Die Einbau-Küche ist ein Pflasterstein auf dem Weg zu einer Standardisierung, die auch die Designs anderer Lebensbereiche vom Auto über das Mobiltelefon bis zur Zahnarztpraxis erfasst hat.
Formen, das wird gerade von Designern immer wieder betont, haben eine „Sprache“. Sie drücken nicht nur Gebrauchszwecke aus, sondern vermitteln auch Lebensgefühle. Je positiver das Lebensgefühl, das mit bestimmten Formen verbunden wird, desto besser für die Werbung und für den Verkauf.
Begleitet wurde der Prozess der Standardisierung seit jeher von Klagen über die Uniformierung und damit der Eliminierung von anderen Formen, die irgendwann auf zu wenig kaufkräftige Nachfrage stiessen. Dabei wird übersehen, dass ein ganz wichtiger Akteur von der Bildfläche verschwunden ist: der Spiessbürger. Von ihm war mal viel die Rede, jetzt aber fällt er als Objekt der Polemik aus.
Satt und sebstzufrieden
Der Begriff des Spiessers wurde von Minderheiten gebraucht, die sich selbst polemisch und subjektiv positionierten. Ein Sammelbegriff dafür war „die Bohème“. Darunter wurden zahlreiche künstlerische Richtungen wie der Sezessionismus in der Wiener Moderne, parallel dazu der Impressionismus, Expressionismus, später der Dadaismus und nicht zu vergessen: der Existenzialismus verstanden.
Alle diese Richtungen siedelten sich am Rande der bürgerlichen Gesellschaft an, blieben also mit ihr verbunden, wenn auch in polemischer Absicht. Ihr Vorwurf an das Bürgertum, im spiessigen Sinne „bürgerlich“ zu sein, zielte auf das „falsche Leben“, wie Theodor W. Adorno und seine „Frankfurter Schule“ das später so eloquent zur Sprache bringen und damit alle Aufmerksamkeit des akademischen Publikums, des Buchhandels und der sich rasant ausbreitenden „Massenmedien“ gewinnen sollten.
Der Spiesser: Das war derjenige, der sich satt und selbstzufrieden nicht nur in seiner Welt einrichtete, sondern seine Grenzen mit denen des Universums gleich setzte. Der Spiesser war allzu glatt, allzu naiv und wenn er gebildet war, dann hatte diese Bildung in ihm keine ernsthaften Fragen hinterlassen. Aus der Sicht der künstlerischen und intellektuellen Opposition verkörperte der Spiesser eine defizitäre Lebensform, weil ihm seine eigene Lebensform als zu selbstverständlich erschien.
Verräterische Sprache
Diese defizitäre Lebensform hatte ihre eignen Formensprache. Übertriebene Betonung der Harmonie in der bildenden Kunst und der Musik, überhaupt das Überladene der Wohnungen mit „Nippes“, Blümchenmuster an den Tapeten und dergleichen mehr. Der Spiesser hatte sein Signalement, das ihn umgab und ihn ebenso entlarvte wie ein beschränkter und zudem noch falsch verwendeter Wortschatz.
Deswegen war die Polemik gegen das Spiessertum ebenso einfach wie wirkungsvoll. Die ästhetischen Formen boten ein klares Unterscheidungsmerkmal zwischen beschränkter Bürgerlichkeit und denjenigen, die nach neuen Ufern Ausschau hielten. Der Imperativ: „Du musst Dein Leben ändern!“, wie ihn kürzlich Peter Sloterdijk in einem philosophischen Bestseller eingehend zitiert und dargestellt hat, verlangt eben auch den Abschied von allen Formen, die bloss die Opulenz betonen und vom Kern des „authentischen“ Lebens wegführen.
Die „Neue Sachlichkeit“ der Einbauküche war ein erster Schritt – aber in eine unerwartete andere Richtung. Sie machte den bürgerlichen Alltag nicht authentischer, bloss effizienter. Und auf ihre Weise vernichtete sie Lebensformen, die sich am Rande der Bürgerlichkeit eingerichtet hatten. Meistens ging das stumm und unbemerkt vor sich, aber manchmal wird davon erzählt. So erlebte der Schweizer Schriftsteller Niklaus Meienberg, dass seine bescheidene Wohnung in Paris eines Tages „saniert“ wurde, weil eben eine Wohnung ohne Einbauküche und mit Aussentoilette nicht mehr akzeptabel war. Nach der Sanierung konnte er sie sich nicht mehr leisten.
Kompliziertere Welt, einfachere Erklärungen
Der Übergang zur Omnipräsenz und unangefochtenen Dominanz des heutigen Designs verlief zunächst holprig und bot der Satire bis in die 70er Jahre hinein Angriffsflächen. So konnte sich Jacques Tati in seinem Film „Trafic“ deswegen über den Autokult lustig machen, weil die Formen noch nicht perfekt, die Produktion noch fehleranfällig und die Gesellschaft noch nicht völlig vom Auto dominiert war. Eine solche Satire würde heute nicht mehr gelingen. Zu universell sind das abgeschliffene industrielle Design und die damit verbundenen Lebensformen. 1976 hat Hans Magnus Enzensberger im Kursbuch Nr. 45, „Wir Kleinbürger“, den Trend zur Universalität des eigentlich biederen Geschmacks aufs Korn genommen.
Die moderne Designsprache duldet keinen Widerspruch, nur noch Varianten. Und weil unser Leben aufgrund der Technisierung immer komplizierter wird, müssen die Erklärungen immer einfacher werden. Die bisherige Krönung dafür ist das Icon. Diese künstliche Symbolsprache wird von Kindern intuitiv verstanden und umstandslos angewendet, während die Älteren noch etwas mehr Mühe haben. Aber der Trend ist eindeutig.
Audi-Fahrer: ein Spiesser?
Universalität der Formensprache und Einfachheit der Erklärungen machen es gar nicht mehr möglich, Spiesser zu identifizieren. Alles Doppelbödige, das nur durch differenzierte Sprache und differenziertes Denken erfassbar wäre, verschwindet in der Eindimensionalität. Wer anderes sieht oder ausdrückt, setzt sich dem Verdacht der Querulanz aus.
Ist ein Audi-Fahrer ein Spiesser? Ist eine Lebensversicherung spiessig? Und eine Kreuzfahrt? Weil es keine prinzipiellen Alternativen mehr gibt, gibt es keine Spiesser mehr. Selbst Protestbewegungen gegen gewisse Bahnhöfe oder Atomtransporte lassen sich beim besten Willen nicht mehr als „antibürgerlich“ beschreiben. Denn es geht nur noch um Verbesserungen hier oder dort. Deswegen kann ein ehemaliger CDU-Generalsekretär und heutiges Mitglied von ATTAC als allseits geschätzter Schlichter auftreten.
Der Spiesser ist durch seine Universalität unsichtbar geworden und damit verschwunden. Er hinterlässt den Glauben daran, dass unsere Lebensart „alternativlos“ ist und sich sowieso von selbst genau so optimiert wie die Technik ihr nächstes Produkt.
Und die Kunst? Erfolgreiche Malerei orientiert sich am Geschmack der Zahnärzte, Börsianer und Immobilienmakler. Alles andere verkauft sich nicht. Das Theater versucht noch zu „schockieren“, aber man hat das Gefühl, dass es eher sich selbst als die wenigen Zuschauer schockiert. Vielleicht ist es gerade deswegen so laut und schrill, weil es den Widerpart nicht mehr finden kann: den Spiesser.