Lange wusste Lorenz Schlomo Beckhardt nichts über seine jüdische Familiengeschichte. Dies war insofern erstaunlich, als nahezu das gesamte Dorf, in dem er aufgewachsen war – das idyllische Sonnenberg bei Wiesbaden – „darüber“ Bescheid wusste. Nur der 1961 Geborene nicht.
„Kauft nicht bei Juden“
Seine Eltern betreiben ein kleines Lebensmittelgeschäft. Obwohl es in dem Dorf eigentlich eine Monopolstellung hat, bleibt ein Teil der freundlichen Sonnenberger der deutschen Losung „Kauft nicht bei Juden“ treu – auch 25 Jahre nach dem Tod ihres geliebten „Führers“ Adolf. Erst als seine Eltern den Laden 1977 verkaufen betreten diese Sonnenberger wieder den örtlichen Laden: „Der 31. Dezember 1977 ist für uns ein historisches Datum, denn an diesem Tag endet der Boykott, der im April 1933 begonnen hat. (…) Die Geschäftsaufgabe des Juden Beckhardt erleben die Menschen wie eine Befreiung, da es in Sonnenberg zuletzt nur noch ein Lebensmittelgeschäft gegeben hat. Wer nicht „beim Juden“ kaufen wollte, musste weite Wege gehen.“ (S. 449)
Auch über die Fluchtgeschichte seines Vaters nach England wusste der junge Lorenz Schlomo nahezu nichts – obwohl er, woran Beckhardt auch in vereinzelten Interviews nie einen Zweifel aufkommen lässt, eine tolle Kindheit, tolle Eltern hatte.
Der Familienschwur
Er wusste nur, dass sein Vater lange in England gelebt hatte. Dorthin gelangt war er als jüdisches Flüchtlingskind Dank der Kindertransporte. Mehr wusste er nicht. Und er wagte auch nicht zu fragen, aus Angst, seine Eltern zu verletzen. Und doch gab es einen Familienschwur, den ihm sein Vater immer wieder, scheinbar zusammenhanglos, mit sichtlicher Rührung erzählt hatte: „Wir kommen nach diesen 1000 Jahren wieder zurück an den Rhein“ habe dieser seinem Vater versprochen, kurz vor ihrer Flucht nach England: „Auch nach diesen ›tausend Jahren‹ wird es noch Juden am Rhein geben.“ (S. 470) Die Mutter überlebte als Tochter eines Katholiken in einer “privilegierten Mischehe”, zuletzt versteckt in einem katholischen Waisenhaus.
Beckhardts Eltern waren Kaufleute. Über ihre schmerzhafte Biografie als Kinder von Verfolgten sprachen sie nicht gerne. Der Schmerz war zu groß, die Angst zu übermächtig, erneut mit dem unterschwelligen, allgegenwärtigen bösartigen deutschen Antisemitismus konfrontiert, erneut ausgestoßen zu werden. Davor wollten sie ihren Sohn schützen.
"Bloß weg hier"
In umfänglicher Weise zeichnet der Wissenschaftsjournalist Lorenz Schlomo Beckhardt seine jüdische Familiengeschichte nach. Sein Großvater Fritz gehörte als Kampfflieger im Ersten Weltkrieg zu den höchstdekorierten deutschen Soldaten des Reichs. Für den Enkel anfangs verstörend war ein Foto, auf dem sein Großvater in einem Doppeldecker saß; auf dessen Rumpf prankte eine großes Hakenkreuz (S. 87). Das Foto stammte wohl aus dem Jahr 1918. Für seinen jüdischen Großvater war dies ein persönliches Glückssymbol. Er vertraute auf „sein“ Deutschland.
Er verstand sich durch und durch als deutscher Jude. Hier fühlte er sich zugehörig. Die immer wieder durchbrechenden Anzeichen des deutschen Antisemitismus – so verschickte 1916 das preußische Kriegsministerium Formulare, „in denen erfasst werden sollte, wie viele Juden sich freiwillig gemeldet hatten“ (S. 76), empörten ihn, riefen seinen Protest hervor, gepaart mit Resignation: „Unter den jüdischen Soldaten löste die `Judenzählung´ tiefe Frustration aus. Nachdem Fritz dem Kompaniechef die nötigen Angaben zur Person gegeben hatte, stürmte er vor Wut schäumend aus dem Gebäude. Er hatte nur einen Gedanken: Bloß weg hier!“ (S. 76) Der Autor fügt hinzu: „Ja, ich bin stolz auf ihn. Nicht weil er mein Großvater ist, sondern weil er bewiesen hat, dass Juden mutig sind, dass sie verbissen für eine Sache kämpfen können. Er hat das mit seinen Taten bewiesen, lange bevor sich die Zionisten in Palästina mit den Briten und Arabern anlegten.“ (S. 81)
Linker Antisemitismus
Zurück zu den Anfängen von Beckhardts familiärer Spurenbsuche: 1972 schicken seine Eltern ihn in ein katholisches Internat in Bonn, damit er einen guten Schulabschluss mache. Der junge Jude geht regelmäßig in den Gottesdienst, wird Messdiener, betet dort für den von jungen deutschen Terroristen entführten Hanns-Martin Schleier, wird kurzzeitig Mitglied der Jungen Union. Dann, Ende der 70er Jahre, der kulturell-politische Aufbruch, der Protest: „Schulterlange hennarote Locken, ein Palästinensertuch um den Hals“ (S. 451); die Musik, die Polittexte der Anarchoband Ton Steine Scherben um Rio Reiser kennt er bald auswendig. Deren Song „Die letzte Schlacht gewinnen wir“, 1972 erschienen, prägt sein Lebensgefühl. Er fühlt sich als Linker, übernimmt als 20jähriger auch die antisemitischen – sich irrtümlich als „internationalistisch“ gerierenden – Überzeugungen eines nicht unbeträchtlichen Teils der Linken:
Als ihn seine Familie zu einem Besuch zu Verwandten nach Israel schickt, lässt der junge „Revolutionär“ vernehmen, dass er die Politik Israels ablehne: „`Ihr habt nichts aus der Geschichte gelernt´, schimpfe ich. `Die Nazis haben euch unterdrückt. Jetzt macht ihr das Gleiche mit den Palästinensern.´“ (S. 456) Und doch war er, der junge Deutsche, mit großer Freude am Ben Gurion Flughafen empfangen worden: „Alle sprechen Deutsch, alle scheinen hocherfreut, mich kennenzulernen. Meine Genossen zu Hause haben mich gewarnt. Deutsche seien in Israel nicht sonderlich willkommen. Günthers Freunde zitieren mit stolzgeschwellter Brust Verse aus mir unbekannten deutschen Theaterstücken; sie schwärmen von deutschen Landschaften, die ich nie gesehen habe.“ (S. 452)
Stigmatisiert
Das Bemühen des jungen Lorenz Beckhardt, seinen israelischen Verwandten zu beweisen, dass junge Linke wirklich nichts über ihre deutsche Geschichte wissen, bleibt nicht ohne Folgen: Seine israelischen Verwandten wissen nicht recht, was sie mit dem jungen Langhaarigen anfangen sollen. Ob er nichts über das Schicksal seiner Familie wisse? Nein, darüber wusste er wirklich nichts.
Nur einmal erlebt er in Israel, wie verheerend sich die Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten auf ihre jüdischen Opfer ausgewirkt haben: Sein israelischer Verwandter Günther stellt ihn einer aus Deutschland stammenden israelischen Freundin vor: „`Das ist der Enkel meiner Schwester´, sagt Günther. `Er ist zu Besuch gekommen – aus Deutschland.´ Rivka zieht die schon ausgestreckte Hand abrupt zurück. Sie wendet ihren Blick von mir ab und starrt Günther an. Ich begreife nicht, warum ich plötzlich Luft für sie bin. (…) Die Luft in dem engen Raum ist stickig.“ (S. 452f.) Der junge, sich unschuldig wähnende Linke braucht viele Jahre, die Szene wirklich zu verstehen: „Natürlich hat es mit mir zu tun. Ich habe mich zu schnell daran gewöhnt, dass ich von Günthers Freunden nicht zu den Nazikindern gezählt werde, sondern als sein Verwandter auf der gemütlichen Opferseite Platz nehmen darf. Rivka hat mich wieder zu einem gewöhnlichen Deutschen gemacht. In Israel bin ich sowohl Nachkomme jüdischer Naziopfer als auch Angehöriger des deutschen Tätervolkes. `Deshalb spricht sie kein Deutsch´, sage ich. Günther nickt.“ (S. 453)
Die Enthüllung
Wenig später möchte Lorenz den Kriegsdienst verweigern. Zu seinem ungläubigen Erstaunen klärt ihn ein Verwandter darüber auf, dass er doch Jude sei – und als Nachkomme von jüdischen Verfolgten nicht zur Bundeswehr müsse: „`Was soll das heißen?´, stammele ich, `Kinder von Naziverfolgten? Bin ICH ein Kind von Naziverfolgten?´ Hilfe suchend schaue ich Edith an. `Sprich mit deinem Vater!´, sagt sie.“ (S. 450) Der krankmachende Prozess des Verschweigens beginnt sich zu lösen.
Diese Erfahrung wird, viele Jahre später, zum Ausgangspunkt einer langen, schmerzhaften Forschung zur Familienbiografie des beim WDR tätigen Wissenschaftsjournalisten. Heute hat er sich seinem Judentum genähert, ist Mitglied der Bonner Synagogengemeinde.
Vor einigen Jahren, 2007, führten sie zu der von einem WDR-Kollegen erstellten filmischen Dokumentation Fritz Beckhardt – Der Jude mit dem Hakenkreuz.i Nun hat Lorenz S. Beckhardt seine Spurensuche in der eindrücklichen Familienchronik “Der Jude mit dem Hakenkreuz” abgeschlossen.
Überleben im KZ
Bei einem Besuch in einem Antiquariat in Israel – der Antiquar sprach deutsch – übergab dieser ihm ein Buch über deutsch-jüdische Fliegerhelden, auf dem ein Kampfflugzeug abgebildet war. Geschmückt war es mit einem überdimensionalen Hakenkreuz – für den jungen jüdischen Piloten ein Glückssymbol. Ausführlich portraitiert wurde in diesem Werk insbesondere Lorenz‘ Großvater Fritz, ein gelernter Kaufmann, der aus dem 1. Weltkrieg als der höchst dekorierte Jude zurückkehrte. Lange lebte er, voller Stolz über seinen Mut, in der Illusion, dass er als hochdekorierter jüdischer Pilot geschützt sei. All dies half nicht: Er wurde wegen „Rassenschande“ inhaftiert, wurde nach Buchenwald gebracht und kam nur mit sehr viel Glück sowie der Hilfe seines ehemaligen Geschwaderkameraden Hermann Göring frei.
1950 kehrt Fritz Beckhardt, der Fliegerpilot und deutsche Jude, gemeinsam mit seiner Frau Rosa Emma und seinem 23-jährigen Sohn Kurt – der diesen Entschluss bis heute als „törichste Entscheidung seines Lebens“ bereut – aus innerer Überzeugung wieder nach Deutschland zurück, in das Land der Mörder – gegen den entschiedenen Willen eines Teils seiner Familie. Er hat gut zwei Jahre Untersuchungshaft und das KZ Buchenwald überlebt, wohin er „wegen Rassenschande“ verschleppt wurde. Vereinzelt darf der wegen seines Mutes und seiner Kampfkunst ausgezeichnete Flieger kurze Briefe an Verwandte schreiben. In einem schreibt er: „Meine Lieben Guten! Hoffentlich treffen Euch diese Zeilen gesund und wohlauf an, mich verlassen sie G.s.D. bei guter Gesundheit. Für die lieben 2 Briefe danke ich Euch und besonders Dir, liebe Emma auf das Herzlichste. Jede Zeile bringt mir Freude. (…) Ihr alle, meine innigstgeliebten Fünf, seid umarmt, gegrüßt und geküsst in herzlichster Liebe, von Eurem viel, oft und gern an Euch denkenden Fritz und Vater.“ (S. 271-273) Sein Großvater Fritz wird im März 1940 freigelassen, andere Verwandte werden im Konzentrationslager ermordet. Fritz und Emma emigrieren nach Portugal, 1941 holt ihn die britische Regierung wegen seines militärischen Wissens nach England. 1950 dann der Entschluss zur Rückkehr in sein deutsches Heimatdorf. Die Liebe zu Deutschland war zu stark. Trotz aller gegenteiligen Erfahrungen der Ausstoßung.
Liebe macht blind
Immer wieder zeigen ihnen die Dorfbewohner, dass sie unerwünscht sind. Die erneute Begegnung mit den von ihnen 15 Jahre zuvor vertriebenen Juden weckt in ihnen Schuldgefühle, vermutlich auch Angst. Dies lassen sie die Rückkehrer spüren: Die `arische´ Mehrheit erkannte, wie viel Wahres in den Prophezeiungen des „Führers“ gesteckt hatte: Sollte der Krieg verloren gehen, fielen die Juden über Deutschland her“ (S. 351), bemerkt der Autor. Nach mehrjährigen Prozessen erhält Fritz im Rahmen der „Wiedergutmachung“ einen Teil seines „arisierten“ Vermögens wieder zurück. Die quälenden Prozesse um die „Wiedergutmachung“ haben seine Gesundheit zerstört, er bezahlt sie mit drei Herzinfarkten.
Die Liebe zu Deutschland hat ihn blind gemacht. Auf Fotos und in den nuancierten Beschreibungen erleben wir einen zunehmend verzweifelnden, schwer traumatisierten, existentiell enttäuschten Menschen. „Bis zum 8. Mai 945 galten Juden in den Augen der „arischen“ Mehrheit ausnahmslos als reich. Tags darauf mussten sie beweisen, jemals etwas besessen zu haben. Für jeden Zahnstocher musste Fritz Kaufbelege vorzeigen.“ (S. 368)Diese Beschreibungen sind erschütternd. Eine Episode: „Zum dritten Mal wechselt Fritz den Anwalt. Der neue hieß Goldberg und hatte seine Kanzlei in der Bahnhofstraße, so wie einst Berthold Guthmann. Die Jahre 1954 und 1955 verbrachten Fritz und Goldberg im Dauergefecht mit der Frankfurter Oberfinanzdirektion. Hauptstreitpunkt war die Rückerstattung des Eigentums von Emil und Hannchen, das nach der Deportation versteigert worden war. (…) Die Behörde verlangte Einsicht in Emils Konten, um zu prüfen, ob die Juden nicht vielleicht doch etwas rechtzeitig verkauft hatten. Es war immer die gleiche Masche. Die „arischen“ Beamten gaben sich ahnungslos und verlangte von den Juden Beweise für die Naziverbrechen. Ebenso gut hätte man sie zur Vorlage von Hitlers Geburtsurkunde auffordern können – als Beweis dafür, dass das Dritte Reich existiert hatte.“ (S. 399f.)
Die Beschneidung
Von Freude über die Rückkehr zumindest einiger weniger vertriebener Juden ist im Dorf nichts zu spüren. Sein Lebensmittelgeschäft wird weiterhin von vielen Sonnenbergern boykottiert.
Gegen Ende seines Lebens erkennt Fritz die ablehnende Haltung eines Teils der deutschen Bevölkerung und der deutschen Behörden. 1962 stirbt er, verbittert, nach mehreren Schlaganfällen.
Dem Anfang wohnt das Ende inne: Lorenz Beckhardt beginnt seine Spurensuche mit der Szene seiner – sehr verspäteten – Beschneidung: Im Alter von 45 Jahren möchte er seinen ihm früher verwehrten jüdischen Namen tragen, sich auch öffentlich zu seinem Judentum bekennen. Mit der Beschneidung durch einen Rabbi heißt er nun Schlomo ben Yehuda. „Es schmerzt, aber es fühlt sich gut an“, lautet der erste Satz seines Buches (S. 7).
Sein betagter Vater, der die Nazizeit als Jugendlicher in all ihrer Grausamkeit erlebte, diese Dank der Kindertransporte in England überlebte, wohnt der feierlichen Zeremonie bei: „Mein Vater ist achtzig Jahre alt, und zum ersten Mal in meinem Leben sitzt er wie ein Jude vor mir. Er trägt eine blaue Kippa mit hellem gemusterten Rand, und von einem Holzstuhl an der Wand aus beobachtet er das Ritual mit wachen Augen.“ (S. 7)
Lorenz Beckhardt hat ein großartiges Buch vorgelegt. Die Lektüre lohnt. Ob es „helfen“ wird? Individuell gewiss. Gesellschaftlich? Ich habe tiefe Zweifel.
Lorenz S. Beckhardt: Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine deutsche Familie, Aufbau Verlag 2014, 480 S., 24,95 €
i Mathias Haentjes: Fritz Beckhardt – Der Jude mit dem Hakenkreuz. Kinofilm. Internet: https://www.youtube.com/watch?v=4w5LljZU8xM