«Sie wollen, dass wir die Hände waschen?», zitiert die «New York Times» den Vertreter einer einheimischen Hilfsorganisation in Idlib: «Einige Leute können nicht einmal jede Woche ihre Kinder waschen. Sie leben im Freien.» Die Aussage verrät, wie hart das Coronavirus Menschen im Nahen Osten trifft, die auf der Flucht sind, in Lagern leben oder generell unter Kriegsfolgen leiden. Allein in Syrien hat der neunjährige Krieg 11 Millionen Menschen in die Flucht geschlagen, unter denen die eine Hälfte im eigenen Land und die andere Hälfte über die Region verstreut lebt, in der Türkei, in Jordanien, im Irak, in Ägypten und im Libanon.
Über drei Millionen Syrerinnen und Syrer leben an der Grenze zur Türkei im Nordwesten des Landes, wo nach wie vor Kämpfe zwischen islamistischen Rebellen und Regierungstruppen von Präsident Baschar al-Assad toben. Zwar ist derzeit ein brüchiger Waffenstillstand in Kraft, von dem aber kaum jemand annimmt, dass er lange hält. Auch so aber ist die medizinische Infrastruktur in Trümmern: Syrische und russische Kampfflugzeuge haben während des Krieges wiederholt Spitäler und Kliniken bombardiert und Hunderte Mitarbeitende des Pflegepersonals getötet. Kein Wunder, mangelt es in der Provinz Idlib, wo schätzungsweise eine Million Vertriebene gestrandet sind, allen Bemühungen der World Health Organization (WHO) zum Trotz an notwendigem Material, um einer Pandemie wie dem Coronavirus effizient entgegenzutreten.
Syrische Ärzte befürchten, dass Covid-19 in den dicht bevölkerten Flüchtlingslagern, Auffangzentren und halbzerstörten Gebäuden bereits unentdeckt grassiert – mit unter Umständen fatalen Folgen. «Social distancing» ist unter solch prekären Verhältnissen jedenfalls keine Option. Zwar hoffen Experten, dass die Todesrate relativ niedrig bleiben wird, weil über 60 Prozent der Geflohenen Kinder sind. Auch liegen einige der Lager abgelegen und sind so weitgehend isoliert. Währenddessen schätzen Pessimisten, dass sich in der Provinz Idlib im schlimmsten Fall bis zu einer Million Menschen mit dem Virus infizieren und bis zu 120’000 Erkrankte sterben könnten. Es ist ein Szenario des Grauens.
Ähnlich düster wie in Syrien sind die Aussichten – und die Umstände – anderswo im Nahen Osten. Zum Beispiel im Jemen, wo der Krieg zwischen der Regierung Mansur Hadis sowie seinen Alliierten vom Golf und den aufständischen Houthis annähernd 3,6 Millionen Menschen aus ihrem angestammten Domizil vertrieben hat. Oder im Irak, wo laut Menschenrechtsorganisationen nach wie vor 1,5 Millionen vom Krieg Vertriebene keine feste Bleibe haben und in Lagern oder überfüllten Wohnblöcken leben. Oder etwa in Libyen, wo die Kämpfe zwischen der Regierung in Tripolis und General Khalifa Haftar der Uno zufolge 900’000 Menschen versprengt haben und wo Hunderte meist afrikanischer Migranten in Auffanglagern ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen, Nahrung oder Wasser leben.
Nicht zu vergessen Gaza, der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem zufolge «das grösste Freiluftgefängnis der Welt», wo zwei Millionen Palästinenser zusammengepfercht sind, so zum Beispiel im Flüchtlingslager al-Shati im Norden des Streifens, wo 86’000 Menschen auf engem Raum, mitunter zu zwölft in einer Wohnung, leben. Noch hält sich in Gaza die Zahl der Infizierten in Grenzen und die zuständige Behörde in Israel überlegt sich allfällige Hilfsmassnahmen für das besetze Gebiet. Doch wie überall in der Region könnte die Corona-Pandemie angesichts eines bereits heute überforderten Gesundheitswesens verheerende Konsequenzen zeitigen.
Noch ist es wohl verfrüht, darüber zu spekulieren, was Covid-19 für die Zukunft der Region bedeutet, wie das eine Analyse in der «Jerusalem Post» tut. Deren Autor fragt, ob das Coronavirus dem Nahen Osten dieses Jahr mehr Frieden bescheren könnte, weil Länder, die im Innern das Virus bekämpfen müssten, unter Umständen zu wenig Ressourcen hätten, um noch einen zweiten Krieg zu führen. Zwar könnten, so die Analyse, einige Regime versucht sein, sich im Äussern militanter zu geben, um so von Versäumnissen im Innern abzulenken. Doch selbst Iran, der sich sonst regelmässig Propagandavideos zu neuen Drohnen, Raketen oder Waffen bediene, scheine angesichts interner Probleme darauf zu verzichten.
Laut Angaben des Gesundheitsministeriums in Teheran, die Skeptiker für untertrieben halten, hatten sich in Iran bis zum vergangenen Wochenende 20’160 Menschen mit Covid-19 infiziert und 1’556 Erkrankte waren gestorben. Rund 145’000 Leute würden sich in Spitalpflege oder zu Hause unter Quarantäne befinden. Das Epizentrum der Ansteckungen ist die Pilgerstadt Qom, Sitz eines Schreins zu Ehren von Fatimah Masumeh, der Tochter und Schwester von verehrten Imamen im schiitischen Islam. Es wird befürchtet, dass Pilger den tödlichen Virus überall hin im Nahen Osten verbreitet haben könnten, denn die Mehrzahl bisher Infizierter in Ländern wie Kuwait, Bahrain, Irak und Libanon war zuvor aus Qom zurückgekehrt.
Zu Recht fordern deshalb immer mehr Stimmen, unter ihnen das britische Aussenministerium, die renommierte Denkfabrik International Crisis Group oder die Leitartikler der "Washington Post", die USA sollten ihre rigorosen Wirtschaftssanktionen gegenüber der Islamischen Republik aussetzen, denn neben Versäumnissen des Systems befördert nicht zuletzt ein sanktionsbedingter Mangel an Medikamenten und medizinischen Geräten die Ausbreitung des Coronavirus. Von der Pandemie am stärksten betroffen sind indes ärmere Schichten und die Arbeiterklasse, während sich Mächtigere und Reichere wie überall zu helfen wissen. Ausserdem behindern zweifellos Machtkämpfe innerhalb der iranischen Regierung eine effiziente Bekämpfung des Virus.
Zwar argumentiert das US-Aussenministerium, Washingtons Sanktionen würden humanitäre Hilfe an Iran nicht verhindern. Doch Teheran sagt, Versprechen der USA, wonach Medikamente und medizinisches Gerät von Sanktionen ausgenommen seien, wären nicht wahr. Dies, weil es internationale Banken aus Furcht vor Repressalien nicht wagen würden, iranische Geldmittel im Ausland in ein Swiss Humanitarian Trade Arrangement (SHTA) zu transferieren, einen Zahlungsmechanismus zur Lieferung humanitärer Güter, auf den sich die Schweiz und die USA Ende Februar geeinigt haben.
Es ist wenig wahrscheinlich, dass Donald Trump gegenüber Iran so viel Empathie zeigt, wie George W. Bush 2003 es tat, als er nach einem Erdbeben, das 26’000 Menschen im Lande tötete, Amerikas Sanktionen zumindest vorübergehend aufhob. Der Präsident und Aussenminister Mike Pompeo sind überzeugt, dass ihre Strategie des maximalen Drucks funktioniert – gegenteiligen Indizien zum Trotz.
Nach wie vor sind US-Truppen im Irak vor Angriffen iranischer Alliierter nicht sicher und weitere Vergeltungsaktionen Teherans für die Ermordung von General Kassem Soleimani, dem Kommandanten der iranischen Revolutionswächter, nicht auszuschliessen. Zornig folgert Mehdi Hasan, ein britischer Autor indischer Abstammung und Schiit, auf der Website «The Intercept», die «furchtlosen, kontroversen Journalismus» zu betreiben und «die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen» verspricht: «Die amerikanische Regierung wird von Soziopathen beherrscht.»