig wie möglich die Zivibevölkerung zu treffen.“ Andererseits wisse jeder, wie dicht Gaza besiedelt sei (New York Times, 14. Juli 2014). Dem ist nichts hinzuzufügen ausser den Fotos von palästinensischen Frauen, Männern und Kindern, die unter den Trümmern ihrer Häuser nach Leichen suchen.
Der Elefant und der Floh
In Hinsicht auf die militärischen und logistischen Möglichkeiten ist die Hamas ein Floh und das mit zahlreichen Atomsprengköpfen bewehrte Israel ein Elefant. Zwischen einem Floh und einem Elefanten gibt es keinen Schlagabtausch. Es gibt auch keinen Krieg.
Wenn Israel etwas von der Hamas zu befürchten hat, dann sind es Selbstmordanschläge, nicht aber Raketen. Der israelische Geheimdienst ist bestens informiert über jede Bewegung extremistischer Gruppen in einem Ghetto namens Gaza. Dort hausen 1.6 Millionen Menschen unter Bedingungen, welche der aus jüdischer Familie stammende Schriftsteller Ralph Giordano einmal „den untersten Kreis der Lebenshölle“ genannt hat.
Damit soll nicht gesagt sein, dass die Gewohnheit, Raketen gegen israelische Wohngebiete zu schiessen, als Lappalie anzusehen sei. Diese Angriffe sind ein Verbrechen, und sie sind ebenso wirkungslos wie dumm. Sie bieten der Regierung Netanyahu stets neue Argumente für die Bearbeitung des Bedrohungs-Szenarios.
Dalia Rabin-Pelossof, die Tochter des von einem fanatischen jüdischen Extremisten ermordeten israelischen Ministerpräsidenten, sagte mir vor vielen Jahren in einem Interview: „Es ist wahr, dass Israel in den besetzten Gebieten Unrecht tut, aber ich denke, die Araber hätten vielleicht längst alles bekommen, was sie wollen, wenn sie etwas kooperativer und weniger radikal gewesen wären in der Verfolgung ihrer Interessen.“
Der Satz enthält wahrscheinlich ein gutes Mass an Wahrheit, besondern wenn man ihn auf die Situation von 1947 bezieht, als die Vereinten Nationen eine Resolution annahmen, die vorsah, das umstrittene Territorium in einen israelischen und einen palästinensischen Staat aufzuteilen, was von arabischer Seite kategorisch zurückgewiesen wurde.
Flucht nach vorn in die Gewalt
Das Traurige an diesem heutigen erneuten „Gaza-Krieg“ ist die Bestätigung, dass es auch für Israel keinen andern Ausweg mehr zu geben scheint als die Gewalt. Der Friedenprozess ist ad acta gelegt, und die israelische Rechte macht im Verbund mit den radikalen Siedlern Druck auf Netanyahu. Er und seine Parteifreunde waren im übrigen nie bereit, auch nur einen Zoll der besetzten Westbank abzutreten.
Die Verträge von Oslo von 1993 sind Schall und Rauch. Das Nahost-Quartett (USA, Russland, UNO und EU) hat ein Jahrzehnt lang ein medienwirksames Bühnenstück aufgeführt, das den Titel Friedensgespräche trug. In diese Zeit gab es den Krieg im Südlibanon, die Gazakriege, einen ununterbrochenen Ausbau der jüdischen Siedlungen in besetztem Land und den Bau von Mauern und Grenzzäunen.
Der ungebremste Siedlungsbau und die faktische Unmöglichkeit, die Oslo-Verträge umzusetzen und den Palästinensern einen lebenfähigen Staat zu geben, das ist das eigentliche Problem. Und Netanyahu liess nie eine Gelegenheit aus, von diesem eigentlichen Problem abzulenken. Er redete Monate lang die Gefahr einer iranischen Atombombe herbei und drohte immer wieder mit einem Erstschlag gegen den Iran. Jetzt instrumentalisiert er den Mord an drei Religions-Schülern, um das Gespräch über Frieden zu beerdigen.
Wieder einmal kann man sich als Opfer arabischer Raketenangriffe darstellen und ablenken von dem ungelösten Problem des Apartheid-Systems, welches de facto das Leben von Israeli und Palästinensern bestimmt. Wieder einmal sind – irgendwie und ehe man sich es versah – die Palästinenser die Sündenböcke, denn es fliegen einmal mehr Raketen aus dem Süden Richtung Israel. So jedenfalls scheinen es unsere grossen Medien zu begreifen, welche die öffentliche Wahrnehmung gestalten.
Deutschland als Vermittler?
Der Politikwissenschafter Zeev Sternhell, Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem, sagte kürzlich in einem Interview: „Das grösste Versagen meiner Generation war die Unfähigkeit, die Katastropohe, die wir kommen sahen, zu verhindern. Die Kolonisierung des Westjordanlandes ist nicht mehr rückgängig zu machen. Die Siedler sind so zahlreich und so mächtig, dass der Versuch, gegen sie vorzugehen, in einen Bürgerkrieg führen würde. Es ist einfacher, Krieg gegen die Araber als gegen die Siedler zu führen.“ (Der Spiegel 28, 2014)
Als Vermittler wurde nun der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier in die Region geschickt. Er gab an, dass er sich Sorgen mache wegen der Sicherheit Israels. Die deutsche Werftindustrie in Kiel liefert Israel seit 1999 U-Boote der Klasse Dolphin-II. Im letzten Frühjahr wurde das vierte Boot ausgeliefert. Die U-Boote werden laut Waffenexperten als Träger israelischer Nuklearsprengköpfe verwendet. Das Auftragvolumen liegt bei 2,3 Milliarden Euro.