Der Schock sass tief. Am 8. November 2005 war, erstmals seit dem Algerienkrieg, in Frankreich der Notstand ausgerufen worden.
Ganze drei Wochen sollte es brauchen, bis ein destabilisierter Staat einer Revolte Herr werden konnte, die sich wie ein Lauffeuer in den Vororten der französischen Grosstädte - mit Ausnahme von Marseille - ausgebreitet hatte. Am Ende waren mehrere hundert öffentliche Gebäude - Schulen, Kindergärten, Jugend- und Sozialzentren, Turnhallen oder Kultureinrichtungen zerstört. Mehr als 4’000 Personen waren im Lauf dieser drei Wochen verhaftet worden.
In den Monaten danach überschlugen sich Politiker und Experten mit guten Ratschlägen und Vorsätzen. Das Wort vom Marshall-Plan für Frankreichs Vorstädte machte die Runde. Den Bruch zwischen Bannmeilen und Stadtzentren zu kitten sollte oberste Priorität haben. Seitdem ist ein Jahrzehnt vergangen und der Bruch ist absolut nicht gekittet, sondern eher noch grösser geworden.
Renovierung
Dabei haben Staat und Gebietskörperschaften zumindest in eine Richtung ganze Arbeit geleistet, nämlich was bauliche Verbesserungen in der Ödnis der Bannmeilen angeht. Merkwürdigerweise wird dies von der grossen Öffentlichkeit in Frankreich kaum wahrgenommen und auch Verantwortliche vor Ort und die meisten Politiker sprechen nur sehr verhalten darüber. Fast erwecken sie den Eindruck als hätten sie Angst, es könne böses Blut schaffen, wenn für die Unterprivilegierten im Land etwas getan wird.
Fakt ist: rund 600 Vororte in ganz Frankreich sind seit den Vorstadtrevolten auf die eine oder andere Art renoviert worden. Fast 50 Milliarden wurden in diesem Zeitraum in die Erneuerung oder in den Bau von Wohnungen, von besseren Verkehrsanbindungen oder Infrastruktureinrichtungen gesteckt: heruntergekommene Hochhäuser mit 150’000 Wohnungen wurden abgerissen, fast ebenso viele neu gebaut und über 300’000 Wohnungen renoviert. Viele Bürgermeister in den betroffenen Städten bestätigen einhellig: Ein derartiges Renovierungsprogramm hatte es bislang überhaupt noch nie gegeben.
Unzureichend
Doch diese Verschönerungsmassnahmen alleine haben leider nicht viel ausgerichtet, letztlich z.B. an der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt oder am oft katastrophalen Niveau in den Schulen vieler Vorstädte nichts geändert, ja die Probleme haben sich im Lauf der letzten zehn Jahre sogar noch verschlimmert. Dabei hatte es unmittelbar nach dem Schock durchaus positive Ansätze gegeben. Eine Reihe von Programmen waren ins Leben gerufen worden, die eine Art Antwort auf die Ereignisse sein sollten und vor allem der jungen Generation in den Vorstädten mehr Chancen bieten, für mehr soziale Kohäsion sorgen und die Diskriminierungen, unter denen die Vorstadtbevölkerung zu leiden hat, zumindest eindämmen wollten.
Doch 2007 wählte Frankreich mit Nicolas Sarkozy einen neuen Präsidenten und damit unter anderem den Mann, der zwei Jahre zuvor als Innenminister die Vorstädte mit dem Hochdruckreiniger säubern wollte. Viele dieser Hilfsprogramme, die unter anderem auch auf mehr Dialog ausgerichtet waren, verschwanden nach Sarkozys Wahl zum Präsidenten fast über Nacht.
Krise
Nur ein Jahr später brach dann die Wirtschaftskrise aus, von der die fast zehn Millionen Menschen, die in Frankreichs Vorstädten leben, bis heute deutlich stärker betroffen sind, als der Durchschnitt der französischen Bevölkerung.
Die Zahl derer, die in den Vorstädten unter der Armutsgrenze leben, ist drei Mal so hoch, wie im Rest des Landes, 45% der unter 25-Jährigen haben dort keinen Job - fast doppelt so viele wie im Landesdurchschnitt. In mancher Vorstadtgemeinde sind fast drei Viertel der Haushalte nicht steuerpflichtig.
Die Krise hatte in den letzten Jahren ausserdem zur Folge, dass die Subventionen für Organisationen und Vereine dramatisch zusammengestrichen wurden und hunderte dieser Vereine schlicht und einfach von der Bildfläche verschwunden sind. Dabei waren sich nach den Vorstadtrevolten eigentlich alle einig gewesen, dass gerade diese Vereine oft die letzte Möglichkeit sind, den Deckel auf dem Dampfkochtopf der Vorstadtghettos zu halten und in Krisensituation noch am ehesten in der Lage, Spannungen abzubauen, ja oft weit und breit die einzigen, die mit einer aufgebrachten Bevölkerung und besonders mit den Jugendlichen überhaupt noch einen Dialog aufrecht erhalten können.
Islam, Drogen, Polizei
Dafür ist in den letzten zehn Jahren – laut zahlreicher Experten – der Islam mehr und mehr zu einem strukturierenden Element in den Vororten geworden, mit zahlreichen kulturellen und karitativen Organisationen, die in der Umgebung der Moscheen aus dem Boden geschossen und in eine vom Staat hinterlassene Bresche gesprungen sind.
Verschlimmert hat sich auch die Situation, was die so genannte Parallelökonomie angeht, ohne die die tatsächliche Armut in vielen dieser Vorstädte de facto noch weitaus grösser wäre. Im Zentrum dieses Wirtschaftszweigs steht nach wie vor der Drogenhandel, der zu einem festen Bestandteil des Lebens in zahlreichen Vorstädten geworden ist.
Schliesslich scheint auch das Verhältnis zwischen Ordnungskräften und der Bevölkerung in den Bannmeilen für immer gestört und irreparabel. Es ist geprägt von einem tiefen Misstrauen auf Grund häufiger Schikanen, denen die Vorstadtbevölkerung ausgesetzt ist und nicht nur gewaltbereite Jugendliche in den Vorstädten empfinden die zusehends militarisierte Polizei dort als eine Art Besatzungsmacht. Auf der anderen Seite sind die Polizisten heute, noch häufiger als vor zehn Jahren, immer wieder gewaltsamen Angriffen ausgesetzt, deren Intensität sogar zugenommen hat. Die Zahl der Viertel in den Vororten, in die sich Frankreichs Polizeikräfte überhaupt nicht mehr vorwagen, ist eher noch grösser geworden.
Noch weiter weg
Nichts gebessert – ja im Gegenteil und trotz all der Renovierungsarbeiten - hat sich auch an der sozialen Durchmischung der Vorstädte. Stärker noch als vor zehn Jahren gilt heute: Wer immer es sich leisten kann, zieht weg aus diesen Bannmeilen, meistens noch weiter weg von den Stadtzentren, auf Kosten noch weiterer Transportwege zur Arbeit, in die von Geographen so genannte "Periurbane-Zone", häufig in billige, schmucklose Einfamilienhaussiedlungen auf dem Land. Es sind oft Gegenden, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, wahrlich kaum ein Ausländer oder Franzose mit dunkler Hautfarbe mehr zu finden ist, dafür aber lassen die öffentlichen Dienstleistungen zu wünschen übrig. Es sind genau diese Zonen, in denen der Stimmenanteil der Nationalen Front bei Wahlen in den letzten Jahren teilweise regelrecht explodiert ist.
In den Vorstadtghettos dagegen geht so gut wie niemand mehr wählen. Bei den letzten Kommunalwahlen gab es Wahlbüros, in denen nur knapp 10% der Wähler erschienen waren. Der Bürgermeister von Clichy-sous-Bois, wo die Vorstadtrevolten vor zehn Jahren ihren Ausgang genommen hatten, hat bei den letzten Kommunalwahlen gerade mal 2’600 Stimmen auf sich vereinen können, bei einer Bevölkerung von über 30’000.
Die Bilanz zehn Jahre nach einer der schwersten Krisen, die Frankreich durchleben musste, ist ernüchternd. Eine Stadtentwicklungspolitik, die den Namen auch verdient hätte, so sagen die Spezialisten, gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Es existiert zwar noch ein Ministerium, das diesen Namen trägt, es dürfte aber kein Zufall sein, dass seit 2012 der Inhaber dieses Amtes bereits vier Mal gewechselt hat.
Zehn Jahre nach den Revolten in Frankreichs Vorstädten scheint der Staat den Kopf weiter in den Sand zu stecken, und fast alle Politiker im Land erwecken inzwischen den Eindruck, als hätten sie vor diesem Teil Frankreichs schlicht und einfach Angst.