Die Schweizer Fotografie geniesst weltweit seit je her eine hohe Reputation. Aber bis heute haben eigentlich nur gerade drei Fotografen mit Schweizer Herkunft Bekanntheit von Weltrang erlangt: Werner Bischof, Robert Frank und René Burri. Vergleichbar ist das Werk der drei nur bedingt. Die Berührungspunkte zwischen Werner Bischof und René Burri scheinen teils zwar offensichtlich zu sein, erweisen sich bei näherer Betrachtung aber als kompliziert.
Nähe zu Werner Bischoffs Leben und Werk
In einem lebensweltlichen Sinn ist Burri sozusagen in die Fussstapfen des sieben Jahre älteren Werner Bischof getreten. Biografisch und gestalterisch scheint diese zwei Fotografen eine paradoxe Kontinuität zu verbinden. Zeitverschoben besuchten beide Hans Finslers legendäre Fotoklasse an der Zürcher Kunstgewerbeschule.
Wenige Jahre nach Bischofs frühem Tod (1954) bei einem Autounfall in den peruanischen Anden wurde René Burri Mitglied der von Bischof mitbegründeten Fotoagentur MAGNUM. Und etwas später fanden Rosselina, die Witwe von Werner Bischof, und René Burri zusammmen und heirateten 1963. Diese Nähe zu Bischofs Leben und Werk war für René Burri Glück und Fatum zugleich.
Mit Robert Frank verbindet Burri weit weniger. Frank ist ein Solitär, war weder Schüler von Hans Finsler, noch wurde er je Mitglied von MAGNUM, obwohl er sich in New York kurze Zeit um eine Aufnahme bemüht haben soll. Eine ganz besondere Parallele im Schaffen von Burri und Frank ist aber bemerkenswert. Beide Fotografen schafften den Durchbruch mit einer als Buch erschienenen grossen Reportage.
Mitte der 1950er-Jahre war der damals dreissigjährige Robert Frank im Gebrauchtwagen unterwegs durch über 40 Staaten der USA und nahm sein zweifellos ehrgeizigstes fotografisches Langzeitprojekt in Angriff. Das Ergebnis war fulminant. Die Vereinigten Staaten wurden von Frank ins Bild geholt wie nie zuvor. „Die Amerikaner“ 1958 in Buchform zuerst in Frankreich, dann in den USA erschienen, waren die wohl folgenreichste Umdeutung des Amerikabildes der Nachkriegszeit.
"Die Deutschen"
In den frühen 1960er-Jahren machte sich René Burri, noch keine 30 Jahre alt, auf eine vergleichbare fotografische Suche nach dem Deutschland der Nachkriegszeit. Mit seinem Fotobuch „Die Deutschen“ schuf er eine völlig neue Sicht auf unseren nördlichen Nachbar, die ikonografisch durchaus einem Vergleich mit Franks „Amerikanern“ standhält. Gestalterisch werden aber auch die unterschiedlichen Charaktere der beiden Fotografen bereits deutlich spürbar.
Auch darum lohnt sich unser Blick auf das Dreigestirn der Schweizer Fotografen von Welt. Ihre fotografische Heimat liegt durchaus im kompositorischen und stilistischen Kosmos der Schweizer Fotojournalisten erster Generation begründet – Hans Staub, Paul Senn, Gotthard Schuh.
Bei Bischof und Burri führt die Linie direkter darauf zurück als bei Frank. Was nicht zuletzt durch die Vermittlung des gemeinsamen Lehrers Hans Finsler verstärkt wurde. Bei Robert Frank wird hingegen bald eine Lust auf Abweichung sichtbar. Er hat sich sehr früh und bewusst dem vorherrschenden Ordo der „neuen fotografie“ entzogen. Etwas flapsig könnte man sagen, es sei für Robert Frank stilprägend gewesen, nicht auch bei Finsler in der Klasse gesessen zu haben.
Blick auf die Ränder
Wir wollten aber René Burri etwas genauer orten. Man könnte dazu neigen, seine Position im Dreieck etwas zu fragil zu sehen oder gar zu gefällig. Tatsächlich ist er auf den ersten Blick weniger direkt im Zugriff und formal weniger streng als Werner Bischof. Und auf jeden Fall ist er nicht so eigensinnig und radikal wie Robert Frank. Das will er und kann er auch nicht sein. Er ist ein anderer Mensch, kein Zweifler und Haderer. Er ist ein Menschenfreund. Und das wird in allem spürbar, was Burri tut – auch in jedem Bild.
Der Stil ist die Person, eine virile Schaffenskraft und eine ganz spezielle Neugier, die Zuwendung zu den Schwachen, der Blick auf die Ränder, engagiert und politisch, aber immer auch mit viel Heiterkeit.
Burris soziale und humane Sicht der Welt habe ihm zu einer ganz spezifischen Art des Sehens verholfen, schrieb Willy Rotzler, Kunstkritiker der NZZ, in seiner Würdigung im Buch „One World“, das 1984 zur Ausstellung von René Burri im Zürcher Kunsthaus erschien. Diese tiefe Menschlichkeit will Rotzler schon in den 1950er-Jahren beim jungen Schüler von Lehrmeister Hans Finsler festgestellt haben, der regelmässig Kollegen zu Gesprächen in seine Klassen geholt hatte.
„Das Gespräch mit Gästen wie Edward Steichen und Henri Cartier-Bresson, das Studium der ‚Life-Fotografie’ auch, führte dazu, dass in Hans Finslers Ausbildung bei der fotografischen Arbeit neben Sachtreue, technischer Perfektion und höchster formale Disziplin das Element des Humanen eine wachsende Rolle zu spielen begann“, so Rotzler. Burris Arbeiten seien schon damals aufgefallen: „Menschen in ihrem Lebensraum und mit ihrem Schicksal waren da nicht zu schönen Bildern verarbeitet, sondern in ihrer eigenen – daher packenden – Wahrheit hingestellt.“
Leidenschaft und Offenheit
Aber auch medial erwies sich René Burri sehr bald als der Prototyp des „modernen Fotografen“. Er hat die Logik der Medienwelt und deren Verschiebungen durch das Aufkommen des Fernsehens schnell begriffen. Zeitschriften mussten mit ihren Fotoreportagen eine zweite Ebene der Aufmerksamkeit und Aktualität anpeilen. Die Frontberichterstattung war gegen Ende der 1960er-Jahre bereits fest in Händen des Fernsehens.
Das von Rotzler trefflich beschriebene spezifische Sehen kam Burri dabei sicher zugute und beförderte seine oft geheimnisvolle Sicht der Welt. Intuitiv, vielleicht gar zufällig kam er auf Nebenschauplätzen des Weltgeschehens nicht selten zu seinen suggestivsten Bildern. Cartier-Bressons „entscheidender Augenblick“ wird bei René Burri zur beiläufigen Dringlichkeit.
Und auch auf der anderen Seite des Medienbetriebs war Burri mit seiner leidenschaftlichen und offenen Art erfolgreich unterwegs. Fotografie war zeitlebens seine tägliche Arbeit, die Basis seiner Existenz. Er war meist im Auftrag unterwegs.
Kommunikation ist rundherum Burris Ding. Nur wenige andere Fotografen konnten weltweit so freundschaftlich auf den Redaktionen grosser Zeitschriften ein und ausgehen. Dafür haben ihn viele beneidet und auch kritisiert. Kein anderer Fotograf hat zum Beispiel seit den späten 1950er-Jahren bis heute bei so vielen Heften der legendären Kulturzeitschrift „Du“ mitgewirkt. Auch hier spielt die erwähnte Kontinuität mit Werner Bischof. Dieter Bachmann, „Du“-Chefredaktor von 1988 bis 1998, schreibt in der René Burri gewidmeten „Du“-Ausgabe im März dieses Jahres: „Bischof war, neben einigen anderen Kollegen, quasi ‚Hausfotograf’ gewesen, Burri eher so etwas wie der ‚Hausfreund’. Unregelmässiger, aber häufiger Gast, Geist der Unruhe, der auftaucht und verschwindet; es gab Zeiten der engen Verbindung und Zeiten der Entfernung.“
Kubanische Metamorphosen
Wer mit René Burri auf Reportage war, lernte noch eine weitere Seite seiner überwältigenden Menschlichkeit kennen. Er war 60 und ich 40, als wir 1993 zusammen nach Kuba reisten, um am Entstehungsort seiner fotografischen Ikone, dem legendären Porträt von Che Guevara mit Zigarre (1961) auf Spurensuche jener Revolution zu gehen, die zwischen Mythos und Wirklichkeit zunehmend zu verrotten schien. Fünf, sechs Mal war Burri während 30 Jahren auf der von Fidel Castro regierten Insel. Ein Heft sollte entstehen, das die Metamorphosen des karibischen Sozialismus dokumentiert.
René Burri war eine Woche vor mir nach Havanna geflogen. Im Mietwagen holte er mich am Flughafen José Marti ab. Mir war, als käme ich nach Hause. Väterlich hatte Burri bereits vieles vorbereitet. Sein Zimmer im Hotel Inglaterra war hergerichtet, als wäre es seine heimische Stube – Bücher überall, Fotos seiner zweiten Frau, Zigarren, Notizbücher, Skizzenbücher für seine Collagen, Wasserfarben, Pinsel und, unvermeidlich, die Limonen und der Rum für einen ersten Mojito.
Kaum hatte ich mein Zimmer nebenan bezogen, klopfte es. Eine wunderschöne Mulattin stand vor der Tür, bat um Eintritt. Sie brachte frische Frottiertücher. Burri war das nicht entgangen. Er sorgte sich um die Gesundheit seines schreibenden Kollegen, schob fürsorglich ein Kondom unter dem Türspalt durch. Für alle Fälle.
Wo immer er ist, ist seine Welt
So war er und ist es immer noch – auch in seinem 78 Jahr. Wunderbar formulierte es Guido Magnaguagno 1984 in Buch „One World“: „Die Kunst lehrt, dass der Mensch das Mass der Dinge bestimmt, auch wenn Burris Protagonisten manchmal wie Giacomettis Figuren in einer Art Niemandsland stehen.“ Er allerdings kennt kein Niemandsland, wo immer er ist, ist seine Welt – Burriland gewissermassen.
Marco Meier (57) war „Du“-Chefredaktor, leitete die Redaktion „Sternstunden“ beim Schweizer Fernsehen und gehörte als Programmleiter des Kulturradios DRS 2 bis Ende 2010 der Geschäftsleitung von SR DRS an.