Das Coronavirus macht auch um Portugal keinen Bogen, und da kursiert unter Nutzern der sozialen Netzwerke ein politischer gefärbter Tipp für die persönliche Hygiene: «Wasch dir die Hände so, als ob du André Ventura die Hand geschüttelt hättest.» André Ventura ist ein 37-jähriger Jurist, der seit Oktober dem Landesparlament als einziger Abgeordneter der jungen Partei «Chega» («Es reicht») angehört. Er widerlegt die verbreitete Vorstellung, dass Portugal gegen den Rechtspopulismus immun sei.
Portugal biete Rechtspopulisten keinen Boden, fanden lange Zeit manche Analytiker. Ein separatistisches Gezerre wie in Spanien ist dem Land mit gut 10 Millionen Einwohnern tatsächlich ebenso erspart geblieben wie terroristische Anschläge, die anderswo Rufe nach radikalen Lösungen nähren. Auch liegt Portugal abseits der Flüchtlingsrouten. Ende 2018 lag der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung ohnehin nur bei knapp 5 Prozent. Nicht zuletzt die faschistoide Diktatur der Jahre 1926–1974 habe Antikörper gegen rechtsextreme Kräfte geschaffen, war oft zu hören.
Für lebenslange Haft und chemische Kastration
Noch vor einem Jahr gab es in der EU fünf Länder ohne Rechtspopulisten in den nationalen Parlamenten. Im letzten April «fiel» Spanien, wo die rechtsextreme Gruppe Vox ins Parlament einzog. Im Oktober folgte Portugal, womit die Gruppe der Länder ohne solche Kräfte auf Irland, Luxemburg und Malta schrumpfte. In Portugal erhielt Chega damals rund 68’000 Stimmen, was einem Anteil von 1,3 Prozent entsprach. «Ich versichere euch, in acht Jahren werden wir Portugals grösste Partei sein», fantasierte Ventura damals. Wenn jetzt Wahlen wären, käme Chega laut den Ergebnissen einer neuen Umfrage schon auf 8,6 Prozent.
Ventura war dem breiten Publikum bis zum letzten Jahr vor allem als Kommentator eines Kabel-TV-Senders für den Fussball bekannt. Für politische Einwürfe dienten ihm Plakate mit griffigen Slogans. Mit verschränkten Armen und entschlossenem Blick verkündete er, dass 100 Abgeordnete (jetzt sind es 230) «mehr als genug» seien. Er rief aber auch nach Härte gegen Korruption und Gewaltdelikte. In dem Land, in dem keine Freiheitsstrafe länger als 25 Jahre dauern darf, will er die lebenslange Haft für «Monster» erlauben. In einem Interview gab er sich grundsätzlich als Gegner der Todesstrafe, die Portugal schon 1867 abschaffte; er gestand aber auch, dass ihn ihre Einführung nicht schocken würde. Nachdrücklich fordert er die chemische Kastration pädosexueller Straftäter.
Unverdächtige Herkunft
Ventura entstammt dabei einer absolut salonfähigen Partei, nämlich dem bürgerlichen Partido Social Democrata (PSD), der zuletzt von 2011 bis 2015 den Regierungschef gestellt hatte. Als PSD-Mann hatte er bei der Lokalwahl von 2017 für das Amt des Bürgermeisters im Lissabonner Vorort Loures kandidiert. Er geisselte damals eine aus seiner Sicht zu starke Toleranz mit Angehörigen einiger ethnischer Minderheiten. Er meinte die Roma, die – wie er sagte – fast ausschliesslich von staatlichen Zuschüssen lebten.
Aber auch Menschen aus Afrika – gegenüber denen sich Portugal zur Toleranz verpflichtet fühlt, kommen sie doch grösstenteils aus früheren Kolonien des Landes – sind vor seinen Ausfällen nicht sicher. Ein Mandat im Parlament errang im Oktober etwa die schwarze Feministin Joacine Katar Moreira, die in Guinea-Bissau zur Welt kam, aber seit ihrer Kindheit in Portugal lebt und die doppelte Staatsangehörigkeit besitzt. Sie schlug vor einigen Wochen eine Diskussion über die Rückgabe von Kunstwerken aus Afrika an die Herkunftsländer vor. Ventura fand, die Abgeordnete selbst solle in ihr Herkunftsland zurückgeschafft werden.
Ventura ist aber ein smarter Rechter, der ohne die Berufung auf historische «Vorbilder», ohne Kruzifixe und, meistens jedenfalls, ohne Anhänger mit ausgestreckten rechten Armen auskommt. Er gibt sich in erster Linie als Saubermann, der sich die Sorgen der kleinen Leute zu eigen macht, und zeigt erst danach seine xenophoben Züge. Ventura nutzt geschickt seine nur kurzen Redezeiten im Parlament. Wo sich andere Politiker in endlosem Geschwafel verlieren, bringt er – ohne mit Fakten pingelig zu sein – seine Botschaften knackig auf den Punkt. Sie finden in den sozialen Netzwerken dann eins zu eins ihr Echo.
Eine grosse Stunde hatte der Rechtspopulist im letzten November bei einer Grossdemonstration von Angehörigen der Polizeikräfte. Sie folgten einem Aufruf ihrer Berufsverbände zu Protesten gegen bekanntermassen prekäre Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung. Zahlreiche Demonstranten trugen T-Shirts eines «Movimento Zero» von Angehörigen der Polizei, die der Infiltration durch Rechtsextremisten verdächtigt wird. Er schlüpfte selbst in ein solches T-Shirt, sprach zu den Demonstranten – im Versuch, diese für sich zu vereinnahmen – und fand wohl auch Sympathie bei manchen Bürgern, die nach Recht und Ordnung rufen.
Konservativ und ultraliberal
Im Parlament wurde er von dessen Präsidenten unterdessen einmal dazu ermahnt, weniger oft das Wort «vergonha» (Schande) zu gebrauchen. Er etikettiert damit praktisch alle Unzulänglichkeiten im staatlichen Sektor, wie etwa lange Wartezeiten im staatlichen Gesundheitswesen –, das es laut dem Programm von Chega gar nicht geben sollte. Chega definiert sich darin nämlich als «liberale und konservative Partei». Zu den Aufgaben des Staates gehört es laut dem Programm ausdrücklich nicht, Dienstleistungen im Bereich der Bildung, Gesundheit oder Transporte zu erbringen. Nur dürften viele von Venturas potenziellen Wählern dieses Programm nicht gelesen haben.
Wie sich Ventura politisch so radikalisiert hat, vermag der Jurist wohl nur selbst zu erklären. Im Jahr 2013 promovierte er mit einer Doktorarbeit, in der er sich mit der Anti-Terror-Politik nach den Attentaten vom 11. September 2001 befasste. Kurioserweise äusserte er sich kritisch über die Ausweitung polizeilicher Vollmachten, über einen strafrechtlichen Populismus und über die Stigmatisierung von Minderheiten.
Als Chance für einen ganz grossen Auftritt sieht Ventura die nächste Direktwahl des Staatspräsidenten im Januar 2021. Es gilt als sicher, dass der jetzige Präsident, Marcelo Rebelo de Sousa, mit hoher Mehrheit im Amt bestätigt wird, sofern er sich – wie allgemein erwartet wird – wieder zur Wahl stellt. Ventura will ebenfalls kandidieren – nutzt jetzt schon die Coronavirus-Krise, um den schlicht als «Marcelo» bekannten Präsidenten anzugreifen. Anfang März begab sich der Präsident in Quarantäne, weil ein Schüler aus einer Klasse, zu der er Kontakt gehabt hatte, positiv auf das Virus getestet worden war. «Ein echter Präsident versteckt sich nicht», verkündeten prompt Plakate von Venturas Partei, die somit auch die hohe Politik mit dem Virus «angesteckt» hat.