Mit verbalen Verheissungen haben die Tunesier schlechte Erfahrungen gemacht. Schon vor 23 Jahren, kurz nach seiner Machtergreifung, hatte Ben Ali ihnen versprochen, er werde das Herrschaftssystem liberalisieren und demokratisieren. Er tat dann das Gegenteil, doch stets von der Behauptung begleitet, es herrsche volle Demokratie. Es gab ein Parlament, eine "konstitutionelle und demokratische" Regierungspartei, sie führte gelenkte "Wahlen" durch, die den behaupteten Volkswillen immer neu dokumentierten, sich von Ben Ali regieren zu lassen.
Zu dem System gehörte natürlich auch gelenkte "Pressefreiheit" zur erwünschten Meinungsbildung und sogar eine steuerbare Jurisprudenz, die das "Recht" nach dem Willen des Diktators auslegte und durchsetzte. Das ganze war eingebettet in ein "liberales" Wirtschaftssystem, das der Ersten Familie und ihrer Klientel einen zu ihren Gunsten verzerrten, aber als "frei" erklärten Markt zur Verfügung stellte.
Vertreter des alten Regimes am Ruder
Die wichtigsten Ministerien in der auf eigene Initiative oder gar auf Befehl des abtretenden Diktators entstandenen "Übergangsregierung" und auch der Posten eines provisorischen Staatschefs werden gegenwärtig von Personen gefüllt, die zur Zeit Ben Alis als seine Machtinstrumente fungierten. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Tunesier "auf der Strasse", welche die Flucht Ben Alis mit blutigen Opfern erkämpft haben, den Versprechen dieser neu-alten Machthaber wenig trauen. Es könnte leicht sein, so denken sie mit guten Gründen, dass es ihnen nur darum geht, ihre Macht zu festigen und dann das alte Spiel mit einer Pseudo-Demokratie wiederaufnehmen.
Wer führt die Opposition?
Doch auf der Gegenseite, "der Strasse", gibt es keine klare Führung, die in der Lage wäre, in der erfolgreichen Konfrontation mit Ben Ali, die politische Frucht dieses Sieges ernten. Die Proteste waren weitgehend spontan entstanden und dauerten fast einem Monat lang an, ohne das Führungsfiguren hervorgetreten wären. Diese Opposition ist auch gegenwärtig noch anonym und vielfältig. Die Anonymität war eine Stärke, als es um den Sturz des Diktators ging. Seine Schergen fanden keine leitenden Köpfe, die sie abschneiden konnten. Sie konnten nur wahllos das Blut von anonymen Demonstranten vergiessen, und dies führte nur dazu, dass noch mehr Demonstranten ihre Stimmen erhoben.
Doch die gleiche Anonymität erlaubte dann auch den bisherigen Ministern Ben Alis, eine Regierung nach ihrem Ermessen zu bilden. Sie nahmen zwar einige Vertreter der kleinen Oppositionsparteien, die Ben Ali aus Bestandteil seiner Scheindemokratie hatte bestehen lassen, als Juniorminister auf, und sie machten Zusagen, von denen sie einige auch sofort erfüllten. Es scheint die meisten, wenngleich nicht alle, politischen Gefangenen wurden wirklich befreit. Im manchem Einzelfall kann man darüber streiten, wer ein politischer und wer ein krimineller Gefangener sei, denn sie wurden ja alle als "Kriminelle" verurteilt.
Alle verbotenen Parteien sollen wieder zugelassen werden, doch ist unklar, ob die entsprechenden Gesetze und "Gerichtsurteile" aus der Periode Ban Alis formell kassiert werden müssen oder ob sie bereits als aufgehoben gelten können. - Um die Demonstranten zu beruhigen, erklärten zuerst der Stellvertretende Staatschef, Fouad Mebazaa (unter Ben Ali war er Parlamentspräsident) und sein Ministerpräsident , Mohammed Ghannouchi (Ministerpräsident unter Ben Ali während elf Jahren), sie seien aus der Partei Ben Alis, dem RCD (Rassemblement Constitutionel Démocratique) ausgetreten; dann erklärte auch das übrige Ministerium seinen Austritt.
Altgediente politische Organisationen
Die Demonstranten fordern die Auflösung dieser Partei und den Rücktritt ihrer bisherigen Mitglieder aus der Übergangsregierung. Die RCD hat erklärt, sie habe ihr bisheriges Zentralkomitee aufgelöst, was bedeuten dürfte, dass sie gedenkt, sich eine neue Führung zu geben.
Diese Partei geht auf die historische Unabhängigkeitspartei aus der Zeit Bourguibas zurück. Damals hiess sie Neo-Destour Partei (Destour heisst Verfassung). Sie war Borguibas Instrument in seinem Kampf gegen die französische Kolonialmacht und wurde später die führende Partei des Staates. Als Bourguiba vorübergehend dem Sozialismus zuneigte, wurde sie 1964 umgetauft in PSD (Parti Socialiste Destourien). Bourguiba sorgte dafür, dass es neben ihr immer mindestens eine, kleine aber zugelassene, Oppositionspartei gab. Dies pflegte die Kommunistische zu sein, welche es heute noch gibt. Diese Vergangenheit erklärt die erstaunliche Präsenz der einstigen Befreiungspartei unter den Tunesiern, fast ein Viertel der gesamten Bevölkerung soll Parteimitglied sein. Die Partei ist noch in den kleinsten Dörfern vertreten. Ben Ali hat sie natürlich umgeformt und zu seinen Zwecken benützt. Er hat ihr auch ihren gegenwärtigen Namen RCD gegeben. Wird sie in der Zukunft wieder zur Staatspartei werden? Zur Mehrheitspartei? Zu einer unter vielen von vergleichbarer Stärke? Verschwindet sie? Dies ist eine der Fragen, um die gerungen wird und wohl noch eine Zeit lang gekämpft werden muss. (In Indonesien gab es die Staatspartei Suhartos, GOLKAR, sie musste 1989 von der Macht weichen, als Suharto, auch von der Strasse, gestürzt wurde. Doch später 2004 hat sie die Wahlen gewonnen und ist nun wieder Regierungspartei).
Die Gewerkschaft auf Seiten der Demonstranten
Ein Gegenstück zum Neo-Destour war unter Bourguiba die Gewerkschaft UGTT (Union Generale des Travailleurs Tunesiens), die ebenfalls im Kampf gegen die Kolonialmacht stand und erstarkte. Auch sie wurde von Ben Ali weitgehend instrumentalisiert. Doch hat sie sich genügend alte Kämpfer oder genügend vom Geist der früheren Generation bewahren können, um schon im Verlauf der Volksbewegung zu der aufbegehrenden Bevölkerung zu stossen und als eine der wenigen organisierte Kräfte einen wichtigen Beitrag zum Sturz des Regimes zu leisten.
Auch die separate Berufsvertretung der Advokaten (Ordre des Avocats) hat sich schon früh für den Aufstand entschieden und durch einen Streik ihrer Mitglieder die Gerichte lahm gelegt. Die UGTT steht nun weiter auf der Seite der Protestierenden. Sie hat sich geweigert, drei Vertreter, die Ghannouchi in die Übergangsregierung aufnehmen wollte, an ihr teilnehmen zu lassen. Wahrscheinlich wird auch die UGTT ihre Führung, die zur Zeit Ben Alis bis zu einem gewissen Grade mit dem Diktator zusammenarbeiten musste, früher oder später erneuern müssen.
Dezimierte Exilparteien
Die unter Ben Ali verbotenen Parteien dürften nun eine Chance haben, neu zu erstehen. Ihre im Exil überlebenden Gründer und Leiter dürften zurückkehren. Dr. Moncef Marzouky, ein bekannter Arzt und leidenschaftlicher Politiker, Leiter der bisher verbotenen Partei CPR Congrès pour la République), die vor allem für Menschenrechte, Unabhängigkeit der Gerichte und freie Wahlen agitiert hatte, ist aus Paris heimgekehrt. Er hat sich als erstes in die Stadt Sidi Bouzaid, tief im vernachlässigten Landesinneren, begeben, von wo die Widerstandsbewegung ausging. Von Paris aus hat sich Marzouky scharf gegen die Übergangsregierung ausgesprochen. Er hat auch angedeutet, dass er künftig als Kandidat für die Präsidentschaft auftreten könnte.
Der Muslim-Politiker, den man als einen demokratisch ausgerichteten strengen Muslim beschreiben kann, Rachid Ghannouchi, dürfte bald aus seinem Exil in London heimkehren. Seine islamisch-demokratische Partei hiess ursprünglich MTI (Mouvement de la Tendance Islamique). Später erhielt sie den Namen "An-Nahda" (Renaissance), um alle Anspielungen auf den Begriff Islam zu vermeiden. Die Verfassung Tunesiens verbietet religiöse Parteien. "An-Nahda" spielte in den 80 er Jahren eine Rolle im Tunesien Bourguibas, doch wurde sie nie als politische Partei anerkannt. Schliesslich fiel sie einer Verfolgung durch den alternden Staatschef zum Opfer. Bourguiba liess 1987 Anklage gegen sie wegen Verschwörung gegen den Staat erheben, kerkerte viele ihrer Mitglieder ein; 47 von ihnen wurden zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Doch Bourguiba forderte Todesurteile gegen Ghannouchi und 5 seiner Gefährten.
Während das Ringen um die Todesurteile noch andauerte, setzte Ben Ali Bourguiba ab und liess ihn für unfähig, den Staat zu führen, erklären. Er war in der Tat von Altersdemenz betroffen. Ben Ali begnadigte dann den Islam-Politiker und seine Gefährten. Als aber die Islamisten der FIS im benachbarten Algerien beinahe die Macht ergriffen, schritt Ben Ali gegen die Leute von "an-Nahda" ein. Er warf ihnen Verschwörung gegen den Staat vor und liess sie einkerkern. Ghannouchi selbst gelang es auszureisen. Er lebt seither in London als angesehener Gottesgelehrter. Eines seiner Hauptinteressen ist die Frage der Vereinbarkeit von Islam und Demokratie. Eine Frage die er bejaht. Als sein Namensvetter, Mohammed Ghannouchi (keine Verwandtschaft) Beratungen über die Bildung der Übergangsregierung führte, hat er auch einen Vertreter seiner Richtung, Ismail Hamud Jebali, zu Rate gezogen. Ghannouchi selbst erklärte in London, er könnte bereit sein, in der Übergangsregierung mitzuwirken. Doch zu einer Beteiligung der Anhänger Rachid Ghannouchis an dieser Regierung kam es vorläufig nicht.
Geschwächt durch Jahre der Stilllegung
Allgemein ist festzuhalten, dass die Oppositionsparteien - jene im Land und jene in der Verbannung - durch die langen Jahre der Machtausübung Ben Alis geschwächt sind. Der Bevölkerung sind sie weitgehend unbekannt, weil ihnen der Zugang zu den Medien während zwei Jahrzehnten verwehrt war. Die Medien selbst befinden sich gegenwärtig in vollem Umbruch. Die Journalisten haben ihre vom Staat eingesetzten Herausgeber hinausgeworfen. Doch dürften sie bald, wenn nicht schon jetzt, vor der Frage stehen, wer ihre Blätter nun finanziert. Bisher war es weitgehend der Staat gewesen. Zur Zeit treten politische Redner auf der Avenue Habib Bourguiba, der Hauptstrasse von Tunis, auf und geniessen in vollen Zügen, die neue Freiheit, zu sagen,was sie denken. Doch eine Grundlage für die Einführung einer modernen Demokratie bietet dies nicht.
Zweierlei Ordnungshüter
Die Stabilität, soweit es sie gibt, wird zur Zeit durch zwei Institutionen aufrecht erhalten, die einander gegenüberstehen: die Polizei und die Armee. Die Polizei sorgt weiter dafür, dass die Demonstranten nicht in die Hauptzentren der Regierung eindringen, sie verteidigt das Innenministerum, die Zentralbank, die Regierungssitze, wenn es sein muss mit Wasserstrahl und Tränengas. Scharf geschossen wird nun nicht mehr. Die Armee steht auch auf den Strassen und sorgt auch für Aufrechterhaltung der Ordnung, doch vermeidet sie es, gegen die Demonstranten vorzugehen.
Gelegentlich sollen Soldaten die Demonstranten vor den Polizisten in Schutz nehmen. Die Armee hat die Provokateure aufs Korn genommen, die in den ersten Tagen nach der Flucht Ben Alis von einigen Dächern herab und aus Autos ohne Kennzeichen auf die Bevölkerung schossen und anscheinend den Präsidentenpalast ausserhalb von Tunis mit Bewaffneten besetzt hatten. Dort und in der übrigen Stadt hat die Armee sie niedergekämpft. Es dürfte sich dabei um Leute der Geheimdienste Ben Alis gehandelt haben.
Die Tunesier glauben, es sei General Rachid Ben Ammar gewesen, der Generalstabschef der Armee, der den Diktator zur Flucht gezwungen habe, indem er sich weigerte, auf die Tunesier schiessen zu lassen. Die Armee hat darüber nichts verlauten lassen. Doch der Generalstabschef und seine Soldaten werden von den Demonstranten - im Gegensatz zu den Polizisten - als Freunde gesehen. Der Verteidigungsminister, Reha Grita, gehört zu den ehemaligen Dienern des Staates Ben Alis. Der Innenminister, dem die Polizei untersteht ,Ahmed Friaa, wurde von Ben Ali kurz vor seiner Flucht am 12. Januar eingesetzt, als der damalige Staatschef in einem seiner Versuche, die Demonstranten zu beschwichtigen, den bisherigen Innenminister, Belhaj Kacem, entliess. Kacem soll nun unter dem Übergangsregime verhaftet worden sein. Er dürfte die Verantwortung für die mindestens 78 erschossenen Demonstranten zu tragen haben, welche die Opfer der Unruhen sind, und wahrscheinlich auch für zahlreiche frühere Übergriffe und Untaten der Polizei.
Verhaftungen und Versprechungen
Zu den Festgenommen sollen auch 33 Verwandte Ben Alis und seiner Gemahlin gehören. Ihnen wird Korruption zu Lasten des Staates vorgeworfen. Der Sprecher der Übergangsregierung erklärte am Freitag, die Regierung habe über die Bildung einer unabhängigen Kommission beraten, welche die Fragen der Korruption untersuchen soll. Zustande gekommen ist diese Kommission bis jetzt offenbar nicht. Der Ministerpräsident und die Minister versichern fortdauernd, zurückzutreten, sobald die versprochen freien Wahlen stattfänden. Dies sollte nach der Verfassung in 60 Tagen geschehen. Doch gibt es schon heute Stimmen, die sagen, dass dies unmöglich sei. Sechs Monate sei ein realistischerer Termin, weil die Wahlen gesetzgeberisch, administrativ und politisch vorbereitet werden müssten. Die Parteien müssten sich formieren, und die Bevölkerung müsste sie kennen lernen. Erst dann seien Wahlen sinnvoll.
Doch die Demonstranten haben es eilig. Viele von ihnen wollen nicht nur ein gänzlich neues Regime sehen, sondern auch mehr Arbeitsplätze, bessere Gehälter, kurzum ein besseres Leben. Der Umstand, dass solche Früchte unmöglich sofort reifen können, bringt die Gefahr mit sich, dass Teile der Demonstranten die Geduld verlieren und schwerere Unruhen auslösen könnten als sie bisher vorgekommen sind.
Eine glaubwürdigere Übergangsregierung?
Ein Kompromiss zwischen den Oppositionsgruppen, die heute ausserhalb der Regierung stehen, und den Leuten der umstrittenen Übergangsregierung wäre denkbar. Er müsste derart getroffen werden, dass die Glaubwürdigkeit der Demokratieversprechen der Übergangsregierung zunähme, etwa indem die Oppositionsvertreter genügend Ministerien erhielten, um die Regierung zu stürzen, wenn sie ihre Verprechen nicht einhielte oder deren Erfüllung hinauszögerte. Doch die Opposition scheint im Augenblick nicht genügend organisiert, um derartige Forderungen zu stellen und durchzusetzen, und die altgedienten Politiker des RCD zeigen sich nicht bereit, den Vertretern der Opposition die wichtigeren Ministerien zu überlassen. Sie pochen dabei, wohl nicht zu Unrecht, auf den Umstand, dass nur sie das innere Räderwerk des Regimes gut genug kennen, um in der gegenwärtigen unsicheren Zeit einigermassen stabil regieren zu können.