Am Anfang des Buches erzählt Rupert Neudeck von seinen Kindheitserfahrungen mit Flucht und Vertreibung. Als sich 1945 die Russen dem Osten Deutschlands näherten, wollte seine Mutter mit den drei Kindern – der Vater war noch irgendwo in Norwegen – über Danzig am 31. Januar 1945 mit der Wilhelm Gustloff fliehen. Das misslang, denn sie erreichten das Schiff zu spät. Wenige Stunden später sollte es von einem russischen Torpedoboot versenkt werden. Ihre Verspätung hatte ihnen den wahrscheinlichen Tod durch Ertrinken erspart.
Das Elend der Heimatlosen
In den Wochen danach erlitten seine Geschwister und er alles Elend der Heimatlosen, wobei seine Mutter von russischen Soldaten mehrfach vergewaltigt wurde. Neudeck erzählt dies alles nüchtern und sachlich und will damit nur eines klarmachen: Er weiss und er spürt es im Innersten, was es heisst, ein Flüchtling zu sein, und mit ihm teilen dieses Schicksal Millionen Deutsche. Und wenn man mit Neudeck ein wenig weiter zurück in die europäische Geschichte blickt, sehen wir, dass Vertreibung, Flucht und Auswanderung alles andere als Ausnahmeerscheinungen sind.
Der erste Eindruck besteht nun darin, dass Rupert Neudeck lediglich plausibel machen will, warum er sich unter anderem als Initiator der Cap Anamur jahrzehntelang für Flüchtlinge eingesetzt hat. Das wäre zwar wissenswert, aber nicht wirklich bewegend. Bewegend wird das Buch dadurch, dass er mit seinem durch das Flüchtlingsschicksal geformten Sensorium Flüchtlinge anders wahrnimmt. Er sieht in ihnen keine Fremden, die auf Grund ihrer weit von uns entfernten Herkunft, ihrer schreienden Armut oder ihrer niedrigen sozialen Stellung uns nicht wirklich nahekommen. Neudeck sieht in ihnen Bilder unserer selbst: Das sind auch wir.
Unbewusster Rassismus
Im Zuge der Lektüre erweist sich, dass wir unbewusst über Abwehrmechanismen verfügen. Wir lassen die Flüchtlinge nicht wirklich an uns herankommen. Unbewusst praktizieren wir eine Art Rassismus, damit unser Leben so lange wie möglich in den gewohnten Bahnen fortgesetzt werden kann. Das ist es, was der Blick in den Spiegel schmerzhaft lehrt.
Für Rupert Neudeck aber sind die Ertrinkenden im Chinesischen Meer, von denen er viele mit der Cap Anamur hat retten können, und die vielen Toten im Mittelmeer mit ihm unmittelbar verbundene Menschenwesen. An einer Stelle schreibt er, man könne nicht mehr glücklich werden, wenn man sich diese Schicksale vor Augen führe und wisse, dass sie sich zu jeder Stunde des eigenen komfortablen Tages wiederholen.
Aber muss man vor diesem Schrecken und diesem Elend nicht resignieren? Ist das, was wir dagegen zu bewirken vermögen, nicht so vergeblich „wie eine Träne im Ozean“? So hiess eine Romantrilogie von Manès Sperber, in der er das Scheitern der grössten Idealisten im Zusammenhang mit dem Kommunismus schilderte. Sind wir nicht im Grunde genauso Teil eines gigantischen Verhängnisses wie die Protagonisten bei Sperber?
Geistige Quellen
Man kann sich Rupert Neudeck als einen sehr tatkräftigen Menschen vorstellen. Er war Redakteur im Deutschlandfunk, und offenbar liessen ihm kluge Kollegen eine recht lange Leine, so dass er die Welt bereisen und Hilfe organisieren konnte. Dazu gehörte natürlich auch die Medienpräsenz, und da war Rupert Neudeck stets sachlich nüchtern und zugleich mitreissend. Er wies schonungslos auf Missstände hin, fand immer deutliche Worte, nannte Ross und Reiter, und schwang sich zugleich selbst in einen Sattel, um zu retten, was zu retten war. Das Gute an seinem nachgelassenen Buch – Rupert Neudeck starb vor ein paar Monaten völlig unerwartet bei einer Herzoperation – besteht auch darin, dass darin das Mitreissende Neudecks zum Ausdruck kommt.
Aus welchen geistigen Quellen schöpfte er? Seine philosophische Doktorarbeit schrieb er über Jean-Paul Sartre und Albert Camus. Auf die Idee, Hilfe für die Vietnamflüchtlinge bereitzustellen, kam er, als er aus Anlass eines Interviews mit Sartre, das für den 1. Februar 1979 vorgesehen war, am Vorabend in Paris mit André Glucksmann zusammensass und der ihm das Desaster im Südchinesischen Meer schilderte. Zurück in Köln, schrieb er gleich an Heinrich Böll, und der war sofort dabei.
Klare Worte des Kardinals
In dem Buch finden sich auch weite Passagen, in denen Neudeck sehr positiv auf einzelne Bestrebungen der Kirchen eingeht. Besonderes Lob erfährt der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki, der sich im Juni 2015 aus Anlass des Weltflüchtlingstages ganz klar dafür ausgesprochen hat, den Flüchtlingen sichere Routen nach Europa zu öffnen, um sie vor dem Ertrinken und den skrupellosen Machenschaften mancher Schlepper zu bewahren. Woelki sagte: „Wir brauchen eine europäische Flüchtlingspolitik, die einen legalen Weg nach Europa schafft, und eine Seenotrettung, die Menschen und nicht Grenzen schützt. Bin ich denn der Hüter meiner Schwester und meines Bruders? Ja, verdammt noch mal, du bist der Hüter deines Bruders und deiner Schwester, das bist du!“
Mit diesem Appell, so schreibt Neudeck, haben Woelki und andere Würdenträger an diesem Tag auf dem Roncalliplatz „mit Sicherheit frischen Wind in die Kirche gebracht. Sie kann sich wieder zu einer moralischen Autorität entwickeln, wie einst Böll es war.“
Unbeirrbare Nüchternheit
In dem Buch wird nicht klar, ob Neudeck eher ein heroischer Nihilist im Sinne von Albert Camus, ein existentieller Humanist im Sinne von Jean-Paul Sartre oder Christ war. Das spielt auch keine Rolle. Denn wichtig an ihm ist seine unbeirrbare Nüchternheit. Jeder Mensch in Not ist für ihn ein unhintergehbarer Imperativ. Aufgrund seiner eigenen Leidensgeschichte vermag er ihn wahrzunehmen.
Aber Neudeck ist kein Träumer. Er macht sich keine Illusionen bezüglich der Lage, in der sich Europa befindet. Die Migration, von der wir gerade die ersten Anfänge erleben, ist ein weltgeschichtlicher Prozess. In ihm rächen sich die willkürlichen politischen Ordnungen, die der Westen seinen ehemaligen Einflusszonen hinterlassen hat, die ungerechten Handelsbeziehungen speziell im Agrarbereich, die „zunehmende Gier nach Rohstoffen“ und der Ruin des Weltklimas. Jetzt kommen massenhaft diejenigen, die entweder um ihr nacktes Leben kämpfen oder die im Fernsehen den Reichtum des Westens bestaunt haben und sich davon nun auch eine Scheibe abschneiden möchten. Neudeck fragt: Würden wir es anders machen?
Die irren Seiten der Bürokratie
Auch wir würden dahin gehen, wo uns ein besseres Leben winkt. Aber könnten wir uns in den reichen Ländern vor der Zudringlichkeit der Habenichtse schützen? Diese Möglichkeit sieht Neudeck nicht. Uns bleibe wirklich nur, die Fremden willkommen zu heissen, wie es schon im 3. Buch Mose, auf das sich Neudeck bezieht, geschrieben steht.
Aber er sieht auch, wie schlecht wir gerüstet sind. Seitenlang beschreibt er die irren Seiten unserer Bürokratie, die er und seine Frau bei der privaten Aufnahme eines einzelnen jungen Flüchtlings aus Afghanistan ausgesetzt waren. Als Leser fragt man sich, warum es keine Ausschaffung für Bürokraten gibt. Und Neudeck beklagt, dass in unserer Wohlfahrtsstaatskultur überhaupt nicht daran gedacht wird, dass jede Gabe eine Gegengabe erfordert, also auch von Flüchtlingen etwas gefordert werden muss. Dazu gehörten ein geregelter Tagesablauf, Beteiligung an Reinigungsarbeiten zum Beispiel in den sanitären Anlagen und durchaus auch Dienste im öffentlichen Raum. Das Schlimmste sei nun einmal, den Flüchtlingen keine Aufgabe zu geben.
Imperativ der Hilfe
Aber wo wird das alles enden? Diese Frage stellt Rupert Neudeck nicht. Er sagt nur: Wir müssen jetzt helfen, sofort und ohne Vorbehalte. Dadurch werden wir stärker – mental und dank der Menschen, denen wir zu einer neuen Existenz verholfen haben und die sich nun für uns einsetzen. Das ist optimistisch gedacht, ohne die negativen Beispiele aus unseren Nachbarländern mit jahrzehntelanger Immigration zu berücksichtigen. Aber vielleicht bleiben uns nur noch der Imperativ der Hilfe und der Optimismus, dass aus etwas Gutem am Ende Gutes entsteht.
Das Buch von Rupert Neudeck ist ein Vermächtnis im besten Sinne des Wortes. Es mahnt und es macht Mut.
Rupert Neudeck, In uns allen steckt ein Flüchtling. Ein Vermächtnis, 169 Seiten, Verlag C. H. Beck, München 2016