Am kommenden Montag, 18. März, beginnen die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket. Worum geht es in diesen Verhandlungen aus schweizerischer Sicht, und was macht diese so speziell?
Am Montag, 18. März 2024, werden Bundespräsidentin Viola Amherd und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket eröffnen. Zuvor hatte der Bundesrat am Freitag, 8. März, nach eingehenden Konsultationen von Kantonen, Parlament und Wirtschaftsverbänden das definitive Mandat der Schweiz für diese Verhandlungen verabschiedet. Die 27 EU-Mitgliedstaaten hiessen die von der Kommission vorgelegten Verhandlungsleitlinien am Dienstag, 12. März, ohne Diskussion gut.
Für die Schweiz verhandelt der Bundesrat. Er ist für die Aussenpolitik des Landes zuständig. Auf Seite der EU führt die Kommission, die Exekutive und Verwaltung der Europäischen Union, die Verhandlungen. Ihr obliegt die Ausarbeitung internationaler Verträge. Chefunterhändler der Schweiz ist Patric Franzen, stellvertretender Staatssekretär und Leiter der Abteilung Europa im Eidgenössischen Departement des Äusseren (EDA). Sein Gegenpart bei der EU ist Richard Szostak, Leiter der Abteilung «Westeuropäische Partner» im Generalsekretariat der Kommission.
Was ist das Ziel der Verhandlungen mit der EU?
Der Bundesrat will in den Verhandlungen mit der EU den seit über zwanzig Jahren meist erfolgreich begangenen, zuletzt aber holperig gewordenen bilateralen Weg stabilisieren und weiterentwickeln. Konkret geht es darum, den – zumindest teilweisen – hindernisfreien Zugang von Schweizer Unternehmen zum EU-Binnenmarkt zu sichern und mit neuen bilateralen Abkommen auszubauen. Der Binnenmarkt ist mit rund 450 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten der weltweit grösste grenzüberschreitende Markt, in dem überall die gleichen Regeln gelten. Der EU-Binnenmarkt ist so etwas wie der Heimmarkt der Schweizer Unternehmen.
Zudem will der Bundesrat die Wiederaufnahme der Schweiz in die Bildungs- und Forschungsprogramme der EU erreichen. Die EU hatte die Teilnahme der Schweiz an diesen Programmen nach dem einseitigen Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen durch den Bundesrat im Jahr 2021 sistiert. Das EU-Forschungsprogramm «Horizon Europe» ist mit einem Budget von insgesamt 95,5 Milliarden Euro für die Jahre 2021–2027 das grösste seiner Art auf der Welt.
Was ist der Inhalt des geplanten Vertragspakets?
Der Bundesrat und die EU-Kommission wollen ein Vertragspaket schnüren mit den folgenden Elementen:
- Neue bilaterale Abkommen zu den Themen Strom, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit.
- Regeln zur Übernahme von EU-Recht durch die Schweiz und zur Streitbeilegung bei bilateralen Abkommen, die der Schweiz den Zugang zum Binnenmarkt gewährleisten. Betroffene bilaterale Abkommen sind jene über die Personenfreizügigkeit, den Land- und Luftverkehr, die Anerkennung von Produkten, den Agrarhandel und neu auch den Strom. Es handelt sich hier um die sogenannten institutionellen Fragen.
- Regeln der Personenfreizügigkeit, insbesondere Sonderregelungen für die Schweiz im Bereich des Lohnschutzes für einheimische Arbeitskräfte und der Zuwanderung.
- Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen für Bildung und Forschung.
- Vorschriften zu Staatsbeihilfen in den Bereichen Verkehr und Strom.
- Regelmässige Kohäsionszahlungen der Schweiz zugunsten ärmerer EU-Mitgliedstaaten.
Was ist schon geregelt, was muss noch verhandelt werden?
In zahlreichen Sondierungsgesprächen, die den eigentlichen Verhandlungen seit März 2022 vorausgegangen sind, haben der Bundesrat und die EU-Kommission ihre jeweiligen Verhandlungsanliegen detailliert erläutert und sogenannte Landungszonen definiert, innerhalb derer eine Lösung offener Verhandlungsfragen möglich sein könnte. Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche sind in einem Dokument schriftlich festgehalten – der sogenannten Gemeinsamen Verständigung. (Sie findet sich unter https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/das-eda/aktuell/newsuebersicht/202….) In den Verhandlungen müssen Bundesrat und EU-Kommission nun die in diesem Dokument umschriebenen Lösungsansätze für noch offene Fragen konkretisieren. Nachstehend das Wichtigste dessen, was in den Sondierungsgesprächen schon erreicht worden ist und was in den Verhandlungen noch geregelt werden muss:
- Strom: Mit dem Abschluss eines Stromabkommens strebt der Bundesrat die Teilnahme der Schweiz am Strombinnenmarkt der EU an. Dies, um den Stromhandel zwischen der Schweiz und der EU zu fördern und die Versorgungssicherheit und die Netzstabilität in der Schweiz zu gewährleisten. Der Bundesrat ist einverstanden mit der von der EU-Kommission geforderten Öffnung des schweizerischen Strommarktes. Dabei will er garantiert haben, dass die kleinen Endverbraucher wie Haushalte und KMU unter einer bestimmten Verbrauchsschwelle in der regulierten Grundversorgung mit regulierten Preisen verbleiben oder in diese zurückkehren können (sogenanntes Wahlmodell). Zudem will der Bundesrat die wichtigsten bestehenden staatlichen Beihilfen beibehalten können, namentlich im Bereich der Produktion von erneuerbarem Strom.
- Lebensmittelsicherheit: Der Bundesrat strebt eine Ausweitung des Geltungsbereichs des Abkommens über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen auf die gesamte Lebensmittelkette an. Die Ausweitung zielt darauf ab, den Verbraucherschutz zu stärken und den Marktzugang durch einen umfassenden Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse zu verbessern. Eine Harmonisierung der Agrarpolitiken der Schweiz und der EU soll gemäss gemeinsamem Verständnis der Verhandlungspartner ausgeschlossen bleiben. Der Bundesrat will zudem, dass die Schweiz ihre Zolltarife und -kontingente beibehalten kann. Mittels Ausnahmen will er weiter eine Senkung der in der Schweiz geltenden Standards verhindern, insbesondere beim Tierschutz und bei den neuen Technologien in der Lebensmittelproduktion.
- Gesundheit: Das neue bilaterale Abkommen sieht die Beteiligung der Schweiz an den relevanten Mechanismen und Netzwerken der EU im Bereich der Gesundheitssicherheit vor. Mitmachen will der Bundesrat dabei etwa am Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten.
- Bildungs- und Forschungsprogramme: Der Bundesrat strebt eine systematische Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen für die Zukunft an, namentlich in den Bereichen Forschung und Innovation, allgemeine und berufliche Bildung, Jugend, Sport und Kultur. Im Vordergrund stehen die EU-Programme Horizon 2021–2027 (Forschung) und Erasmus+ 2021–2027 (Bildung, Studierendenaustausch).
- Streitbeilegung: Gemäss gemeinsamem Verständnis der Verhandlungspartner suchen die Schweiz und die EU im Streitfall zunächst eine politische Lösung in einem Gemischten Ausschuss. Lässt sich so keine Einigung erzielen, kann jede Vertragspartei den Streit einem paritätischen Schiedsgericht unterbreiten. Wird sich dieses über die Anwendung oder Auslegung von EU-Recht nicht einig, zieht es den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bei. Dieser nimmt eine verbindliche Beurteilung des strittigen Sachverhalts vor. Danach entscheidet das Schiedsgericht abschliessend.
- Rechtsübernahme: Mit der dynamischen Übernahme von EU-Recht in den bestehenden und zukünftigen Binnenmarktabkommen in schweizerisches Recht ist der Bundesrat einverstanden. Er will aber an der Aushandlung und Weiterentwicklung des die Schweiz betreffenden EU-Rechts teilnehmen können (sogenanntes «decision shaping»). Entscheidet sich die Schweiz (d. h. der Bundesrat, das Parlament oder das Volk) einmal gegen die Übernahme von Recht der EU, kann diese Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Dabei will der Bundesrat erreichen, dass solche Massnahmen erst in Kraft treten, wenn das Schiedsgericht über deren Verhältnismässigkeit entschieden hat.
- Personenfreizügigkeit/Zuwanderung: Der Bundesrat ist einverstanden mit der Angleichung des schweizerischen Rechts an das in diesem Bereich geltende Recht der EU. Er verfolgt dabei aber das Ziel, die Zuwanderung von einer Erwerbstätigkeit in der Schweiz abhängig zu machen, um die Folgen für das schweizerische Sozialsystem zu begrenzen und Missbräuche zu bekämpfen. Der Bundesrat ist zudem bestrebt, die Mechanismen des Personenfreizügigkeitsabkommens aus den Bilateralen I zur Bewältigung unerwarteter Auswirkungen zu konkretisieren. Das heisst wohl, dass er auf eine Schutzklausel drängen will, die im Falle anhaltend hoher Zuwanderung aus der EU aktiviert werden könnte.
- Personenfreizügigkeit/Lohnschutz: Der Bundesrat ist bereit, das in diesem Bereich geltende EU-Recht in schweizerisches Recht zu übernehmen. Er will aber den Lohnschutz in der Schweiz auf dem aktuellen Niveau erhalten können, um schweizerische Unternehmen nicht einem unlauteren Wettbewerb durch aus der EU entsandte Arbeitskräfte auszusetzen. Bei der Spesenregelung für entsandte EU-Personen will er eine Lösung erreichen, die unter Berücksichtigung des Preisniveaus in der Schweiz eine Rechtsgleichheit gewährleistet. Bei der Kaution, die EU-Unternehmen hinterlegen müssen, die in der Schweiz arbeiten lassen, will er eine Regelung, die eine vergleichbare Wirkung wie mit dem derzeitigen Kautionssystem erzielt.
- Landverkehr: Der Bundesrat ist einverstanden, dass der internationale Schienenpersonenverkehr geöffnet wird. Dabei soll sich aber die Qualität des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz nicht verschlechtern. Der Bundesrat will, dass die Tarifintegration und der Taktfahrplan garantiert bleiben. Die Zuständigkeit für die Vergabe von Trassen in der Schweiz will er beibehalten. Das Kooperationsmodell im internationalen Schienenpersonenverkehr will der Bundesrat aufrechterhalten können.
- Kohäsionszahlungen: Der Bundesrat gibt grünes Licht dafür, dass ein rechtsverbindlicher Mechanismus für einen regelmässigen Kohäsionsbeitrag der Schweiz an ausgewählte, vor allem ärmere EU-Mitgliedstaaten geschaffen wird. Die Höhe dieses Beitrags muss in den Verhandlungen noch festgelegt werden. Schon jetzt bezahlte die Schweiz einen Kohäsionsbeitrag an die EU. Dieser betrug zuletzt 1,3 Milliarden Franken, verteilt auf zehn Jahre – also 130 Millionen Franken pro Jahr. Es ist davon auszugehen, dass der neue Kohäsionsbeitrag deutlich höher ausfallen wird. In schweizerischen Medien wird geschätzt, dass dieser Beitrag in Zukunft 400 Millionen Franken pro Jahr betragen könnte.
Wie lange werden die Verhandlungen mit der EU dauern?
Einen genauen Zeitrahmen für die Verhandlungen mit der EU nannte Aussenminister Ignazio Cassis anlässlich der Verabschiedung des Verhandlungsmandats durch den Bundesrat nicht. Man hoffe, dass man die Verhandlungen noch 2024 abschliessen könne und eine Einigung finde, sagte er. Das sei aber nur eine Hoffnung, kein Ziel. Der für die Schweiz zuständige EU-Kommissar Maroš Šefčovič sagte bei der Genehmigung des Verhandlungsmandats der EU, die Kommission wolle rasch vorwärtsmachen. Der Grund: Die jetzige EU-Kommission ist nur noch bis im Herbst 2024 im Amt.
Was ist das Besondere an diesen Verhandlungen?
Speziell an diesen Verhandlungen ist, dass sie sozusagen mit offenen Karten geführt werden. Sowohl der Bundesrat wie die EU-Kommission haben nämlich ihre jeweiligen Verhandlungsmandate im Internet veröffentlicht. (Das Mandat des Bundesrats findet sich unter https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/das-eda/aktuell/newsuebersicht/2023/europa.html, dasjenige der EU-Kommission unter https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-7031-2024-ADD-1/de/pdf.) Damit kann die Bevölkerung der beiden Parteien im Detail sehen, was diese in den Verhandlungen erreichen wollen. Dieser Schritt wurde gemacht, um Vertrauen in den Verhandlungsprozess zu schaffen und Falschinformationen vor allem von Gegnern der Verhandlungen einen Riegel zu schieben. Für den Bundesrat ist die Veröffentlichung eines Verhandlungsmandats ein Novum, die EU-Kommission hat dies schon mehrfach gemacht – so etwa bei den Brexit-Verhandlungen mit Grossbritannien.