"Die Macht Gottes muss den Händen der Usurpatoren entrissen und Gott zurückgegeben werden. Das bedeutet die Vertreibung derjenigen, die die Macht Gottes an sich gerissen haben." (Said Qutb in seinem Werk „Wegmarken“, 1966)
Gamal Abdel Nasser liess Said Qutb hinrichten (siehe Teil 1 dieser Analyse), weil dieser die Herrschaft Gottes über jene des frommen Muslims Nasser gestellt hatte. Doch mit diesem Gewaltakt war die Bruderschaft keineswegs erledigt.
Nach Nassers Tod
Akt zwei des Politdramas beginnt nach Nassers Tod 1970. Anwar el-Sadat, mit Nasser einst Mitglied im „Komitee der freien Offiziere“ und Nassers Vizepräsident wird Nachfolger seines Kameraden, der einem Herzleiden erlag. Doch Sadat hat ein politisches Konzept, das sich diametral von jenem seines Vorgängers unterscheidet. Sozialismus? Nein – stattdessen eine breit angelegte politische und wirtschaftliche Öffnung zum Westen. Um diese politische Kehrtwende durchsetzen zu können, sucht Sadat eine neue Machtbasis, die sich nicht mehr auf Nassers Anhänger stützen soll.
In Frage kommen nur die religiösen Kräfte. Sadat öffnet die Gefängnisse, die Bruderschaft schwört der Gewalt ab. Mit Zustimmung Sadats spendet der saudische König Feisal der Kairoer muslimischen Al-Azhar Universität 100 Millionen Dollar - für den „Kampf gegen Atheismus“ und für „den Sieg des Islam“. Sadat, der abends gerne seinen Whiskey trinkt, lässt sich am Freitag betend in den Moscheen Kairos sehen – stets gefilmt vom Staatsfernsehen. Ein neues Radioprogramm, Radio Koran, widmet sich der Lesung von Suren aus der heiligen Schrift der Muslime.
Sadats Annäherung an die Muslimbrüder
Um sich noch intensiver als frommen Muslim zu präsentieren lässt Sadat einen Passus in die Verfassung aufnehmen, wonach die Scharia, das islamische Gesetz eine wesentliche Quelle der Rechtsprechung Ägyptens sein solle. Die Revitalisierung des Islam ist ein Mittel, Nasseristen und die gesamte Linke zu bekämpfen. Und sie ist ein Mittel, die damals von Sadat kreierte Klasse von superreichen Geschäftsleuten (Fat cats genannt) und die mit ihr schon damals verbundenen Korruption zu übertünchen.
Die Strategie hat ihre Vorbilder – und fatale Folgen. Schon die Briten hatten, so argumentieren einige Historiker, die Bruderschaft benutzt, um diese gegen die ägyptische Wafd-Partei auszuspielen, die in den 1930iger Jahren gegen die britische Vorherrschaft kämpfte. Später versuchten die USA mit Millionen von Dollar, die sie auf das Schweizer Bankkonto von Said Ramadan, dem damaligen Führer der Bruderschaft überwiesen, den unbotmässigen Nasser zu schwächen.
In den späten 1980iger Jahren stützte Israel die Hamas um ein Gegengewicht zu Jassir Arafats Fatah aufzubauen. Und schliesslich rekrutierten die USA die afghanischen Taliban für ihren Kampf gegen die sowjetischen Besatzer Afghanistans. So trug der Westen dazu bei, ein Monster zu schaffen, von dem es sich jetzt bedroht fühlt.
Fehlgeschlagene Instrumentalisierung der Islamisten
Auch Sadats gefährliches Spiel mit der religiösen Karte zeitigt schnell unerwünschte Nebenwirkungen. Im Untergrund bilden sich Organisationen wie die Gamaa al-Islamija (Islamische Gruppe) und der Dschihad Islami (Islamischer Heiliger Krieg), die mit Terror das bestehende politische System stürzen wollten. „Durch seine Instrumentalisierung des Islam für innenpolitische Zwecke hat Sadat diese Gruppen erst geschaffen“ – diese Einschätzung ist heute allgemeine Erkenntnis von Zeitzeugen und Historikern.
Dem Monster, das der einst „freie Offizier“ Sadat geschaffen hat, fällt er selbst zum Opfer. Bei der Parade anlässlich des in Ägypten so empfundenen Sieges gegen Israel im Yom-Kippur-Krieg von 1973 erschiesst am 6.Oktober 1981 Khaled al-Islambuli, ein Mitglied der Gamaa Präsident Sadat. Protest gegen die westliche Lebensausrichtung und gegen die Korruption ist ebenso ein Grund für das Attentat wie Sadats Canossagang nach Jerusalem (so sehen die Islamisten den 1979 geschlossenen Friedensvertrag mit Israel).
Mubaraks traumatisches Erlebnis
Die Muslimbrüder sind an der Ermordung Sadats nicht beteiligt. Im Gegenteil, sie honorieren Sadats Politik, die, wenn auch aus machtpolitischen Gründen, auf Eingliederung der Brüder in das System zielt. Wie Sadats Neffe Anwar Sadat jetzt gegenüber dem britischen Independent (23.August 2013) erklärt, wurde Sadat von den Brüdern sogar geachtet.
Am Beginn von Akt drei des Politdramas steht der ehemalige Luftwaffenoffizier und Vizepräsident Sadats – Hosni Mubarak. Er beginnt mit einer versöhnlichen Politik. Er lässt viele politische Gefangene frei, die Sadat in einem Rundumschlag verhaftet hatte, unter ihnen den koptischen Papst Shenuda, den Sadat abgesetzt und in ein Wüstenkloster verbannt hatte.
Doch bis heute wird Mubarak von einem traumatischen Erlebnis heimgesucht. Bei der Ermordung Sadats stand Mubarak neben dem Präsidenten. Angst vor Attentaten durch religiöse Extremisten bestimmte seine Haltung – auch Angst vor einem Attentat durch die damals gezähmten Muslimbrüder. Tatsächlich überlebt Mubarak etwa sechs Anschläge auf sein Leben. Hintermänner aber sind Mitglieder der Gamaa al-Islamija und des Islamischen Dschihad, die Muslimbrüder sind soweit man heute weiss, nicht beteiligt.
Terror und Mubaraks Repression
Mubarak lässt in diesen Jahren etwa 15 000 Ägypter verhaften, viele von ihnen sitzen jahrelang ohne ordentlichen Prozess in ihren Zellen. Mubarak hält sie für mögliche Terroristen, den wenigsten aber können Verbindungen zum Terrornetzwerk nachgewiesen werden. Dem Westen gegenüber argumentiert er, man müsse entweder seine Politik unterstützen oder das Chaos in Kauf nehmen. Zu dem Chaos zählt er auch die Bruderschaft.
Doch präsentiert sich damals als eine Art Mittelklasse-Club von Architekten, Lehrern, Ingenieuren, Ärzten. Einen bewaffneten Arm wie etwa die Hamas hat sie nicht. Als jüngere Mitglieder der Bruderschaft vor ein paar Jahren eine gemässigte islamische Partei Wasat (Mitte) gründen wollen, verweigert das Regime die Zustimmung. Hat die Bruderschaft die ägyptische Gesellschaft verändert?
Die Renaissance des Islam begann, als die Bruderschaft noch verboten war – nach der Niederlage arabischer Heere gegen Israel 1967. Nassers Ideologie des Pan-Arabismus und des Sozialismus war gescheitert, die Ägypter wenden sich ihren eigenen Wurzeln zu – dem Islam. Zweifellos hat die Bruderschaft den islamischen Trend gefördert. Durch Mubaraks Repressionsapparat ist die Organisation aber eher gestärkt als geschwächt worden.
Die Muslimbrüder kommen an die Macht
Dann kam die arabische Revolution und mit ihr die Wahl des ersten Präsidenten der Muslimbrüder. Eine Zeitenwende. Das Militär sah sich auf der Verliererstrasse. Denn jene, die man jahrzehntelang bekämpft hatte, übten nun die Macht aus. Oft wurde über ein Arrangement zwischen Brüdern und Generälen spekuliert. Die Generäle würden, so hiess es, die Brüder akzeptieren, sofern diese dem Militär sein wirtschaftliches Imperium liessen.
Wahr oder nicht – ein solches Arrangement wird es nicht mehr geben. Zu beobachten aber ist, wie die Brüder allmählich an der Macht Gefallen fanden. Erst wollten sie keinen Präsidentschaftskandidaten aufstellen und nur für einen Teil der Parlamentssitze kandidieren. Doch auf einmal griffen sie nach der vollen Macht. Doch sie waren nicht vorbereitet. Mohammed Mursi wollte nicht Präsident sein. So wurde aus dem „herzensguten Menschen Mursi" (Anwar Sadat) ein Führer wider Willen, der seine Weisungen von der Spitze der Bruderschaft erhielt.
Mursi - Präsident für die Brüder
Aus dem Präsidenten „für alle Ägypter“ wurde ein Präsident der Brüder. Aus der friedlichen Revolution der Tahrir-Jugend wurde eine Revolution nach dem Motto „Steh auf, ich möchte auch einmal sitzen“. Die Muslimbrüder richteten sich in den Sitzen der Macht ein, und sie wollten ihre Ideologie durchsetzen.
Mursi setzte in Luxor sogar einen Gouverneur ein, der einst Mitglied jener Gamaa Islamiya war, die für das Attentat am Tempel der Hatschepsut im November 1997 verantwortlich war. Damals starben über 60 Menschen.
Weitere Fehler beging Mursi auf dem Sinai: gegen die Jihadisten auf der gebirgigen Halbinsel ging Mursi, jedenfalls nach dem Geschmack des Militärs viel zu lasch vor. Dieses wohl auch aus ideologischen Motiven begründete Zögern lieferte den Militärs einen weiteren Grund, am 3.Juli gegen die Muslimbrüder zu putschten.
Anwar Sadat, der Neffe des ermordeten Präsidenten, sagt: „Wäre Mursi weiter an der Macht geblieben, hätten die Muslimbrüder hundert Jahre die Regierung beherrscht.“ Dann hätten sie eventuell in die Tat umgesetzt, was ihr Ideologe, Said Qutb, forderte. Der proklamierte „die totale Rebellion gegen jede Ordnung auf der gesamten Erde, in der die Entscheidung, in welcher Form auch immer, in der Hand des Menschen liegt.“
Das Militär als Retter der Nation?
Aber was kommt jetzt? Die Wiederherstellung des alten Mubaraksystems ? Kein Zweifel, Muslimbrüder sind an vielen Stellen des Landes gewalttätig, auch gegen Christen, vorgegangen. Auf dem Campus der Universität Kairo haben sie ein historisches Gebäude niedergebrannt, in welchem die Ingenieurwissenschaften untergebracht waren. Die Begründung: hier studierten auch Frauen, und das sei dem Koran gemäss nicht erlaubt.
Andererseits zeigt das harte Vorgehen des Militärs – man spricht von etwa 1000 Toten in wenigen Tagen – dass das alte harte Überwachungs- und Unterdrückungssystem seine Auferstehung feiert – mit Zustimmung jener Menschen, die Europa und die USA als „Liberale“ einstufen. In ihren Augen sind alle Muslimbrüder Terroristen, gegen die man mit Gewalt und unter Inkaufnahme von Menschenleben vorgehen müsse.
Das Militär, das vor der Wahl Mursis im Jahre 2012 das Land mit überharter Hand und Folter regiert hatte und dadurch den Protest vieler hervorgerufen hatte, gilt jetzt plötzlich bei vielen als Retter der Nation. Staats- und Privatmedien verbreiten, vom Militär angetrieben, eine Kampagne des ägyptischen Nationalismus, die in diesem Ausmass bisher unbekannt war. Ausländer, insbesondere ausländische Journalisten, werden einseitiger, antiägyptischer Berichterstattung beschuldigt und auch von Fall zu Fall physisch bedroht.
Tahrir-Jugend – vorläufig auf der Strecke geblieben
Auf der Strecke geblieben ist, bis jetzt, die Tahrir-Jugend, die im Februar 2011 den Sturz Mubaraks und – heute wissen wir fälschlicherweise – auch den Sturz des alten Systems feierte.Ist, wie der syrische Machthabe Bashar al-Assad zynisch bemerkte, der arabische Frühling ein Modell, das sich überlebt hat? Gibt es für die arabische Welt nur das Modell der autokratischen Herrschaft ?
„Tahrir maugud“, der „Tahrirplatz ist da“ – dieser Slogan wurde von vielen Ägyptern bis vor kurzem immer noch hoch gehalten. Will sagen: wenn uns eine Regierung nicht passt, können wir jederzeit wieder auf den Tahrirplatz gehen und erneut demonstrieren.
Für die Zukunft des Landes ist entscheidend, ob sich diese Jugend noch einmal aufraffen kann, gegen eine ausufernde Militärgewalt zu rebellieren. Entscheidend wird auch sein, wie der Machtkampf zwischen Brüdern und Offizieren ausgeht. Der schon Generationen währende Konflikt zwischen der etablierten, seit 1952 regierenden Militärmacht und islamistischen Rebellen ist noch nicht entschieden.
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Teil 1 dieses Beitrags erschien am 28. August 2013