Die Soziologin Eva Illouz hat einmal eine Reihe von Personen befragt, ob sie Momente romantischer Liebe erlebt hätten und welche Erinnerung sie daran hätten. Die Befragung ergab, dass fast alle Befragten Geschichten erzählten, die auf Kinofilme, Hotels, Reisebilder oder andere Formen von Konsum hinwiesen.
Illouz zeigt in ihrer Studie, wie seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die Werbung zunehmend Bilder erzeugt, die die Tagträume und die Sehnsucht der Konsumenten nach Liebe, Freiheit, Schönheit, Status und Reichtum bedienen. Ob Waschmaschinen, Kleidung, Parfum, Spirituosen, Deosprays oder Strandhotels: Die Werbefotos zeigten oft Momente der glücklichen Zuneigung eines Liebespaares oder eine intakte Familie.
Diese «Romantisierung der Waren» bewirkte eine starke Rückkoppelung auf den Lebensstil und das Verhalten der Menschen. Menschliche Beziehungen wurden mehr und mehr gleichgesetzt mit dem Konsum von Waren, oder sie waren zumindest immer schwerer davon zu trennen. Heute gibt es Grund zur Beunruhigung. Im Zeitalter der rasenden Produktion des Virtuellen kann einem leicht schwindlig werden, wenn man sieht, in welchem Ausmass Werbebilder auf das «normale Leben» einwirken.
Die Postmoderne ist unter anderem charakterisiert durch die herausragende Bedeutung des Bildes gegenüber dem gedruckten und gesprochenen Wort. Der Sozialphilosoph Pierre Bourdieu schrieb in seiner fundamentalen Kritik am Fernsehen einmal, das Medium erlaube kein ruhiges Nachdenken. Die Politiker würden dort nicht auftreten, weil sie die Gelegenheit hätten zu argumentieren, sondern um gesehen zu werden: «On n’est pas là pour dire quelque chose, mais pour se faire voir et pour être vu.»
Mit der Bild-Dominanz geht das postmoderne Verschwinden der Grenze zwischen dem Wirklichen und seinem Abbild einher. Oft ist nicht mehr zu erkennen, bis zu welchem Grad das Verhalten der Leute nichts anderes mehr ist als die Darstellung von Bildern der Konsumwerbung. Da spielen viele – bewusst oder unbewusst – sich selbst in einem Werbefilm oder treten auf wie zu einem Fototermin. Wobei eine oberflächlich verbreitete Moral sicher einräumt, dass ein Schulbub, der glaubt, seine Akzeptanz in der Peergroup hänge vor allem von seinen Nike-Turnschuhen ab, eine falsche Lektion fürs Leben gelernt hat.
There’s no business like showbusiness
Ein anschauliches Beispiel für die Wechselbeziehung von Werbebild und Wirklichkeit bietet ein Foto im jüngsten Heft des Schweizer Alpenclubs. Da sieht man eine Alpinistin, die hoch über dem Abgrund an einer Felskante klettert. Die Legende lautet: «Luftig umme Egge. Der Gitzigrat bietet zuweilen ausgesetzte Kletterpartien.»
Was bei dem atemberaubend schönen Foto auffällt, ist das Seil. Die Frau geht offenbar im Vorstieg am kurzen Seil und hat das überflüssige Seil nicht etwa im Rucksack verstaut oder eng am Körper aufgenommen, sondern lässt die Seilschlaufen frei aus dem Rucksack hängen. Sie baumeln bis fast an die Knie. Der Fotograf und sein Fotosubjekt mögen vielleicht gedacht haben, das wild fliegende Seil sähe nach Action und Abenteuer aus. Altgedienten Alpinistinnen wird aber schlecht bei dem Anblick. Wenn eine Seilschlaufe irgendwo hängenbleibt, kann es zu einem Sturz kommen, und bei dieser Art von ausgesetzter Kletterei ist ein Sturz verhängnisvoll, denn keiner von beiden ist gesichert, und einer reisst den andern mit. Sowohl beim Klettern als auch bei der Abfahrt mit den Skiern kann eine heraushängende Seilschlaufe sich an einem Stein oder einem Ast verfangen, und das kann tödlich sein.
Die Unart, das Kletterseil «stylish» heraushängen zu lassen, ist heutzutage verbreitet. Zu beobachten nicht erst am Berg, sondern es beginnt schon samstagsmorgens in den Bahnhöfen von Mailand, Zürich oder München. Das Kletterseil perfektioniert den pittoresken Charakter des Erscheinungsbildes. Das Outfit dient zweifellos der Selbstvermarktung, neudeutsch Personal Branding, mit dem Aussagewunsch: Ich bin ein cooler Alpinist, einer der Tollkühnen. Das Seil als distinktives Attribut von Lifestyle. So wie es auch mehr und mehr auf malerischen Werbe-Bergfotos zu sehen ist. There’s no business like showbusiness.
Die Werbung der milliardenschweren Outdoor-Industrie liegt heute wie ein unsichtbares Drehbuch über unserem gesamten Freizeitverhalten. Dieses wird mehr und mehr zur Vorführung der neusten Outdoor-Kollektionen von Jack Wolfskin, Mammut, Haglöfs und wie sie alle heissen. Jede Wanderung, jede Velotour wird ein wenig zur Simulation von «Freiheit und Abenteuer»: Letztgenannte käuflich zu erwerben in Form von Rucksäcken, Schuhen, Helmen, Handschuhen oder Isostar-Hydrate-Drinks.
So schlagen sich die Zwänge des Marktes auf das Leben der Menschen nieder, nicht nur in der Freizeit, sondern überall und unaufhörlich. Die Produktwerbung erzeugt «Lifestyle», und Lyfestyle ist die Nachahmung der Werbung.
Werbung als «offizielle Kunst des Kapitalismus»
Eva Illouz zitiert den Kunsttheoretiker Raymond Williams, der zu dem Schluss kommt, dass nicht die Werbung die Kultur «materialistisch» macht, sondern umgekehrt: Die Werbung erhebt materielle Güter auf eine quasi geistige Ebene und wird damit zur «offiziellen Kunst des Kapitalismus». Die Werbung ist in dieser Logik letztlich das Gefäss, im dem der Traum vom guten und wahren Leben als Bild aufgehoben ist.
Das gilt immer noch für einen grossen Teil der Werbung, wenn auch manches komplexer geworden ist und die Liebespaare heutzutage nicht mehr hetero sein müssen, sondern genderpolitisch korrekt daherkommen, wie im neusten Werbeclip der Migros. Der Fotograf Oliviero Toscani fiel schon in den achtziger Jahren aus dem Schema. Er hat mit Schock-Bildern von abgemagerten Mannequins, sterbenskranken HIV-Positiven oder blutenden Soldaten Werbung für die Benetton-Mode machte. Da ging es letztlich um die Beschaffung der knappen Ressource Aufmerksamkeit und Bekanntheit. Auf die Frage, ob er kein schlechtes Gewissen gehabt habe, mit den Bildern von menschlichem Leid Kasse zu machen, sagt Toscani:
«Absolut nicht. Es ist nur ein Widerspruch, wenn man von einer geheuchelten Moral ausgeht. Wir sind alle Teil eines Marktes. Selbst die sixtinische Kapelle ist Teil eines Marktes, nämlich des Marktes der Religionen. Michelangelo hat mit seinen Gemälden für die katholische Kirche gearbeitet. Die seriösen Journalisten glauben wiederum, Teil eines Wahrhaftigkeitsmarktes zu sein. Aber es gibt letzten Endes nur einen Markt, den Konsummarkt. Er ist alles. Die Zeitung muss verkauft werden wie eine Tüte Chips.»
Toscani hat auch immer wieder betont, er zeige «nur die Realität», und wie er sie zeige, das mache seine Kunst aus. Im Übrigen ist er der Auffassung, erst seit es die Fotografie gebe, bekämen wir zuverlässige Bilder historischer Ereignisse. Das wiederum ist eine enorme Illusion.
Bilder tendieren zur Lüge
Dass Fotos eine Realität zeigen, ist zutreffend, es ist aber die Realität des Fotografierenden, der den Gegenstand des Fotos und den Ausschnitt der Wirklichkeit wählt, den er zeigen will und wahrnehmen kann. Er kann sich täuschen oder betrügen. Unter Kameraleuten ist es eine Binsenweisheit, dass man mit fünfzig Demonstranten einen TV-Screen füllen kann, wenn man nahe genug dran ist. Das sieht dann im Fernsehen aus, als sei es eine grosse Menschenmenge.
Seit der Digitalisierung, also der vereinfachten Möglichkeit der technischen Bildbearbeitung, weiss jedes Schulkind, dass Bilder täuschen können. Aber schon lange vorher war klar, dass ein Bild etwas anderes darstellen kann, als die Bildlegende behauptet. Zahlreich dokumentiert ist der Gebrauch von manipulierten Propagandafotos, die dazu dienten, Kriegshetze zu betreiben oder den Feind zu dämonisieren.
«Einem Bild darf man nicht trauen, Bilder tendieren dazu zu lügen», sagt der Bergfotograf Robert Bösch. «Wenn mir der ‘Stern’ den Auftrag gibt, zu zeigen, wie verbaut und überzivilisiert die Alpen sind, mache ich die Aufnahmen in der gleichen Bergwelt, in der ich für Schweiz Tourismus die unberührte schöne Natur fotografiere. Es ist der Ausschnitt, das Weglassen, was den Unterschied macht.»
In manchen Migros-Läden hängt bei der Kasse ein Werbefoto, auf welchem eine grüne Wiesenlandschaft am Seeufer zu sehen ist. Darüber steht das Wort «Heimat». Das lässt verschiedene Interpretationen zu. Zum einen ist der Detailhändler die Heimat der Konsumenten, zum andern können wir Heimat als Beigabe erwerben, wenn wir Zwiebeln, Deodorant oder Zahnpasta kaufen. Heimat, Glaube, Liebe und Hoffnung, so mag man folgern, gibt es in jedem Supermarkt, zahlbar in bar oder mit Kreditkarte.
Angesichts der übermächtig werdenden Bedeutung von Big Data dürfen wir nicht erwarten, dass in Zukunft die Bilder weniger lügen oder dass die auf dem Erlebnismarkt herrschenden Methoden der Werbung milder werden. Der Zugriff der Suchmaschinen und Provider sozialer Netzwerke auf unser privates Leben wird sich verstärken, und daraus werden Daten gewonnen, die es erlauben, noch umfassender, noch totalitärer, auf uns einzuwirken.
Unter diesen Verhältnissen wird die Werbe-Erzählung zunehmend das Leben bestimmen, und das Leben wird die Erzählung der Werbung nachahmen.
Zitierte Literatur:
Eva Illouz: Der Konsum der Romantik (2007)
Pierre Bourdieu: Sur la télévision (1996)