Peter Haffner sprach mit dem polnisch-britischen Soziologen im Februar 2014 und im April 2016 in seinem Haus im englischen Leeds. Er ist nicht nur gut über seinen Gesprächspartner informiert, er ist, wie sein Gegenüber, ein eigenständiger Denker.
Vom Versuch, das Leben zu gestalten
Die Themenvielfalt könnte vielfältiger kaum sein. Unter anderem tauschen sich die beiden über Liebe und Geschlecht, Judentum und Ambivalenz, Macht und Identität sowie Religion und Fundamentalismus aus. „Zygmunt Bauman redete über das Leben, die Versuche, es zu gestalten, die das Schicksal immer wieder vereitelt, und das Bestreben, dabei ein Mensch zu bleiben, der sich selber in die Augen sehen kann“, schreibt Peter Haffner im Vorwort.
Ob seine militärischen Erfahrungen als junger Mann, besonders bei der Befreiung Polens, einen Einfluss auf seine frühesten Ideen, als er Professor für Soziologie in Warschau wurde, gehabt hätten, fragt Peter Haffner. „Sie mussten wohl Einfluss haben, oder nicht?“ antwortet Bauman und erzählt dann unter anderem vom Versuch Stanislaw Lems, „die Liste von Zufällen aufzustellen, die zur Geburt Stanislaw Lems führten, um dann die Wahrscheinlichkeit dieser Geburt zu kalkulieren. Er fand heraus, dass, wissenschaftlich gesprochen, seine Existenz nahezu unmöglich ist. Deshalb ist ein Wort der Warnung angebracht: Retrospektiv Ursachen und Motive von Entscheidungen zu rekonstruieren, birgt die Gefahr, einem Fluss Struktur und Logik, ja sogar Vorherbestimmung zuzuschreiben; etwas, was in Wahrheit eine Serie von faits accomplis war, über die man sich kaum, wenn überhaupt, Gedanken gemacht hatte, zu der Zeit, als sie passierte.“
Barbarei und Moderne
Die gängige Auffassung, dass das nationalsozialistische Projekt ein Rückfall in die Barbarei, eine Rebellion gegen die Moderne gewesen sei, hält Bauman für ein Missverständnis. Es sei ja gerade die Ambition der Moderne, die Welt unter eigenes Management zu nehmen. „Wir sind am Ruder, nicht die Natur, nicht Gott. Gott hat die Welt erschaffen. Aber da er jetzt abwesend oder tot ist, managen wir sie selber, machen alles neu.“ Genau das hätten die Nationalsozialisten und die Kommunisten getan. Dazu komme, dass die fortschreitende Technologisierung menschliche Kontakte möglichst vermeide, ja, zunehmend überflüssig mache. „Die Folge ist, dass unser Handeln mehr und mehr von den Skrupeln befreit wird, die man unweigerlich hat, wenn man jemandem persönlich gegenübersteht.“
Bauman hält es jedoch für falsch zu fragen, ob man moralisch handeln soll, denn in moralischen Fragen gebe es kein Müssen. „Nur wenn sie nicht kalkuliert, sondern spontan und gedankenlos ist, ein Akt der Menschlichkeit, ist eine Handlung moralisch.“
Kafkas Aktualität
Franz Kafka, Sigmund Freud, Georg Simmel, Antonio Gramsci und Claude Lévy-Strauss gehören zu den Denkern, von denen Zygmunt Bauman sagt, sie hätten ihn beeinflusst. Freud hielt er für „absolut revolutionär“, genau so wie Kafka, was er an „Der Prozess“ erläutert, worin die Unschuldsvermutung, das Grundprinzip des rechtsstaatlichen Strafverfahrens, auf den Kopf gestellt wird: „Weil Unschuldige nicht angeklagt werden, muss schuldig sein, wer angeklagt ist.“
Von höchster Aktualität ist auch Kafkas „Das Schloss“. K, der Held des Romans, geht davon aus, dass die Beamten im Schloss rationale Menschen sind. Er kennt sie zwar nicht, auch ist alles mysteriös und undurchschaubar, doch er selber ist ein rationaler Mensch und nimmt an, die anderen seien auch so. „Doch das trifft nicht zu, und das ist sein schwerer Irrtum. Denn die Macht der Schlossbewohner besteht gerade darin, dass sie sich irrational verhalten. Würden sie sich rational verhalten, könnte man mit ihnen verhandeln, sie möglicherweise überzeugen oder gegen sie kämpfen und vielleicht gewinnen. Aber wenn sie irrationale Wesen sind, wenn ihre Macht in der Irrationalität besteht, ist es unmöglich, dass man das schafft.“
Zygmunt Bauman: Das Vertraute unvertraut machen. Ein Gespräch mit Peter Haffner, Hoffmann und Campe, Hamburg 2017