Nach einem politischen Rechtsruck feiert Portugal den 50. Jahrestag seiner festlichen «Nelkenrevolution» von 1974, bei der aufständische junge Offiziere eine 48-jährige faschistische Diktatur stürzten. Nicht nur in Portugal keimte Hoffnung. Mit den Nelken kamen die Freiheit und riesige Sprünge nach vorn, der Fortschritt blieb aber hinter den Erwartungen zurück, und vielfach ist der Enthusiasmus von einst dem Frust gewichen.
Lissabon, ein Wortwechsel in einem Blumenladen, im April 2024: «Haben Sie rote Nelken?» – «Nur die, die Sie dort sehen», erwidert die Verkäuferin und zeigt auf eine halb leere Vase, «wir haben nicht so viele, manche Leute mögen keine roten Nelken, wegen der politischen Bedeutung.» Rote Nelken aus politischen Gründen aus Blumensträussen verbannt? So etwas hatte der Schreibende in seinen gut 40 Jahren Portugal noch nie gehört. Leute mögen die Nase gerümpft haben, wenn das Gespräch auf die turbulenten Zeiten unmittelbar nach der Revolution ohne Blutvergiessen vor 50 Jahren kam. Aber Vorbehalte gegen die Symbole der Freiheit? Ein neues Zeichen der Zeit?
Sag mir, wo die Nelken sind
Da kommt dem Schreibenden ein Lied in den Sinn, «Where have all the flowers gone?» von Pete Seeger, von dem Marlene Dietrich eine deutsche Version sang. Und er fragt sich, wieviele Parlamentsabgeordnete wohl bei den anstehenden Festlichkeiten zum 50. Jahrestag eine rote Nelke tragen werden. Vor wenigen Wochen wurde das Parlament neu gewählt. Unter den 230 Abgeordneten sind jetzt just – seltsamer Zufall – 50 VertreterInnen der rechtspopulistisch-xenophoben Partei Chega, die nach und nach Ideale von Diktator António Oliveira Salazar, Regierungschef der Jahre 1932–68, hervorkramt – Gott, Vaterland, Familie.
Gerade ist eine neue bürgerlich-konservative Minderheitsregierung – die ohne Unterstützung von Chega auskommen will – angetreten. Wäre nicht der Regierungswechsel gewesen, so würde sich im Land in diesen Wochen fast alles um den runden Jahrestag drehen. Portugal galt vor 50 Jahren als «Armenhaus Europas». Es verschwendete seine knappen Ressourcen für aussichtslose Kolonialkriege in Afrika, denn Salazar waren die Reste eines 500-jährigen Reiches wichtiger als das Wohlergehen seiner Landsleute, die in Scharen emigrierten. Junge Offiziere fühlten sich sinnlos verheizt und verschworen sich zum Sturz des Diktators, der sich am 25. April 1974 vollzog, unter begeisterter Anteilnahme der Bevölkerung.
Viele neue Bücher
Portugiesische Buchläden haben derzeit eigene Sektionen für Titel, die zum Jubiläum erscheinen, und da findet sich etwas für fast jeden Geschmack. Es gibt Rückblicke auf die Kolonialkriege in den Jahren 1961–74 wie auch auf Folter und Mord politischer Gegner durch die Geheimpolizei PIDE/DGS, auf den 25. April und die Frauen, nicht zu vergessen die Bücher über den Umsturz speziell für Kinder.
Bildbände dokumentieren die Belagerung des Lissabonner «Quartel do Carmo», Hauptquartier der Gendarmerie GNR, wo sich Regierungschef Marcello Caetano – Nachfolger von Salazar – in den Morgenstunden jenes 25. April verschanzt hatte. Das Kommando der Belagerung führte der nur 29 Jahre alte Hauptmann Fernando Salgueiro Maia. Fotos zeugen von der Freude über den Umsturz und Soldaten mit roten Nelken in den Läufen ihrer Gewehre. Mit diesen Gaben brachten Blumenverkäuferinnen die Nelken in die Geschichtsbücher.
Welches Datum ist wichtiger: 25. April oder 25. November?
Andere Bücher resümieren den turbulenten Neubeginn, bei dem Fraktionen des Militärs und die – ausser den Kommunisten allesamt jungen – Parteien über die richtigen Modelle für Demokratie und Sozialismus stritten. Linke Übergangsregierungen schworen das NATO-Land auf einen sozialistischen Kurs ein und lösten Panik aus in westlichen Hauptstädten. Gross war nicht zuletzt die Angst vor einem Domino-Effekt in Spanien, wo die Tage von Diktator Franco gezählt waren, und Italien. Solche Ängste legten sich am 25. November 1975, als ein ultralinker Umsturzversuch niedergeschlagen wurde und moderate Kräfte endgültig die Oberhand gewannen.
Für so manche Gemüter aus dem rechten Lager ist jener 25. November 1975 ebenso wichtig wie der 25. April 1974. Die neue Regierung hat die Gründung einer Kommission für Feiern zum 50. Jahrestag jenes 25. November angekündigt. Und manchen von ihnen ist beim Gedanken an den 25. April bis jetzt nicht zum Feiern zumute. So erschien auch ein Buch «Abril pelas Direitas», über April aus rechter Sicht, mit Beiträgen von rund 60 Personen, aus einem Spektrum, das vom neuerdings wieder regierenden bürgerlichen Partido Social Democrata (PSD) bis zur xenophoben Chega reicht. Und da erklingt unter anderem Lob auf Salazar wie auch die Klage über einen «Virus» aus der Revolutionszeit, der angeblich ansteckender und gefährlicher sei als die Viren von Aids und Covid. «April» mit seinen roten Nelken über den grünen Klee zu loben, gehört nicht mehr unbedingt zum guten Ton.
Hoffnung nach dem Putsch in Chile
Frisch erschienene Bücher erzählen derweil auch von den Portugiesen in Angola und Moçambique, die angesichts einer dort aufkommenden Unruhe überstürzt aufbrachen und nach Portugal – eine ihnen unbekannte Heimat – zurückkehrten, teils nur mit der Kleidung, die sie am Leibe hatten. Zur Wahl stehen im Handel natürlich auch Bilanzen – was wurde erreicht, was blieb auf der Strecke?
Dieser Umsturz nährte auch im Ausland neue Hoffnung. Linke in Westeuropa hatten erleben müssen, wie am 11. September 1973 die Regierung von Salvador Allende in Chile ihr brutales Ende fand. Sie ersehnten den Sturz von gleich drei Diktaturen in Südeuropa. In Spanien regierte seit 1939 «Caudillo» Francisco Franco, dessen Tod aber nur eine Frage der Zeit war, in Griechenland waren seit 1967 die «Obristen» am Ruder. In Portugal fiel die älteste der drei Diktaturen zuerst, und zwar durch die Hand junger Offiziere, viele von ihnen wenig über 30 Jahre alt.
Flower Power und Lieder
Der französische Chansonnier Georges Moustaki machte bald aus dem «Fado Tropical» des brasilianischen Protestsängers Chico Buarque eine französische Version. Er besang die Verfolgung in Spanien, die Folter in Chile, den Krieg in Vietnam – und die portugiesische Hoffnung: À ceux qui ne croient plus / Voir s’accomplir leur ideal / Dis leur qu’un œillet rouge / A fleuri au Portugal.
Der Umsturz selbst hatte mit Musik begonnen. Kurz nach Mitternacht in der Nacht zum 25. April ging das vom Regime verbotene Lied «Grândola vila morena» vom Liedermacher José Afonso über den katholischen Rundfunksender Rádio Renascença, als Geheimsignal für den Beginn des Aufstandes. Ein friedlicher Militärcoup in einem sonnigen Land, mit Musik, mit Blumen statt Blut – das klang fantastisch. Im Sommer 1975 strömten Leute aus Westeuropa – unter ihnen der Schreibende mit seiner damaligen Freundin, in einem VW-Käfer – scharenweise nach Portugal, um diese festliche Revolution zu schnuppern.
Die 3D-Revolution
Dies war die «3D»-Revolution, denn die Militärs hatten drei Ziele, die mit D begannen – democratizar, descolonizar (entkolonialisieren), desenvolver (das rückständige Land entwickeln). Unter den von Militärs geführten Übergangsregierungen, in denen auch Sozialisten und Kommunisten sassen, begann in der Südregion Alentejo mit ihren Latifundien eine Agrarreform unter dem Motto «das Land denen, die es bearbeiten». Im März 1975 wurden die in nationalem Besitz befindlichen Banken und grosse Industriebetriebe verstaatlicht. In ihrer ersten Version von 1976 postulierte die Verfassung – erarbeitet von einer frei gewählten Versammlung – den «Übergang zum Sozialismus».
Wie steht es um das erste D, die Demokratisierung? Es gibt freie Wahlen, ja. Aber gerade jetzt steht ein drückender Zweifel im Raum. Im letzten November erklärte der damalige Regierungschef, der Sozialist António Costa, seinen Rücktritt, als das Amt der Generalanwältin bekannt gab, dass gegen ihn im Zuge einer Affäre um mutmassliche Korruption ermittelt werde, wenngleich eher als Randfigur. Costa ist bis heute nicht einmal vernommen worden. Er gilt als möglicher künftiger Präsident des Rates der EU, nach der Wahl des EU-Parlamentes im Juni. Lässt jemand ihn bewusst schmoren, um ihm zu gegebener Zeit ein Bein zu stellen?
Längst abgeschlossen ist das zweite D, die Entkolonialisierung. Portugals letzte fünf Kolonien in Afrika sind seit 1974/5 unabhängig. 1999 erfolgte die Rückgabe von Macau – offiziell ein chinesisches Territorium unter portugiesischer Verwaltung und nicht eine Kolonie – an China. 2002 wurde schliesslich auch Osttimor nach 27 Jahren unter indonesischer Herrschaft unabhängig. Portugal, die letzten afrikanischen Kolonien, Osttimor und Brasilien sind Mitglieder der im Jahr 1996 gegründeten Gemeinschaft portugiesischsprachiger Staaten (CPLP).
Viel Fortschritt, aber immer noch viel Emigration
Mit dem dritten D, der Entwicklung, tat und tut sich Portugal bis heute am schwersten. Es lässt sich nicht mehr als «Armenhaus» abtun, obwohl der gesetzliche Mindestlohn 38 Jahre nach dem Beitritt zur heutigen EU immer noch nur 820 Euro beträgt und, gemessen am kaufkraftbereinigten BIP je Einwohner, mehrere «neue» EU-Länder mächtig aufgeholt oder Portugal mittlerweile gar hinter sich gelassen haben. Ein Grund zum Frust für alle diejenigen, die sich 1974 ein gerechteres Portugal gewünscht hatten, sind die starken Gegensätze bei der Einkommensverteilung.
Die Analfabetenquote ist derweil von weit über 20 Prozent in den 1970er Jahren auf 3 Prozent gefallen. Im Land gibt es fast 500’000 Studierende an Hochschulen, gegenüber rund 70’000 im Jahr 1974. In der Wissenschaft ist Portugal längst kein unbeschriebenes Blatt mehr. Portugal hat heute seine am besten qualifizierte Generation aller Zeiten, der es aber zu wenig Chancen bietet. Und so treibt es nicht nur unqualifizierte Frauen und Männer, sondern auch Ärztinnen und Ingenieure, Krankenpfleger und Architektinnen in die Emigration.
Was ist falsch gelaufen? Die im Jahr 1975 verstaatlichten Unternehmen sind grösstenteils seit Jahrzehnten wieder in privater Hand. Offiziell hat Portugal eine Marktwirtschaft, und doch geht der Klüngel wie in alten Zeiten – oft in Kombination mit Korruption – weiter. Und das ist wohl der Hauptgrund für die Wahlerfolge der Rechtspopulisten. Grund zur Sorge geben Indizien für eine Infiltration der Polizeikräfte durch Beamte mit rechtsextremen Sympathien.
Eine umstrittene Ehrung
Zum runden Jubiläum sind Rück- und Ausblicke angesagt – Bücher und Filme, Lieder, Ausstellungen, Diskussionsrunden, Konzerte, Interviews mit den noch lebenden Protagonisten von 1974/5. Einem dieser Protagonisten hat Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa auf umstrittene Art eine umstrittene Ehre erwiesen. Er verlieh im letzten Juli posthum und von der Öffentlichkeit unbemerkt einen Orden der Freiheit an General António de Spínola (1910–96), erster Staatspräsident nach dem Sturz der Diktatur, aber nur bis September 1974.
Anfang 1974 hatte Spínola («der Mann mit dem Monokel») als Vize-Generalstabschef der Streitkräfte das alte Regime erschüttert, als er im Buch «Portugal e o Futuro» für eine politische Lösung der Kolonialfrage eintrat. Als Präsident nach dem 25. April hegte er aber Vorbehalte gegen die – im Juli 1974 erfolgte – Gewährung des Selbstbestimmungsrechts für die Kolonien, und er sah zwei Monate später, als das Land immer weiter nach links rückte, keine Alternative zum Rücktritt. Am 11. März 1975 scheiterte er mit einem rechten Putschversuch – dies zu einer Zeit, als sich die rechtsextreme Terrororganisation MDLP (Movimento Democrático de Libertação de Portugal) mit Brand- und Bombenanschlägen gegen die Sitze linker Organisationen hervortat.
Nelken auch für den früheren Diktator, aber …
Ein MDLP-Aktivist war der jetzt 75-jährige Diogo Pacheco Amorim, der sich Chega anschloss. «Die Farbe unserer Herkunft ist weiss und unsere Rasse ist die kaukasianische», gab er vor gut zwei Jahren preis. Als Abgeordneter des Parlaments ist er einer der vier Vizepräsidenten des gerade neu gewählten Parlaments.
Je stärker die Faszination, mit der Menschen auf 1974 zurückblicken, und je stärker ihre Hoffnung auf einen neuen Aufbruch, um so grösser ist die Sorge, mit der sie in die Zukunft sehen. Rechte Kräfte wollen die Nelken derweil nicht ganz aus der Biodiversität verbannen, aber auf die Farbe kommt es an. Nelken sah der Schreibende vor Jahren immerhin am Grab von Diktator Salazar, in dessen Geburtsort Vimieiro, nahe Santa Comba Dão im nördlichen Distrikt Viseu. Aber diese Nelken waren weiss.