Wenn Dir jemand sagen sollte „Dies ist Politik“ – dann sage ihm „Dies ist Islam ... denn wir erkennen solche Unterscheidungen nicht an.“
Hassan el-Banna, Gründer der Muslimbruderschaft, im Jahre 1939
Allmählich hat sich der Pulverdampf in Kairo gelegt, langsam kehrt ein Hauch von Normalität des Lebens zurück – sofern man von Normalität in einer Stadt und in einem Land sprechen möchte, in dem noch immer zwei mächtige Gruppen um die Dominanz kämpfen – das Militär und die Muslimbrüder.
Der ewige Machtkampf - unentschieden
Derzeit hat das Militär die Oberhand, es verhängt eine Ausgangssperre, und es versucht, oft ohne durchschlagenden Erfolg, die verschiedenen Banden, welche die Strassen kontrollieren wollen, in Schach zu halten. Doch vieles spricht dafür, dass sich, zumindest mittelfristig, die Waage zugunsten der Generäle neigen wird. Damit aber ist der ewige Machtkampf zwischen den so unterschiedlichen Blöcken noch nicht entschieden.
Mehr als achtzig Jahre haben die Brüder überlebt, oft im Untergrund. Und dass sie diesmal, nachdem etwa 1000 Menschen getötet wurden, unter ihnen auch viele Brüder, klein beigeben werden, ist kaum wahrscheinlich.
Der Weg der Gewalt
Die Amerikaner haben, jedenfalls aus ihrer Sicht, alles versucht, das Blutvergiessen der letzten Wochen zu vermeiden. Barack Obama schickte zwei Senatoren nach Kairo, John McCain und Lindsay Graham, um die gewaltsame Räumung des Muslimbruderlagers Rabaa al-Adawiya im Stadtteil Nasr City zu vermeiden. Doch die Generäle gaben sich kompromisslos. „Wenn Sie“, sagte Senator Graham zu General Abdel Fatah al-Sissi, „heute freie Wahlen abhielten, würde Mohammed Mursi verlieren“ Al-Sissi stimmte dieser Einschätzung zu. (New York Times vom 17.August 2013).
Dennoch wählte der General den Weg der Gewalt. Über tausend Tote waren die Folge – unbeteiligte Zivilisten, Polizisten, Muslimbrüder starben. Er habe den Eindruck gewonnen, berichtete später Senator Graham der New York Times, General al-Sissi habe Gefallen an der Macht gefunden. Und Interims-Premier Hazem el-Bablawy habe erklärt, man könne mit den Leuten, welche die Strassen und Plätze besetzten, nicht verhandeln. Einen Kompromiss, den der später zurückgetretene Mohammed ElBaradei für möglich hielt, lehnten die Generäle ab. Sie wollten die Macht – alleine.
Macht
Um die Macht kämpfen Militär und Muslimbrüder seit Jahrzehnten. Mal wurden die Muslimbrüder eingesperrt und hingerichtet, wie unter Gamal Abdel Nasser; mal wurden sie benutzt, wie unter Anwar al-Sadat.
Das vorletzte Kapitel schrieb Hosni Mubarak. Der liess Tausende der Brüder, oder solche, die er für Anhänger der Brüder hielt, gefangen setzen. Und als im Januar und Februar 2011 Hunderttausende junger Leute auf dem Tahrirplatz in Kairo gegen das Regime Mubarak demonstrierten, beschuldigte Mubarak die Brüder, diese Kundgebungen angezettelt zu haben.
Zur selben Zeit lud der damalige, von Mubarak kurzfristig neu ernannte Vizepräsident Omar Suleiman eben jene Muslimbrüder zu Gesprächen über die Zukunft des Landes ein. Wie? Mit Staatsfeinden verhandeln über das Schicksal der Nation?
Vertrackte Chronik
Die seinerzeit nur aus taktischen Erwägungen erfolgte Verbeugung des Regimes vor der Bruderschaft markiert eine unerwartete, von den Ereignissen erzwungene Wende in der verworrenen Geschichte zwischen ägyptischen Offizieren und den Brüdern.
Manches in dieser vertrackten Chronik hat mit europäischem Kolonialismus zu tun, vieles mit der ewigen Frage, nach welchem Gesellschaftsentwurf Ägypten leben soll – nach einem bodenständig muslimischen oder einem importierten westlich-liberalen.
„Aufbruch zum Licht“
Ismailia 1928. Die Stadt am 1869 mit aufwendigem Pomp eröffneten Suezkanal hat ein europäisches Gesicht. Ist das die Zukunft des Landes ? Diese Frage stellen sich viele – unter ihnen der Lehrer Hassan al-Banna. Er kommt zu dem Schluss, Ägypten müsse nach einem eigenen, einem muslimischen Konzept leben, nicht nach einem westlichen. 1928 gründet Hassan Al-Banna die Muslimbruderschaft. Beeinflusst hat al-Banna auch die Abschaffung des Kalifats durch den türkisschen, Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Derv wollte bseine neue Türkei an westlichen Vorbilderfn ausrichten, er schaffte, zum Beispiel, die arabische Schrift in der Türkei ab.
In einer Grundsatzschrift „Aufbruch zum Licht“ fordert Hassan al-Banna 1936 „die Förderung des Geistes des Islam in den Ämtern der Regierung“, die „Kontrolle des persönlichen Verhaltens der Beamten“ und die „Beendigung ausländischer Verfremdung in den Haushalten im Blick auf Sprache, Sitten, Kleidung, Kindermädchen, Ammen“ und eine „Ägyptisierung aller dieser Dinge“.
Todesstrafe für Mitglieder der Bruderschaft
Die Muslimbruderschaft breitet sich schnell in der arabischen Welt aus. In Palästina geht aus ihr 1987 die „Islamische Widerstandsbewegung“ (Hamas) hervor. In Jordanien war die Bruderschaft – vorbildlich, möchte man sagen – zeitweise ins politische Leben integriert, dort sassen die Brüder als Mitglieder der Islamischen Aktionsfront sogar im Parlament. In Syrien dagegen wurden und werden die Brüder brutal verfolgt. Mit befreundeten Gruppen hatten sie sich 1982 in der Stadt Hama festgesetzt.
Zuvor hatten sie Attentate auf führende Mitglieder der von den Alawiten besetzten Regierung verübt. Das sich auf die Minderheit von schiitischen Alawiten stützende Regime von Präsident Hafis al-Assad macht 1982 mit Luftwaffe und Bodentruppen Hama fast dem Erdboden gleich, etwa 20.000 Einwohner sterben. Bis heute steht auf Mitgliedschaft in der Bruderschaft in Syrien die Todesstrafe.
Giftgas: Zivilisationsbruch
Unter den Aufständischen gegen das Regime von Assad-Sohn Baschar sind auch die Muslimbrüder. Sunnitische Dschihadisten aus vielen Teilen der arabischen Welt und einheimische Muslimbrüder kämpfen einen blutigen Religionskrieg gegen das herrschende alawitische System. Dieses schlägt neuerdings sogar mit Giftgasangriffen zurück – ein Zivilisationsbruch, der kaum vorstellbar war.
Die Alawiten haben in Syrien eine säkular anmutende Gesellschaftsordnung errichtet, in der Minderheiten, etwa Christen, gut überleben konnten – sofern sie sich nicht gegen die Herrschaft wandten. Hassan el-Banna und später Said Qutb dagegen wollten von einem solchen Entwurf nichts wissen. Die „Herrschaft Gottes“ war ihr Ziel.
Doch schon früh gibt es einen Gegenentwurf zu dem von Al-Banna gepredigten politischem Islam. Dieser kommt von Gamal Abdel Nasser. Mit Hassan al-Banna verbindet Nasser der Protest gegen die britische Vorherrschaft über Ägypten und der Widerstand gegen den schwachen und korrupten König Farouk. Nasser liest viel - im Gegensatz zu Al-Banna nicht nur intensiv den Koran, sondern auch Autoren wie Mahatma Gandhi, Voltaire, Victor Hugo, sowie Schriften seines ägyptischen Landsmannes Mustafa Kemal, eines national ausgerichteten Politikers.
Heimliche Mitglieder der Bruderschaft
Nasser, stets frommer Muslim, sieht die Zukunft seines Landes nicht im politischen Islam, sondern in sozialistischen Entwürfen und in der übergreifenden Solidarität der Araber – Nasser predigt den Pan-Arabismus. Nasser wird Offizier, im Untergrund gründet er mit Gesinnungsgenossen das „Komitee der freien Offiziere“. Diese nehmen Kontakt auf zu den Muslimbrüdern, denn beide verbindet die Sorge um die Zukunft Ägyptens. Manche Offiziere werden heimlich Mitglieder der Bruderschaft. Im Untergrund bilden Offiziere Mitglieder des militärischen Zweiges der Muslimbrüder im Gebrauch von Waffen aus.
In den Krieg gegen Israel von 1948 schicken die Muslimbrüder ihr eigenes Kontingent; ein Mitglied dieser Streitkraft ist der in Kairo geborene Jassir Arafat (dessen Widerstandsbewegung Fatah später in gar keiner Weise der islamistischen Ideologie anhängt). Nasser selbst kämpft in Palästina in einem Kontingent der ägyptischen Armee. Die Frage, ob Gewalt anzuwenden sei gegen die verhasste Staatmacht des Königs beantworten die Muslimbrüder und die „freien Offiziere“ nach dem Krieg auf ihre Weise. Die Brüder erschiessen 1949 Premierminister Fahmi al-Nakrashi, worauf dessen Nachfolger Hassen el-Banna ermorden lässt. Die „freien Offiziere“ putschen im Juli 1952 und schicken König Farouk ins Exil der römischen Nachtclubs.
Damit aber beginnt die Konfrontation zwischen den Brüdern und den Offizieren, zwischen muslimischem und westlichem Zukunftsentwurf. Während einer Rede in Alexandria wird 1954 auf Nasser geschossen, das neue Offiziersregime macht die Brüder verantwortlich. Eine Welle der Verfolgung bricht über sie herein. Die Hatz findet ihren Höhepunkt 1966 in der Ermordung von Said Qutb, dem neuen Idol der
Bruderschaft im Verbot der frommen Vereinigung
Qutb führt die Lehren Hassan al-Bannas fort. Beide fühlen sich von der westlichen Zivilisation abgestossen. Hassan el-Banna schreibt über das Kairo der 1920iger Jahre:
„Im Namen der intellektuellen Emanzipation verschluckte eine Welle von Auflösung, die alle festen Glaubensgrundsätze unterminierte, Ägypten. Unter dem Vorwand der persönlichen Freiheit attackierte dieser Trend die Moral, das tägliche Handeln und die Tugenden. Nichts war diesem machtvollen und tyrannischen Strom des Unglaubens und der Permissivität, der durch unser Land fegte, entgegenzusetzen.“
Said Qutb setzt diese Gedanken fort. Auch er zeigt sich von der westlichen Zivilisation enttäuscht. Als Mitarbeiter des ägyptischen Erziehungsministeriums weilt er einige Zeit in den USA.
Nach seiner Rückkehr schreibt er: „Das amerikanische Mädchen kennt die verführerischen Fähigkeiten ihres Körpers sehr genau. Es weiss, dass diese im Gesicht, in den ausdrucksvollen Augen und in den durstigen Lippen liegen. Es weiss, dass die Verführung in den runden Brüsten lauert, in seinem vollen Gesäss, in den formschönen Schenkeln, in den schlanken Beinen – und all das zeigt das amerikanische Mädchen.“
Der Grund für das Scheitern
Die amerikanische, die westliche Demokratie hält Said Qutb für ebenso verwerflich wie die von ihm so gesehene verruchte westliche Moral. In seinem Buch „Wegmarken“ - der „Mao-Bibel der islamischen Revolution“, wie ein Beobachter schrieb – kommt er zu dem Schluss: “Die politische Souveränität wird von Gott ausgeübt.“
So ähnlich würden wohl auch die Nachfolger Hassan el-Bannas und Said Qutbs in der Muslimbruderschaft über das Kairo des Jahres 2013 sprechen. Und so ähnlich würden sie auch - oft wider besseres Wissen - die moralischen Zustände im heutigen Kairo beschreiben. Nur: sie profitieren kräftig von dieser permissiven Konsumgesellschaft. Als Ärzte, Rechtsanwälte und Geschäftleute haben sie sich gut in der von ihnen so verachteten Gesellschaft eingerichtet. Manche sind zu Dollar-Millionären geworden – wie etwa Khairat el-Shater. Doch eine stringente Wirtschafts- oder Sozialpolitik haben die Brüder nicht entwickelt. Diese Schwäche ist ein Grund für ihr Scheitern in der Regierung.