Mit seinen Ideen über Politik und Religion schwamm José Saramago meist gegen den Strom. Seine Romane haben ihn auch im Ausland aber zum Fixstern der portugiesischen Kultur gemacht, insbesondere seit seiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis für Literatur im Jahr 1998. An diesem Mittwoch würde er 100 Jahre alt.
Im Januar 2017 war’s. Wir verbrachten einige Tage auf der sonnigen Kanaren-Insel Lanzarote und suchten nach dem «Haus, das aus Büchern gebaut ist». So nannte José Saramago selbst die Villa, im Ort Tías, in der er mit seiner spanischen Frau, Pilar del Río, in seinen letzten Jahren gelebt und geschrieben hatte.
Unsere Suche nach seiner «Casa Museo» glich einer Odyssee mit vielen Irrwegen. Anders als fast andere Sehenswürdigkeiten der Insel war dieser kulturelle Höhepunkt nicht ausgeschildert.
In der Wahlheimat angeeckt
«Saramago hat sich hier in der Politik unbeliebt gemacht», erklärte uns damals die sympathische junge Frau, die uns nach dem Ende unserer Irrfahrt empfing und uns durch das Haus, durch Saramagos riesige Bibliothek und den traumhaften Garten mit Meerblick führte. José Saramago mochte 1998 als erster Portugiese und bisher einziger Autor der portugiesischen Sprache den Nobelpreis für Literatur erhalten haben. Es ist auch ihm zu verdanken, dass Spanier bei der Frage nach zeitgenössischen Persönlichkeiten aus dem kleinen Nachbarland nicht nur an den Fussballer Ronaldo denken. In seiner spanischen Wahlheimat war Saramago jedoch angeeckt. Wer sein Haus besuchen wollte, musste also gefälligst suchen.
Die Kanaren haben mittlerweile eine linke Regionalregierung, und das kam der Beschilderung zugute, erklärt am Telefon heute die Rezeptionistin, die vom Tag der offenen Tür an diesem 16. November erzählt. Geplant ist ein Programm mit Lesungen und Konzerten. An diesem Tag würde Saramago, der im Juni 2010 auf Lanzarote starb. 100 Jahre alt.
«Lies die Bibel und fall vom Glauben»
Zuvor hatte der als Atheist und Kommunist bekannte Saramago, der kurz vor seinem Tod für ein «Recht auf Ketzerei» plädiert hatte, in Portugal immer wieder Anstoss erregt. Ihm wurde dort 1992 die Luft zu dick, als eine bürgerliche, vom späteren Staatspräsidenten Cavaco Silva geführte Regierung 1992 sein «O evangelho segundo Jesus Cristo» (deutsche Übersetzung «Das Evangelium nach Jesus Christus») aus einer Liste von Bewerbungen für den Europäischen Literaturpreis strich. Saramago habe Gefühle der Katholiken verletzt, meinte ein Staatssekretär. Saramago zog fort und blieb sich selbst treu. Noch in «Caim» («Kain», 2009), einem seiner letzten Bücher, liess er diesen ältesten Sohn von Adam und Eva durch das Alte Testament spazieren, um zu belegen, dass die Bibel ein «Katalog der Grausamkeit» sei. «Ich pflege zu sagen: Lies die Bibel und fall vom Glauben», sagte er damals in einem Interview.
Kommunist hin, Ketzer her – im Oktober 1998 überwogen doch der Stolz und die Freude über die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an den Autodidakten Saramago, geboren 1922 im kleinen Azinhaga (im Kreis Golegã), rund 100 Kilometer nordöstlich von Lissabon. Normalerweise hätte er übrigens nur José de Sousa geheissen. Sein Vater, ein Landarbeiter, trug aber, wie in der Region nicht unüblich, einen Spitznamen, nämlich Saramago. Und den Namen dieser Kräuterpflanze bekam das Kind vom Standesbeamten kurzerhand als zweiten Nachnamen verpasst.
Später literarischer Durchbruch
Der Spross war keine zwei Jahre alt, da zogen seine Eltern nach Lissabon, wo sein Vater eine Anstellung als Polizist gefunden hatte. Saramago war, laut Autobiografie, ein guter Schüler, der sich bald in Bücher vergrub. Als junger Mann arbeitete er als Verwaltungsangestellter, hegte jedoch andere Ambitionen. 1947 schrieb er seinen ersten Roman, der grosse Durchbruch sollte aber über 30 Jahre auf sich warten lassen. 1949 verlor Saramago «aus politischen Gründen» seine Arbeit, kam in einem Metallbaubetrieb unter, machte Übersetzungen, wechselte als Lektor zu einem Verlag, schrieb Poesie, schloss sich 1969 der illegalen kommunistischen Partei (PCP) an, wurde Redaktor einer Abendzeitung, dies noch zur Zeit, als Kritiker des faschistischen Regimes zwischen den Zeilen schreiben mussten. Nach dem Sturz der Diktatur durch die Nelkenrevolution vom 25. April 1974 war er kurz stellvertretender Chefredaktor der Tageszeitung «Diário de Notícias».
«Das Land denen, die es bearbeiten» war in der Zeit des Aufbruchs nach 1974 in der von Latifundien dominierten Südregion Alentejo das Motto einer Agrarreform, die sich unter PCP-Regie vollzog. Saramago zog selbst für einige Wochen in eine der jungen Kooperativen von Landarbeitern, für die sich auch Revolutionstouristen aus anderen Ländern begeisterten.
Als Ergebnis dieser teilnehmenden Beobachtung erschien 1980 «Levantado do Chão» (deutsch «Hoffnung im Alentejo»). Als Saramagos wichtigstes Werk gilt aber der 1982 erschienene Roman «Memorial do Convento» (deutsch «Das Memorial»). Gemeint ist der Konvent und Palast von Mafra, 40 Kilometer von Lissabon, den der fromme und von Saramago verspottete König João im 18. Jahrhundert erbauen liess – von über 50’000 Arbeitern, ein megalomanisches Projekt also, finanziert mit brasilianischem Gold, dies zur Zeit der Inquisition, in der angeblichen Ketzern der Tod auf dem Scheiterhaufen drohte. Heute kommt kein Gold aus Brasilien, dafür aber Geld aus Brüssel, und doch ist Portugal ein relativ armes Land geblieben, so dass der Roman irgendwie aktuell bleibt.
Saramago kam auch in die Kinos
Saramago hat als Autor seinen eigenen Stil, der die Lektüre seiner Werke nicht immer erleichtert. In seinen Büchern finden sich schon mal zehn oder zwölf Seiten ohne Absätze und mit direkter Rede ohne Anführungszeichen und Gedankenstriche. Mitten in den Sätzen lassen nur Grossbuchstaben erkennen, das gerade jemand anders das Wort ergriffen hat. Saramago gibt es aber nicht nur in geschriebener Form. Sein Werk hat auch als Vorlage für Opern und Filme gedient. Unter dem Titel «Blindness» kam 2008 etwa Fernando Meirelles’ Verfilmung von «Ensaio sobre a cegueira» («Die Stadt der Blinden», 1997) in die Kinos.
Saramagos Rede beim Bankett aus Anlass der Nobelpreisverleihung in Stockholm glich einer Abrechnung mit dem Zustand der Welt und mit der kapitalistischen Ordnung. Er geisselte da Regierungen, die nicht willens oder fähig seien, ihre Pflichten zu erfüllen, dies vielleicht, räumte er ein, weil letztlich multinationale Unternehmen regierten. Ihre Macht, ohne demokratische Legitimierung, habe das, was vom Ideal der Demokratie geblieben sei, «auf eine Schale ohne Inhalt reduziert». Immer wieder äusserte sich Saramago auch zur aktuellen Fragen. Er war gegenüber Medienleuten aufgeschlossen und bevorzugte es, Interviews ganz ohne Vorgespräche über die Themen zu geben.
Asche unter einem Olivenbaum
Für einen Streifzug durch Saramagos Leben und Werk empfiehlt sich in Lissabon ein Besuch in der «Casa dos Bicos», dem «Haus der Spitzen». In keinem Reiseführer fehlt ein Hinweis auf diese einstige Nobelresidenz, die ein Sohn eines Gouverneurs von Indien im 16. Jahrhundert erbauen liess und wo heute die (2007 gegründete) Stiftung Fundação José Saramago ihren Sitz hat.
Als der Autor dieser Zeilen zuletzt dort war, hatte er kurz zuvor Saramagos «A caverna» («Das Zentrum», 2000) zu Ende gelesen. In wohl keinem anderen Werk offenbart Saramago seine marxistische Sicht so klar wie in diesem Buch über Abhängigkeiten im Kapitalismus. Hauptfigur ist ein Töpfer, der jahrelang ein grosses Unternehmen beliefert hat, dieses will ihm aber plötzlich nichts mehr abkaufen, da Plastik statt Ton angesagt ist. Just dieses Buch hatte eine andere Besucherin der Casa dos Bicos in der Hand. Im Gespräch, das sich ergab, erzählte die aus Brasilien stammende Frau, dass sie ebenfalls Töpferin sei. Sie habe in Portugal einen Job in einer Porzellanfabrik angetreten und dieses Buch gekauft, weil sie sich nach der Zukunft ihres Berufs frage. Zufälle gibt’s.
Saramagos Asche wurde ein Jahr nach seinem Tod auf dem Platz vor der Casa dos Bicos begraben, unter einem alten Olivenbaum, der aus seinem Geburtsort stammt.
Auf dem Boden stehen die letzten Worte aus seinem «Memorial» zu lesen. Nach Saramagos Tod im Jahr 2010 hatte ihn sein Land mit einer zweitägigen Staatstrauer geehrt. «Es gibt keine Worte. Saramago hat sie alle mitgenommen», sagte die damalige Ministerin für Kultur, Gabriela Canavilhas, bei einem Trauerakt. Hingegen glänzte der zum Staatspräsidenten aufgestiegene frühere Ministerpräsident Cavaco Silva durch Abwesenheit, anders als seine drei gewählten Vorgänger im höchsten Staatsamt. «L’Osservatore Romano», Sprachrohr des Vatikans, erinnerte an den Verstorbenen als «extremistischen Populisten». Ganz ruhig ist es um ihn bis heute nicht geworden.