Man schrieb den 5. März 2012. Es war 11 Uhr am Vormittag. Ein Montag noch dazu. Und Saint Quentin in der Picardie, 120 Kilometer nördlich von Paris, ist eine triste Stadt in der von Weltkriegen heimgesuchten, endlosen Ebene Richtung Nordfrankreich.
Das Rücken nach rechts
Man weiss nicht, ob Präsident Sarkozy alles in allem ein gutes Wochenende verbracht hatte, man weiss nur, dass seine Laune an diesem Montag nicht die beste sein konnte. Den Sonntagnachmittag hatte er sich in Bordeaux um die Ohren schlagen müssen: Wahlkampfrede vor 10‘000 Anhängern. Ausgerechnet im eher gemässigt konservativen Südwesten Frankreichs mit einer stillen Vorliebe für das politischen Zentrum hatte sich Sarkozy für das besonders Grobschlächtige entschieden und in seiner einstündigen Rede wieder einmal so weit rechts wie möglich gewildert. In einem Landstrich, in dem die Tradition des sogenannten „Radikalsozialismus“ noch weiterlebt – eine politische Strömung, die in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickte: ein strenges Bekenntnis zu den Grundfesten der Republik, gepaart mit einer kräftigen Dosis Antiklerikalismus. In dieser Region habe er mit seiner besonders rechtslastigen Rede vielleicht nicht den angemessenen Ton getroffen – sagten ihm örtliche Parteifreunde hinterher.
Sarkozy war das egal, irgendwas muss man ja versuchen, um aus diesem Jammertal des Meinungstiefs herauszukommen. Und da von einer einigermassen kohärenten Linie oder gar von einer Vision für das Land ohnehin schon lange nicht mehr die Rede sein kann, versuchte es Nicolas Sarkozy in diesen Tage eben wieder einmal ganz rechts auf der Tastatur. Und er freute sich, dass der obskurste seiner Berater wieder zufrieden lächelte, sofern man bei Patrick Buisson, dem Mann mit der rechtsextremen Vergangenheit und dem Pokerface, überhaupt von einem Lächeln sprechen kann. Dieser Mann hatte ihm 2007 zum Wahlsieg verholfen - davon ist Nicolas Sarkozy nach wie vor überzeugt.
Also vertraut er sich in der Verzweiflung und der schier aussichtslosen Lage wieder diesem Mann an, dessen Maxime heute wie vor fünf Jahren lautet: Um die Macht zu erobern oder zu behalten, muss man in allererster Linie die ganz niederen Instinkte der Franzosen kitzeln. Also: bedingungslos Draufhauen bei Themen wie Immigration, innere Sicherheit und Islam, auf keinen Fall vor etwas zurückschrecken, je dicker aufgetragen, desto besser. Nicolas Sarkozy weiss inzwischen selbst nicht mehr, ob das wirklich die richtige Strategie ist - aber egal, wie gesagt, irgendwas muss man ja tun, schliesslich ist Wahlkampf. Nur noch 48 Tage waren es an diesem Montag in Saint Quentin bis zum ersten Wahlgang und immer noch keine positiven Regungen in den Meinungsumfragen. Stagnation bei 23 %, was mindestens so trist ist, wie diese Stadt, in der für Nicolas Sarkozy eine weitere Woche des mühsamen Wahlkampfs begann. Xavier Bertrand, noch Arbeitsminister, einer der Zöglinge von Nicolas Sarkozy und einer seiner engagiertesten Stiefellecker, ist in dieser Stadt Bürgermeister. Ihm war die schlechte Laune des Kandidaten und Präsidenten an diesem Morgen nicht geheuer. Zur Sicherheit überbot er sich im Schleimen.
Harte Wahlkampfrealität
Die letzte Woche, das weiss der rundliche Xavier Betrand an diesem Montagmorgen, steckt seinem Präsidenten und Kandidaten noch gewaltig in den Knochen. Im baskischen Bayonne war während eines Wahlkampfbesuchs nicht zu übersehen gewesen, dass Nicolas Sarkozy nicht so recht wusste, wie ihm geschah - eine halbe Stunde lang nur gellende Pfiffe und feindliche Beschimpfungen auf der Strasse und die katastrophalen Fernsehbilder eines verängstigten, plötzlich machtlosen Präsidenten. So etwas wird es nicht mehr geben, hatte sich der wahlkämpfende Präsident da geschworen – und prompt wurde sein nächster Wahlkampfausritt ähnlicher Art quasi militärisch gesichert.
Als in einem Kleinstädtchen am Ende der Welt im Département Loire ein paar Dutzend Gewerkschafter, einige verstreute Linksextreme und ein paar unzufriedene Lehrer am frühen Abend das eine oder andere Spruchband hoch hielten, da hatten sie noch kaum den Mund aufgemacht, um Unfreundliches kund zu tun, schon waren 200 schwer gerüstete Bereitschaftspolizisten da, liessen das Tränengas kräftig regnen und die Knüppel locker und gezielt schwingen. Doch wie man es macht, macht man es zur Zeit offensichtlich falsch. Auch solche Fernsehbilder hatte sich das Wahlkampfteam von Sarkozy nicht gewünscht.
Aber auch das ist jetzt schon egal, fast jede Strategie ist, seit der Präsident für seine Wiederwahl in den Wahlkampfring gestiegen ist, über den Haufen geworfen worden – auf eine mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an, und im Grunde gibt es sie schlicht nicht mehr - die Strategie. Also hat man das Ganze vor dem Pariser Wahlkampfquartier des Präsidenten letzte Woche gleich noch einmal vorexerziert: 200 Stahlarbeiter aus Lothringen wollten mit dem kandidierenden Präsidenten über die Schliessung eines der letzten Hochöfen in der Stahlregion diskutieren. Nicolas Sarkozy hat sie nicht nur nicht empfangen, sondern auch da das Tränengas regnen lassen. Was hatte der Wahlkämpfer Sarkozy vor vier Wochen noch gesagt? Er wolle „durch das Volk, mit dem Volkk und für das französische Volk“ gewinnen. Die Stahlarbeiter gehören offensichtlich nicht zu diesem Volk. Sind ja auch alle Gewerkschafter, ihm ohnehin feindlich gesonnen.
Die Lust am Fleisch
Nach dem Schock von Bayonne und vor dem Tränengas- und Knüppelspektakel in der Loire und in Paris schien Nicolas Sarkozy an diesem Montag im tristen Saint Quentin jedenfalls noch weniger zu wissen, was tun und auf wen hören. Aber irgend was musste er ja tun. Also sagte er in Saint Quentin einfach mal folgenden Unsinn:
„Die erste Sorge, das wichtigste Gesprächsthema der Franzosen heute ist diese Frage des Halal-Fleisches.“
Buisson, das Pokerface, hatte ihm wohl gesagt, das sei gut, das würde was bringen. Egal ob der Kandidat und Präsident eine Woche früher zu diesem Thema etwas völlig anderes gesagt hatte, in dieser verflucht kalten Kühlhalle damals, im weissen Kittel zwischen den blutigen Rinderhälften auf dem Grossmarkt von Paris. Irgendetwas in die Richtung wie: Es gibt keinen Grund und keinen Anlass, eine derartige Diskussion über Fleisch vom Zaun zu brechen, hatte er geäussert.
Aber das war an diesem Montag in Saint Quentin eben Schnee von gestern und Nicolas Sarkozy setzt schliesslich nicht zum ersten Mal einen schwäbischen Spruch, den er natürlich nicht kennt, perfekt in die Tat um, einen Spruch, der da lautet: „Was geht mi mei saudumms Gschwätz von Geschtern an.“ Egal auch, dass er zu diesem Thema 48 Stunden später wieder etwas anderes sagen würde – an diesem tristen Montagmorgen in Saint Quentin musste das wohl so gesagt werden.
Was die Franzosen sorgt
Und man sagte sich, ja es fiel einem wie Schuppen von den Augen: Gewiss doch, exakt das sind wirklich die Sorgen der Franzosen! Das Fleisch und wie genau die Tiere vorher geschlachtet wurden , das sorgt den Franzosen morgens beim Rasieren und die Französin beim Schminken, nur daran denken sie, die Franzosen, wenn sie morgens ihre Kinder zur Schule bringen, sich in die Vorstadtbahn quetschen, von ihren Vorgesetzten zurechtgewiesen werden oder ängstlich ihre Kontoauszüge lesen. Mit seiner Freundin, mit seinem Schuster, mit dem Zahnarzt und dem Wirt im Bistrot, mit allen redet der Franzose neuerdings nur über das eine: über Fleisch!
Was den Franzosen egal ist
Angst, den Job zu verlieren, sozial degradiert zu werden und ins relative Elend abzurutschen, Angst um die Zukunft der Kinder und das schwindende Geld in der Geldbörse – all dies ist den Franzosen selbstverständlich völlig egal, genauso wie die riesigen Berge von Staatsschulden, das monatliche Wegfallen tausender Industriearbeitsplätze, der Zustand Europas, die katastrophale Handelsbilanz des Landes, die Ungewissheit, wie es mit Frankreichs Atomindustrie weitergehen wird, ob man vielleicht aus der Atomenergie aussteigen sollte und wie die Energieversorgung in den nächsten Jahrzehnten gesichert wird, vom Klimawandel ganz zu schweigen - alles Peanuts, no problem, das echte Problem, die echte Sorge aller echten Franzosen ist das Fleisch und da besonders die Frage, wie genau das Tier nun geschlachtet wird, bevor es Fleisch wird. Diesen Satz über die Hauptsorge der Franzosen hat nicht ein notorischer Stammtischbruder, der gerade nach dem 7. Bier gerufen hat, eben mal vor sich hin gebrummelt, sondern der Präsident der 5. französischen Republik hat ihn laut und deutlich ausgesprochen. Sicherlich: es geht für Sarkozy um die Wurst. Muss er deswegen aber auch unbedingt vom Fleisch sprechen?
Dass für mehrere Millionen Franzosen die eigentliche Frage eher lautet: können wir in dieser Woche ein Mal oder zwei Mal Fleisch essen oder überhaupt nicht - darauf kommt der Anti-Gourmet, Nicolas Sarkozy, erst gar nicht. Solange man ihm im Hotel Bristol, einen Steinwurf vom Elyséepalast entfernt, ein Trüffelrisotto serviert, und sei es fünf Mal in der Woche, ist er zufrieden. „Wir sind bescheidene Leute“ hatte Ehefrau Carlita zwei Tage nach dem tristen Morgen in Saint Quentin in den Kulissen eines Pariser Fernsehstudios geflötet, nachdem ihr Ehemann sich dort vor den Kameras und den Franzosen drei Stunden lang abgemüht hatte, das Volk davon zu überzeugen , ihn doch noch einmal zu wählen.
Wettlauf mit extrem Rechts
Der Kandidat Sarkozy und seine Helfershelfer hatten in jenen Tagen tatsächlich nichts Wichtigeres zu tun, als auf den von der rechtsextremen Marine Le Pen gestarteten Zug aufzuspringen und sich dort im selben Mist zu suhlen und aus diesem Zug mindestens ebenso übelriechende Phrasen in die Welt hinaus zu posaunen , wie die Passionara der französischen Rechtsextremen. Sie war mit der unsinnigen Behauptung vorgeprescht, das gesamte Fleisch in der elf Millionen Einwohner-Region Paris werde nach dem Halal-Ritus geschlachtet – und Sarkozys schnelle Truppe war ihr, wie eine Schafherde auf dem Weg zum Schlachthof, kopflos hinterher gerannt. Möglicherweise aber eben auch sehr bewusst, auf Anordnung von Pokerface Buisson, in der Hoffnung vielleicht doch noch ein paar Stimmen von der extremen Rechten zu ergattern, vorausgesetzt, man zeigt sich in deren Untiefen wirklich auf der Höhe und lässt es gehörig und fleischeslustig krachen. Nach dem Motto: „Alle sprechen vom Fleisch, wir , Sarkozys schnelle Truppe, auch.“ Und sogar noch pfundiger.
Der Mann fürs Grobe
Sarkozys Mann fürs besonders Grobe, Innenminister Claude Guéant - auch Kardinal genannt, aus Zeiten, da er sich etwas weniger grob, dafür umso geheimnisvoller und scheinheiliger zeigte und im Dunklen so manchen gefährlichen Faden spann – wartete mit der nach gründlich verdorbenem Fleisch riechenden Formulierung auf : „Wenn das Kommunalwahlrecht für aussereuropäische Ausländer kommen sollte, wie es der sozialistische Kandidat Hollande fordert, werden in Zukunft Bürgermeister dafür sorgen können, dass in Schulkantinen nur noch Halal-Fleisch serviert wird.“ Zwei Fleischfliegen mit einer Klappe erledigt, sagte sich Sarkozys beflissener Weggefährte - Angst vor Ausländern geschürt und den Islam zackig an den Pranger gestellt. Und Monsieur Guéant klopfte sich diskret auf die rechte Schulter.
Irgendwann hat Kandidat Sarkozy, oder war es der Präsident, dann zwar verlauten lassen, damit sei er jetzt doch nicht so ganz einverstanden, aber das ist zwischen Schlachtgeschrei und Fleischmassen untergegangen. Wie gesagt: ist im Grunde ja auch schon egal, man redet eben viel Fleisch, wenn der Tag lang ist.
Irgendwas aber ist faul an diesem Fleischgetöns und stinkt gewaltig zum Himmel. Man möchte vom Fleisch fallen. Oder wie war das noch mal? Richtig – man möchte aus der Haut fahren.
Hoffnungsschöpfen
Zumal Nicolas Sarkozys hemmungsloses Wildern im ultrarechten Gehege zwei Wochen später – wenn auch nur geringfügig – erste Ergebnisse zu bringen scheint. Er hat das Jammertal der Meinungsumfragen zwar noch nicht wirklich verlassen, aber immerhin : drei, vier Punkte hat er aufgeholt, liegt jetzt im 1. Wahlgang laut fast aller Meinungsumfragen mit dem sozialistischen Herausforderer Hollande Kopf an Kopf bei 27 bis 28 %. Und das beflügelt. Der Präsident, den die Meinungsumfragen angeblich nicht interessieren, wo jeder weiss, dass er schon vor dem Frühstück ein halbes Dutzend davon verschlingt, hat an diesem Wochenende , fünf Wochen vor dem 1. Wahlgang, erstmals den Satz in den Mund genommen: „ On va gagner“ - wir werden siegen.
Die neuen Umfragewerte , die noch keine wirkliche Tendenzwende anzeigen und die Sarkozy in der entscheidenden 2. Stichwahl am 6. Mai bei maximal 46% ansiedeln, haben den konservativen Kandidaten offensichtlich auch dazu beflügelt, die letzten Hemmungen fallen zu lassen und auf seinen sozialistischen Herausforderer einzudreschen, als wolle er Kleinholz aus ihm machen – sein Wahlkampfauftritt an Samstag in Lyon war in dieser Hinsicht ein Paradebeispiel.
François Hollande wurde in Sarkozys schäumendem Mund zu einem Deserteur, zu einem, der Frankreich nicht liebt, die Franzosen nicht respektiert, zu einem Lügner und einem, der Frankreich in den Abgrund bringen will – Kübelladungen voller Masslosigkeiten, Übertreibungen und Unverschämtheiten wurden da ausgegossen. Getreu nach dem Motto von Sarkozys Mephistopheles, Pokerface Patrick Buisson : je dicker aufgetragen, desto besser.