„Die Schule der Republik“. Schon dieser bis heute permanent bemühte, mit pathetischem Unterton vorgetragene Begriff zeigt: die Schule ist im Bewusstsein der Franzosen im Grunde immer noch etwas Unantastbares und Hochheiliges. Sie ist ein quasi konstitutionelles Element der Nation und des republikanischen Selbstverständnisses, ein, zumindest theoretisch, unabdingbares Werkzeug für Gleichheit und sozialen Aufstieg.
Schwarze Husaren
Diese „Schule der Republik“, die im ausgehenden 19. Jahrhundert die Kirche und den Katholizismus aus der Schule vertrieben hatte, verhalf der engagierten, Pfaffen fressenden Generation der französischen Grundschullehrer um die Jahrhundertwende zu einem nahezu heldenhaften Image. Dementsprechend bezeichnete man diese stets dunkel gekleideten, meist bärtigen Pauker auch als „Die schwarzen Husaren“, denen man in Frankreich noch bis in die 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts mit gewaltiger Ehrfurcht begegnete. Ja, man verklärte sie zu Urhebern und Garanten des allzeit möglichen sozialen Aufstiegs. Legendär bleibt etwa die Rolle des Volksschullehrers Louis Germain für den weiteren Weg des aus ärmsten Verhältnissen stammenden späteren Literaturnobelpreisträges Albert Camus. Der amtierende französische Parlamentspräsident, Claude Bartolone, Sohn italienischer Immigranten, hatte zu seinem feierlichen Amtsantritt letztes Jahr seine hoch betagte Grundschullehrerin eingeladen, die einst dafür gesorgt hatte, dass seine Eltern ihn aufs Gymnasium gelassen hatten.
Versager und Eliten
Doch diese „Schule der Republik“ hat die letzten Jahrzehnte fast nur noch von ihrem Mythos aus früheren Zeiten gelebt. Zeiten, in denen an der sozialen Aufstiegsleiter Frankreichs noch nicht so gut wie sämtliche Sprossen fehlten. Zeiten, als die Schule wirklich noch in der Lage war, die ihr Anvertrauten unabhängig ihrer sozialen Herkunft nach vorne, nach oben zu bringen.
Längst vergangene Zeiten. Frankreichs Schulen sind heute ein Trümmerfeld. Mit gnadenlos harten Worten schrieben die OECD-Experten dem Land eines Descartes, Voltaire und Jules Ferry jetzt ins Stammbuch: deine Schule ist inzwischen nicht mehr als unteres Mittelmass. Von Rang 16 über 18 und 22 sind Frankreichs 15- jährige Schüler 10 Jahre nach der ersten PISA-Studie jetzt auf dem stolzen 25. Platz unter 65 getesteten Ländern angekommen. Vor allem aber attestiert man Frankreichs Schulen, dass die Diskrepanz zwischen den besten und den schlechtesten Schülern nirgendwo sonst so gross ist, wie hierzulande. Von wegen Gleichheit. 2003 galten schon 16% der französischen Schüler als „sehr schlecht“, heute sind es sogar 22%, gleichzeitig wird die Elite zwar immer besser, ihr Anteil aber immer kleiner. Doch damit nicht genug. Erfolg und Misserfolg in Frankreichs Schulen sind, deutlich stärker als vor 10 Jahren, an die soziale Herkunft der Schüler gebunden. 2003 gab es unter den besten Schülern ohnehin schon nur 7,5%, die aus unterprivilegierten Verhältnissen kamen, 10 Jahre später sind es gerade noch 4,9 %. De facto ist das grosse, einheitliche französische Schulsystem zu einem dualen System geworden, das auf der einen Seite immer mehr Versager und auf der anderen seine Elite hervorbringt. Angesichts dessen läuten hierzulande nun erstmals doch die Alarmglocken. Frankreich hat PISA endlich entdeckt, wenn auch mit zehnjähriger Verspätung.
PISA -war da was?
Denn souverän und reichlich arrogant hatte das Land seit einem Jahrzehnt die OECD-Studien weitgehend ignoriert, mit dem windelweichen und überheblichen Argument: diese OECD-Kriterien passen nicht zu unserem Konzept von Bildung.
Punkt. Damit war das Problem fürs erste angeblich vom Tisch, man schaute weiter auf den Nabel und vor allem nicht über die Grenzen des Landes hinaus. Jetzt ist man das dritte Mal hintereinander weiter in Richtung Keller gerutscht und erstmals hört man so etwas wie Wehklagen. Oder besser gesagt: die PISA-Studie wird zwischen der Kanalküste und den Pyrenäen endlich überhaupt wahrgenommen und als zusätzliches Argument benutzt, das verrostete, unbewegliche französische Schulsystem in Frage zu stellen.
Ein System, das in den 70-er Jahren die allgemeine Schulpflicht bis 16 dekretiert und in den 90-er Jahren beschlossen hatte: 80% eines Jahrgangs müssen Abitur haben! Dieses hehre Ziel im Namen der Chancengleichheit ist formal sogar erreicht worden. Jedoch mit dem Resultat: das französische Abitur als solches ist kaum noch etwas wert und pro Jahrgang verlassen rund 150‘000 junge Menschen mit 16 das berühmte einheitliche Collège ohne jeden Abschluss. Gleichzeitig ist die berufliche Lehre in einem unterentwickelten Zustand, wie in kaum einem anderen europäischen Land. Exakt 20 Jahre ist es her, dass eine Premierministerin, Edith Cresson, über den Rhein nach Deutschland geschaut und gefordert hatte, der Lehre in handwerklichen Berufen auch in Frankreich mehr Aufmerksamkeit zu schenken und ihr in der Gesellschaft zu mehr Ansehen zu verhelfen. Geschehen ist seit diesem Jahr 1993 so gut wie nichts. Eine Lehre zu machen ist in den Köpfen der Franzosen auch im Jahr 2013 immer noch so etwas wie die allerletzte Notlösung für einen jungen Menschen, etwas, für das man sich im Grunde schämen muss.
Fremdwort Pädagogik
Gleichzeitig wundert man sich, dass sich Frankreich jetzt wundert angesichts der letzten PISA-Zahlen. Vielleicht war den hoch gelobten und erfolgreichen Grundschullehrern zu Beginn des 20. Jahrhunderts, den schon erwähnten „Schwarzen Husaren“, Pädagogik einfach angeboren und hat sich deswegen seitdem in Frankreich kaum jemand Gedanken darüber gemacht, wie man das in den Lehrplänen aufgelistete Wissen am besten vermitteln kann. Anders gesagt: das Wort Pädagogik ist in diesem Land bis heute ein Fremdwort geblieben. Es gibt keine Pädagogischen Hochschulen und auch Sozialpädagogik kann man in Frankreich an keiner Universität studieren. Dementsprechend, ja noch dazu, hat man es vor 5 Jahren doch tatsächlich auch noch fertiggebracht, die ohnehin erbärmliche praktisch-pädagogische Ausbildung für Hochschulabgänger und angehende Junglehrer ganz abzuschaffen!
Das Land hat mittlerweile 6 Jahrgänge von jungen Lehrern, die sich am Ende der Uni nach schrecklichem Pauken durch die „Concours“ - die obligatorischen Wettbewerbe - gequält hatten und dann doch wirklich unmittelbar auf Schulklassen losgelassen wurden. Manche sind gerade 22 Jahre jung und haben vor lauter Pauken vom Leben keine Ahnung, von pädagogischen Methoden ganz zu schweigen. Offiziell bekamen diese überforderten Jungspunde einen Tutor an ihre Seite gestellt – doch angesichts dieser mittelfristig unhaltbaren Situation weigerten sich viele der erfahrenen Lehrer an den einzelnen Schulen schlicht und einfach, diese Tutorrolle auch zu übernehmen. Viele Junglehrer liefen nach sechs Monaten einfach entnervt davon.
Die unmögliche Schulreform
Jetzt hat der neue Erziehungsminister eine Schulreform in Gang gebracht – oder wollte das zumindest tun. Ganz vorsichtig hat er an der Grundschule angefangen. Der unsinnige Rhythmus der dort eingeschulten 6- bis 11-Jährigen soll abgeschafft werden - die wöchentliche Schulzeit von nur vier Schultagen auf zumindest 4 ½ ausgedehnt werden, um die nicht enden wollenden Schultage der französischen Penäler endlich zu verkürzen. Und schon hat sich die Widerstandsfront organisiert - Lehrer, Eltern, Schulleiter und Gemeinden laufen Sturm. Nur nichts ändern und weiter so -auch wenn das Bildungssystem am Krückstock geht und die Lehrer am College sich seit Jahren beschweren, dass jeder 5. in der so genannten „Sixième“, der sechsten Klasse beim Eintritt ins Collège, weder vernünftig lesen, noch schreiben oder rechnen kann.
Schizophrenie
Am Rande dieser Reform wollte Erziehungsminister Peillon noch etwas anderes ändern und für ein wenig mehr Gerechtigkeit und Gleichheit unter den verschiedenen Kategorien der französischen Lehrer sorgen.
Die Lehrer, die an den so genannten „Classes préparatoires„ unterrichten - wo Abiturienten in einer Art Inferno zwei Jahre lang auf die berühmten Aufnahmeprüfungen zu den verschiedenen Elitehochschulen des Landes getrimmt werden – sollten in Zukunft statt wöchentlich 8 Stunden 10 Stunden unterrichten, um im Gegenzug ihren Kollegen in den schwierigen und turbulenten „Collèges“ in Frankreichs Vorstädten ein wenig mehr Luft zu verschaffen. Die Lehrer in den „ Classes Préparatoires“ sind so etwas wie die Elite des französischen Lehrkörpers und verdienen für 8 Wochenstunden Unterricht im Schnitt 4‘800 Euro netto pro Monat - für französische Verhältnis ein stolzes Gehalt. Der Lehrer an einem der Collèges fängt mit 1‘900 Euro an und wird am Ende seiner Karriere etwas mehr als 3‘000 verdienen. Für einen Schüler in den „ Classes préparatoires“ gibt der französische Staat jährlich 15‘000 Euro aus, für einen im Collège nur knapp über 8‘000.
Kaum war das Vorhaben des Ministers bekannt geworden, erging sich Frankreichs Lehrerelite in schriller Empörung. 2 Stunden pro Woche mehr unterrichten - was für eine Zumutung, und sie tat so, als wäre diese Massnahme schlicht der Anfang vom Ende der französischen Elite. Sogar gestreikt und demonstriert wurde und man darf getrost die Hand dafür ins Feuer legen, dass der Erziehungsminister dem Druck dieser Gilde der privilegierten Lehrer irgendwann nachgeben wird.
Ihr schien es auch nicht mal sonderlich peinlich zu sein, dass ihr Aufschrei gegen die zwei zusätzlichen Unterrichtsstunden exakt an dem Tag erfolgte, als die PISA-Studie veröffentlicht wurde mit diesem für Frankreichs Schulsystem niederschmetternden, ja erniedrigenden Fazit: in keinem anderen OECD-Land bringt das Schulsystem derartig grosse Ungleichheiten hervor wie in Frankreich. Doch Frankreichs Elitepauker taten einfach so, als würde sie diese Feststellung rein gar nichts angehen.