Ob lebenslängliche Verwahrung für „die Bestie von Rupperwil“ in Frage komme, spekuliert der Blick am Abend. Bestie heisst wildes Tier, und mit dieser Bezeichnung wird der Täter als Nicht-Mensch deklariert, er wird aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Diese Exkommunizierung ist – wie Guido Kalberer in einem Kommentar im Zürcher Tagesanzeiger analysiert – eine Strategie, die wir gezwungenermassen anwenden, weil es für uns unerträglich ist, dass ein ganz normaler Nachbarsjunge von nebenan vier fremde Menschen als Geiseln nimmt und ihnen den Hals durchschneidet.
Projektion und Heuchelei
Wir projizieren das Böse nach aussen, ausserhalb der Gemeinschaft der „normalen Mitmenschen“, weil wir nicht akzeptieren wollen und können, dass Rupperswil überall sein kann und dass extreme sadistische Grausamkeit Bestandteil unserer Normalität und unseres Menschseins ist.
Der Umgang mit Gewalt ist in unseren Gesellschaften von Heuchelei und Bewusstseinsspaltung geprägt. Im öffentlichen Diskurs gilt Gewaltanwendung als nicht politisch korrekt. Das Gewaltmonopol sei dem demokratischen Staat und seiner Exekutive vorbehalten, heisst es. Sonntagsprediger und Politiker jeder Couleur werden nicht müde, zu gewaltloser Konfliktlösung aufzurufen.
Gewalt als Verkaufsargument
Gleichzeitig wird die gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt zusehends grösser. Die Produktion von Gewalt-Bildern ist zu einer Industrie geworden, die unaufhörlich Blut, Blei und Brutalo-Action liefert. Allein die Spielerplattform Steam verzeichnete 2015 einen weltweiten Umsatz von 3,5 Milliarden Franken. Ego-Shooter verbringen ihre Freizeit damit, den Handgranatenwurf zu perfektionieren, Köpfe wegzublasen und Feinde mit Blei vollzupumpen. In der Schweiz gibt es laut Umfragen an Schulen Jugendliche, die bis zu 40 Stunden pro Woche gamen.
Auch Spielfilme werden immer härter und brutaler, überbieten sich gegenseitig mit voyeuristischen Offerten. Selbst der einst als Edelkrimi geltende „Tatort“ wartet heutzutage mit abgetrennten Gliedmassen auf. Die Gewaltdarstellung scheint zum Verkaufsargument zu werden. In den weitherum als harmloses Sofa-Kino akzeptierten James-Bond-Filmen hat sich die Zahl der Gewaltszenen vom ersten (007 jagt Dr. No, 1962) bis heute fast verdreifacht. Extrem gewalttätige Gangsterfilme wie „Scarface“ haben in den französischen Banlieus Kultstatus.
Vom Spiel zum realen Töten
Dabei wird die Gewalt – wie in den meisten Videogames seit dem Sexygirl Lara Croft – mit der moralischen Etikette verkauft, dass die Gewalt von den Bösen ausgeht und die Guten selbige mit gleicher Gewalt strafen müssen. Tarantino zum Beispiel zeigt Szenen von extremer Grausamkeit. Die Filmkritikerin Pia Horlacher fasste dies einmal in die lapidare Formel: „Bei ihm verüben Sadisten Schweinereien, deren Opfer sich daraufhin mit den gleichen Schweinereien wehren, die aber durch erlittenes Unrecht legitimiert werden. So wirkt auch die Kriegspropaganda.“ (Zürcher Tagesanzeiger, 23. Februar 2013)
Das amerikanische Verteidigungsministerium hat millionenfach Videospiele mit Kriegshandlungen an Jugendliche verteilt, um Rekruten für die US-Army anzuwerben. Und in der Army bekommen sie dann bekanntlich keine Spielkonsolen, sondern automatische Schnellfeuergewehre für den Einsatz in Afghanistan oder im Irak.
Westliche Geheimdienste und Polizisten haben Tweets untersucht, in denen junge Männer aus den Reihen des Islamischen Staates ihre Freunde einladen: „Du musst kommen und mitmachen, das ist wie Call of Duty, aber in echt!“ Das Ego-Shooter-Game Call of Duty ist eines der weltweit erfolgreichsten Computer-Kriegsspiele.
Umstrittene Zusammenhänge
Der Boom von Action-Filmen und bluttriefenden Videospielen zeigt, dass unsere Gesellschaft ein starkes Bedürfnis nach Gewaltdarstellungen und Gewaltphantasien hat. Natürlich argumentieren manche Psychologen, es gebe keinen nachweisbaren direkten Zusammenhang zwischen dieser täglichen Befriedigung von Gewaltphantasien und zum Beispiel dem Amoklauf eines Jugendlichen, der seine Mitschüler und Lehrer erschiesst. Andere Psychologen kommen zu dem gegenteiligen Befund.
In meiner Logik ist die Frage aber nicht, ob die real existierenden Amokläufer direkte „Nachahmer“ von Gewalt-Videos sind oder nicht. Das wird im Einzelfall vielleicht schwierig nachzuweisen sein, weil noch viele andere Faktoren mitspielen. Es bedarf dieses Nachweises jedoch überhaupt nicht, denn eine Gesellschaft, die brutale und blutige Gewaltbilder in solchen Mengen produziert und konsumiert, hat bereits signalisiert, dass Gewalt nichts Schlechtes sein kann und dass der voyeuristische Genuss von Gewalt „Normalität“ ist. Es mag empirisch bewiesen sein oder nicht: In einem Kontext, in dem der Aufenthalt in virtuellen Welten mehr und mehr Teil der Lebenswelt der Individuen wird, muss man davon ausgehen, dass auch die Trennungslinie zwischen Videogame und materiellem Tun zunehmend verschwimmt.
Gefährdete Zivilisation
Was wir als Zivilisation und Zivilisiertheit bezeichnen, ist nichts anderes ist als das Ergebnis eines langen Prozesses, in dem Triebleben und Gewaltbereitschaft der Individuen schrittweise eingedämmt wurden. Der konstruktive Umgang mit Ängsten hat zur Kooperation gesellschaftlicher Gruppen und verschiedenen Formen vom Contrat Social geführt. Die unterdrückten Aggressionen wurden in gesellschaftlich akzeptierte Kanäle umgelenkt und sublimiert.
Ich weiss nicht, wie weit wir auf dieser Strecke im Lauf der Jahrhunderte voran gekommen sind. Eines scheint mir aber sicher: Die heutige Ausbreitung der Gewaltbilder in den Medien ist ein Phänomen, wie es die Menschheitsgeschichte bisher nicht gekannt hat. Mir wird niemand glaubhaft machen, dass unsere Hirne und Herzen davon verschont bleiben. Und das ist dann keine gute Prognose für den zivilisatorischen Versuch, „befriedete Räume“ zu schaffen, wie Norbert Elias es ausdrückte.