Journal21: Die jüngsten Anschläge waren offenbar eine koordinierte Aktion der Terroristen des „Islamischen Staats“. Weshalb gerade jetzt?
Taoufik Ouanes: Das Timing der Anschläge in Sousse, Kuweit und Frankreich hat Symbolcharakter. Genau vor einem Jahr, an einem Freitag, wurde der sogenannt „Islamische Staat“ (IS) offiziell ausgerufen. Mit den jüngsten Attentaten haben die Terroristen ihre Stärke beweisen wollen. Sie haben demonstriert, dass sie fast überall, wo sie wollen, zuschlagen können.
Dieser „Staat“ ist innerhalb eines Jahres wirklich zu einem Staat mit festen Strukturen herangewachsen. Zehn Millionen Menschen leben in ihm, in Syrien und im Irak. Es gibt ein funktionierendes Wirtschaftssystem, es gibt Spitäler, in denen selbst westliche Ärzte arbeiten. Sogar ein eigenes islamisches Geld wurde eingeführt. Der „Islamische Staat“ ist viel mächtiger und gefährlicher als es al-Qaeda von Bin Laden war.
Gefährlicher als al-Qaeda?
Ja, nach der Globalisierung der Wirtschaft müssen wir akzeptieren, dass es einen globalisierten Terror gibt. Die Terroristen können und werden wohl überall zuschlagen, auch in Europa, auch bei uns. Viele glauben noch immer, der Terror sei ein länderspezifisches Problem: ein Problem von Syrien, des Irak, von Mali, Saudi-Arabien, Kuweit, Nigeria, Somalia und Frankreich. Aber der Terrorismus wird immer mehr zu einem transnationalen Problem. Es gibt heute eine „Internationale des Terrors“.
Der Papst sprach vom Beginn eines dritten Weltkrieges.
Der Papst hatte recht: Der dritte Weltkrieg hat begonnen. Er beginnt schleichend. Im Westen glauben immer noch viele, dass es sich um einen Religionskrieg handle. Das ist falsch. Es ist auch kein Krieg von Sunniten gegen Schiiten, wie immer wieder behauptet wird. Es ist kein islamo-islamistischer Krieg wie zu Chomenis Zeiten. Es ist ein Krieg zwischen zwei grundverschiedenen Zivilisationen. Ein Krieg zwischen Ideologien. Die Terroristen kämpfen gegen die westliche Zivilisation. Die Anschläge der sunnitischen IS-Terroristen auf schiitische Moscheen haben nur den Zweck, einen Bürgerkrieg zu provozieren, die Länder zu destabilisieren und letztlich die pro-westlichen Regierungen zu stürzen.
Was kann Europa tun?
Leider tut Europa kaum etwas Konstruktives gegen den Terrorismus. Die Europäer beschäftigen sich seit Monaten nur mit Griechenland. Immer nur Griechenland. Als ob es keine anderen Themen gäbe. Auch wenn Griechenland die Euro-Zone verlässt, wird Europa überleben. Wenn aber Europa sich nicht endlich bewusst wird, dass es vom Terror arg bedroht ist, wird es vielleicht nicht überleben. Man muss es offen sagen: Europa ist bedroht.
Im europäischen Haus lodert das Feuer. Man soll den Teufel nicht an die Wand malen, doch viele sind sich dessen noch nicht bewusst. Das Feuer im Haus lodert, und was tut Europa? Es nervt sich, weil ein Nachbar das Fenster geöffnet hat und laute Musik macht.
Gäbe es eine einfache Strategie gegen den Terror, würde man sie wohl einsetzen.
Kein Staat kann allein den Terrorismus bekämpfen. Doch noch immer fehlt eine internationale Strategie. Das klingt zwar simpel, aber es ist so. In Europa reduziert man alles auf das Thema Migration. Man tut alles, um die Flüchtlingswelle einzudämmen. Die EU will Boote am libyschen Strand bombardieren; das ist ja lächerlich. Aber man tut zu wenig, um die Ursachen der Migration zu erkennen. Nicht die Migration schafft hauptsächlich den Terror, sondern umgekehrt: Der Terror schafft die Migration. Die ersten Opfer des „Islamischen Staats“ sind die Muslime.
Europa glaubt, wenn man die Flüchtlingswelle bekämpfe, kämen auch keine Terroristen in den Norden. Das ist falsch. Es gibt heute in Europa überall schlummernde Terroristenzellen. Viele sind bereit, bald zuzuschlagen, andere Zellen sind im Aufbau. Die Mitglieder dieser Gruppen sind grösstenteils Zweit- oder Drittgeborene von Einwanderern. Doch nicht nur. Es gibt auch Europäer die dabei sind.
Was also tun?
Fragen wir uns doch: Weshalb ist der „Islamische Staat“ so reich und verfügt über modernste Waffen? Wer verkauft die Waffen an den „Islamischen Staat“? Westliche Länder sind es. Teils direkt oder über mehrere Zwischenhändler gelangt modernstes Kriegsgerät in die Hände der Terroristen. Und der Westen kauft, auch direkt oder über Zwischenhändler, das Rohöl, das der „Islamische Staat“ im Irak oder in Syrien fördert.
Es wäre schon gut, wenn sich Europa wirklich der Gefahren bewusst würde. Noch hat jeder Staat seine eigenen Rezepte, doch zwingend ist, dass man zusammenarbeitet. Und zwar nicht nur in Europa selbst. Es braucht eine Art Nord-Süd-Achse. Wenn der Westen den Ländern im Nahen Osten nicht vermehrt unter die Arme greift, wird der Terror immer mehr blühen. Den Terror kann man nur bekämpfen, wenn man eng mit den Staaten zusammenarbeitet, in denen der Terror entsteht, mit Irak, Syrien und so weiter.
Also zum Beispiel eine Zusammenarbeit des Westens mit Asad?
Warum nicht! Man muss sich die Frage stellen: Will man Asad oder den „Islamischen Staat“?
Soll man Russland ins Boot holen?
Europa gelingt es nicht, mit Russland zu verhandeln. Man versteht sich nicht. Sicher soll Europa gegen die expansionistische Politik Putins bestimmt auftreten. Aber auch Putin hat Interesse daran, den Terrorismus zu bekämpfen. Vielleicht ist Russland das nächste Aktionsfeld des „Islamischen Staats“. Blockiert wird ein gemeinsamer westlich-russischer Kampf gegen den Terrorismus, weil man Syrien gegen die Ukraine ausspielt – und umgekehrt.
Sie sind Tunesier, Sie stammen aus Sousse. Welche Bedeutung hat der Anschlag auf Ihr Land?
Er hat nicht nur katastrophale wirtschaftliche Konsequenzen. Viele Touristen werden nicht mehr kommen. Die Tunesier sind wütend und tief deprimiert, denn sie wissen: Der Anschlag in Sousse ist mehr als ein Anschlag auf ein Hotel. Es ist ein Anschlag auf das tunesische Modell, in das die Tunesier so viele Hoffnung setzen. So hat das Attentat wichtigen Symbolcharakter.
In Tunesien begann der Arabische Frühling. Tunesien ist das einzige arabische Land, dem es gelang, demokratische Strukturen nach westlichem Vorbild zu errichten. Auch wenn dieses demokratische Gebilde noch schwach ist, es ist da. Und dieses westliche Modell wollen die Terroristen zerstören. Für den „Islamischen Staat“ ist der Westen korrupt, dekadent, ungläubig, kolonialistisch. All das will man bekämpfen. Der Anschlag auf das Bardo-Nationalmuseum in Tunis im März war nur der Auftakt. Die tuneische Regierung ist schwach. Auch wenn die Zahl der Sicherheitskräfte verdoppelt würde, gegen diese Art Terror, wie sie jetzt in Sousse stattfand, gibt es kaum ein Rezept.
Mit Taoufik Ouanes sprach Heiner Hug