Umso mehr aber herrscht in diesem Land die Angst vor der Zukunft. Eine gross angelegte Meinungsumfrage für die Tageszeitung „Le Monde“ hat das in diesen Tagen sehr eindringlich belegt.
Gewiss, es ist nicht neu. Seit einem Jahrzehnt diagnostizieren die Soziologen in der französischen Bevölkerung bereits ein überdurchschnittliches Mass an Pessimismus und Zukunftsangst. Die Franzosen scheinen vom Niedergang ihres Landes überzeugt. Doch so verzagt, so misstrauisch und verängstigt, ja verbiestert, wie in dieser jüngsten Untersuchung, haben sich die Bewohner des Hexagons bislang noch nie gezeigt.
Angst vor dem Rest der Welt
„Frankreich 2013 - die neuen Brüche in der Gesellschaft“ heisst die Studie, und sie unterstreicht eines ganz klar: Die Tendenz der Franzosen, sich einzuigeln und sich immer stärker in die eigenen vier Wände zurückzuziehen, steigt eindeutig an, angesichts der Überzeugung von zwei Dritteln (bei Anhängern der Nationalen Front – FN - sogar 77 %), dass der Niedergang Frankreichs unausweichlich sei – sowohl auf wirtschaftlichem, als auch auf kulturellem Terrain.
60 % sind überzeugt, dass die Globalisierung für Frankreich eine Bedrohung darstellt und dass sich das Land heute stärker vor der Welt schützen müsse. 67 % plädieren dafür, dass Frankreich innerhalb Europas mehr Entscheidungsgewalt haben müsse, auch wenn dies auf Kosten der europäischen Machtbefugnisse geht.
Bonjour Tristesse
Es ist eine Studie, die ein extrem düsteres Bild von den Franzosen zeichnet, von einer Gesellschaft, in der überhaupt nur noch einer von fünf dem anderen vertraut!
Eine Gesellschaft, in der Misstrauen zur offen Ablehnung geworden ist, Beunruhigung sich in Angst verwandelt hat und in der man sich nicht mehr nur auf sich selbst zurückzieht, sondern anderes und andere offen zurückweist. Was bisher Ressentiments waren, sagt der Politologe Pascale Perinneau, schlägt um in offene Feindseligkeit. Die Verkrampfungen in der Gesellschaft, was den Ruf nach Autorität und was die eigene Identität angeht, so der Politologe, sind nicht mehr wegzudiskutieren.
Ruf nach dem starken Mann
Der Ruf nach Autorität schlägt sich in dieser Untersuchung in einer geradezu beängstigenden Zahl nieder. 87 % der befragten Franzosen zeigen sich einverstanden mit dem Satz: „Man braucht in Frankreich einen echten Chef, um für Ordnung zu sorgen.“ Auf eine brutale Frage, so kommentiert Le Monde lakonisch, gab es eine brutale Antwort.
Angesichts dessen ist es fast überflüssig zu erwähnen, dass 82 % der Meinung sind, die derzeitigen Politiker würden in erster Linie aus Eigeninteresse agieren, 62 % eben diese Politiker für korrupt halten und über 70 % der Ansicht sind, dass das demokratische System in Frankreich eher schlecht funktioniert.
Fixiert auf den Islam
Erstaunlich auch das Ergebnis, was die Sorgen der Franzosen um ihre Identität angeht. Schon fast klassisch ist das Resultat, dass 70 % der Franzosen der Meinung sind, es gäbe zu viele Ausländer im Land, und dass über 60 % sagen, man fühle sich im eigenen Land nicht mehr zu Hause wie früher.
Neu ist, dass inzwischen offensichtlich der Muslim, den man gerne gleichstellt mit einem Integristen, als Feindbild dem ausländischen Arbeiter, der den Franzosen die Arbeit wegnimmt, den Rang abgelaufen hat. 74 % der Franzosen erachten mittlerweile den Islam als intolerant und inkompatibel mit der französischen Gesellschaft. Immerhin sind ein knappes Zehntel der Franzosen Muslime.
Eine Rechte ohne Tabus
Die Untersuchung zeigt in aller Deutlichkeit auch, was sich schon während des letzten Präsidentschaftswahlkampfs und jüngst bei den internen Wahlen der konservativen UMP um den Parteivorsitz angekündigt hatte: Die ideologischen Grenzen zwischen der traditionellen und der extremen Rechten Frankreichs verschwimmen zusehends. Die Konvergenz der Ansichten zwischen Wählern der UMP und denen der Nationalen Front wird immer stärker.
Nur zwei Beispiele: 83 % der UMP-Wähler und 99 % der Wähler der Nationalen Front finden, es gebe in Frankreich zu viele Ausländer. Und noch deutlicher: 98 % der Anhänger der UMP und 97 % derjenigen der Nationalen Front können dem Satz zustimmen: „Frankreich braucht einen echten Chef, um wieder für Ordnung zu sorgen.“
„Sämtliche Ingredienzen des Populismus“, sagt der Historiker Michel Winock, „sind präsent, und zwar weit über den Wählerkreis der rechtsextremen Nationalen Front hinaus. Mit dieser rüden Realität müssen sich die republikanischen Parteien, ob links oder rechts, auseinandersetzen. Gleichzeitig mag der Rechtsruck der konservativen UMP darin seine Rechtfertigung finden, allerdings mit dem Risiko, dass sich in Zukunft die Konfrontation zwischen den zwei Frankreichs noch weiter verschärft.“
Es wurde gezündelt
Selbstverständlich gibt es mehrere Gründe für diese in der Studie vielfach belegte Zerrüttung des gesellschaftlichen Klimas in Frankreich. Natürlich sind sie sozialer und ökonomischer Natur – zweiundzwanzig Monate nacheinander ist die Zahl der Arbeitslosen jetzt gestiegen, im Jahr 2012 sind es fast täglich 1000 mehr geworden.
Und doch, so scheint es, ist auch die Politik in den fünf Jahren unter Präsident Sarkozy an diesem Zustand nicht ganz unschuldig. Jahrelang hat dieser Präsident bei jeder Gelegenheit die einen gegen die anderen aufgehetzt, mit dem Finger anklagend auf die eine oder andere Gruppe der französischen Bevölkerung gezeigt und sie für dieses oder jenes Übel verantwortlich gemacht - zuletzt die Gewerkschaften, früher schon die Arbeitslosen, immer und immer wieder die angeblichen Sozialschmarotzer, gelegentlich sogar die Richter oder die Wissenschaftler und Forscher des Landes, öfters die Medien und natürlich und quasi permanent die Ausländer.
Polarisieren war Sarkozys Alltagsgeschäft, seine zweite Natur. Fünf Jahre sind eine lange Zeit, um Gedanken und Attitüden hoffähig zu machen, die zu den beunruhigenden Ergebnissen der jetzt veröffentlichten Studie führen.
Der ehemalige Präsident, der heutzutage um die Welt reist, um für Nichtssagendes von obskuren Banken, Stiftungen und Verbänden sechsstellige Euro-Beträge zu kassieren, kann kaum abstreiten, dass er am Zustand der französischen Gesellschaft, wie ihn die in Le Monde veröffentlichte Studie zeigt, ein gehöriges Stück Mitverantwortung trägt.
Man könnte, wollte man böse sein, sogar sagen, Nicolas Sarkozy habe sich fünf Jahre lang als zynischer Brandstifter betätigt oder zumindest die ohnehin vorhandenen Spannungen in der französischen Gesellschaft gehörig angeheizt.