Am 24. September 2017 wird die Volksabstimmung zeigen, ob die Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Zusatzfinanzierung der AHV und die Reform der Altersvorsorge 2020 im Volk Zustimmung finden werden. Seit Wochen prasseln die mehr oder weniger originellen Werbespots der verbissen kämpfenden Gegner und Befürworter dieses längst überfälligen Reformschritts auf uns nieder. Neue, brauchbare Argumente sind nicht in Sicht. Alte Kritiken sind zerschlissen. Wenn nicht beiden Vorlagen zugestimmt wird, stehen wir vor einem helvetischen Scherbenhaufen.
Standpunkte statt Reformen
Schon längst sind die Standpunkte der Parteien bekannt. Dennoch wird auf der Bühne, im grellen Scheinwerferlicht, behauptet, bewiesen, beteuert. In den Rängen gähnt das gelangweilte Publikum, das sowieso nur wegen des anschliessenden Gratis-Apéros gekommen ist. Gestützt werden die Darsteller in letzter Zeit durch „Experten“, die in letzter Sekunde noch ihre neuen, genialen Ideen zur Deblockierung der Pattsituation kundtun.
Sie alle kennen den Weg zu einer besseren Reform, zu cleveren Anreizsystemen zur Selbstheilung des Patienten AHV, zur Beseitigung hoher Defizite oder ganz einfach zur Formulierung jener paar Sätze, die alsbald in Form eines neuen Bundesbeschlusses oder Bundesgesetzes den ungeteilten Beifall des Schweizervolkes finden würden. Es wäre damit der gordische Knoten durchtrennt, das wichtigste Sozialwerk der Schweiz auf Jahre hinaus saniert. Wenn das so einfach wäre.
Denn obwohl grosse Bevölkerungskreise im Land seit Jahrhunderten wissen, dass Kompromisse (Bruder Klaus!) besser sind als sturer Kampf, dass ein kleiner Schritt in die gute Richtung lohnender ist als das Verharren in der Blockade oder dass unumgängliche Reformen von den verschiedenen Teilnehmern auch Opfer verlangen – Parlamentarierinnen und Parlamentarier sehen sich derweil als unentwegte Kämpfer für die „richtige“ Sache. „Richtig“, persönlich definiert und deshalb relativ. Lieber während Jahrzehnten keine Reformen als „falsche“.
Definition eines Kompromisses
An dieser Stelle sei es gestattet, allen Kräften, die sich ernsthaft um einen Kompromiss bemühen – jedoch, und vor allem: allen anderen –, eine Kompromiss-Definition in Erinnerung zu rufen: Der Kompromiss ist die Lösung eines Konfliktes durch gegenseitige freiwillige Übereinkunft, unter beiderseitigem Verzicht auf Teile der jeweils gestellten Forderungen. Es wird von den Verhandlungspartnern, ausgehend von den eigenen Positionen, eine neue Mittelposition gebildet und diese erzielte Einigung als gemeinsames Ergebnis dargestellt. Der Kompromiss ist die vernünftige Art des Interessenausgleichs und des Dissens-Managements. Er lebt von der Achtung der gegnerischen Positionen und gehört zum Wesen der Demokratie.
Letzte Ablenkungsmanöver
Nachdem das rote Büchlein des Bundesrates mit den Erläuterungen zu den beiden Vorlagen verteilt worden ist, bemängelt die bürgerliche „Generationenallianz“ die darin gewählte, selektive Auswahl der gegnerischen Argumente, fokussiert auf das Referendumskomitee. Offensichtlich gingen die Autoren des 61 Seiten umfassenden Informations-Papiers davon aus, dem Volk sei längst klar, dass SVP, FDP und Wirtschaftsverbände diese Rentenreform mit allen Mitteln bachab schicken möchten. Da jedoch auch die SP, Grünen und Gewerkschaften als Befürworter ihren Unmut kundtun, dass nur sie als Gegner der Reform dargestellt werden, äussert sich eine SP-Vertreterin mit der tiefschürfenden Bemerkung, dass ein solches Vorgehen des Bundesrates „für die Leute verwirrend sei“ (TA).
Diese Diskussionsverlagerung weg vom Thema auf die Nebenkriegsschauplätze kann niemanden verwundern. Wenn längst alles gesagt ist und die Printmedien dennoch seit Wochen fast täglich „News“ zu dieser Abstimmung auflegen, kann es sich ja nur um Ablenkungsmanöver handeln.
Und – Hand aufs Herz: Sind Ihnen, liebe Abstimmende, beim stundenlangen Durchforsten der spannenden Lektüre der Bundeskanzlei diese oder andere Widersprüche überhaupt aufgefallen? Die lange Liste der Detailkritik an dieser Vorlage, mit der nach 20 Jahren (!) erfolgloser Reformversuche endlich ein zögerlicher Schritt Richtung Gesamtsanierung der Altersvorsorge gewagt wird, ist Ausdruck des grossen Missverständnisses: Widersprüche sind kaum zu vermeiden, wenn beim grossen Jekami des Parlaments und der Verbände allen Seiten Recht getan werden soll.
Kein Generationenvertrag
An dieser Stelle sollen die wichtigsten Argumente für oder gegen die Rentenreform nicht nochmals aufgewärmt werden, sie sind nachzulesen im Beitrag „Viele Köche verderben den Brei“ vom 16. April 2017. Wichtig scheint mir der unumstrittene Befund, dass die älteren Generationen damit zulasten der jüngeren profitieren. Das Milliardenloch, das sich im Laufe einer Generation (2017–2045) auftut, ist gigantisch. Es summiert sich das Zusatzdefizit aller in diesem Reformpaket getroffenen Massnahmen auf eindrückliche 2,1 Milliarden Franken. Das heisst nichts anderes, als dass sich zwischen 2035 und 2045 dieses Zusatzloch von 1,1 Milliarden auf 2,1 Milliarden Franken vergrössern wird. Das wird dann allerdings die jüngeren Generationen betreffen, da sind wir uns einig.
Das sei klassische Verschleierungstaktik des Bundes, meint die NZZ. Dieser Befund seinerseits ist jedoch etwas tendenziös, denn das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) rechnet im regulären Finanzausblick eben nur bis 2035. Und da ist einmal mehr daran zu erinnern, dass der Blick in die Zukunft – je weiter er reichen soll – desto unschärfer wird. Immer und immer wieder hat es sich in der Vergangenheit gezeigt, dass auch auf der Einnahmenseite der AHV positive Überraschungen auftraten, die prognostizierte „Löcher“ schrumpfen liessen.
Die jüngeren Generationen bleiben zu oft den Abstimmungen fern und überlassen das „uninteressante“ Geschäft ihren Vorfahren. Dafür sind sie, die unter 45-Jährigen, allerdings dann selber verantwortlich.
Jugendorganisationen, wie „Operation Libero“ oder „Sajv“ (Dachverband der Jugendorganisationen), mögen sich nicht gegen Bersets Reform wenden. Was Flavia Kleiner (OL) vielen aktiven Bundespolitikern ins Ohr flüstert: „Es gibt Gründe für und wider die Altersvorsorge 2020. Das Ausspielen von Jung gegen Alt empfinde ich selbst als störend und nicht zielführend für gemeinsame Lösungen. Klar ist, dass die Reform zu wenig weit geht, um die Renten langfristig zu sichern. Es wird so oder so weitere Schritte brauchen.“ (SonntagsZeitung).
Das Dreisäulenprinzip
Das Dreisäulenprinzip (AHV, Pensionskasse, private Vorsorge) des Schweizerischen Altersvorsorgesystems ist ebenso eindrücklich wie reformbedürftig. Das Risiko auf drei Säulen zu verteilen macht Sinn. Dass das Umlageverfahren der AHV aus dem Gleichgewicht schlingert und dringend den gesellschaftlichen Realitäten (steigende Lebenserwartung) angepasst werden muss, ist unbestritten. Deshalb wird die heisse Kartoffel der Rentenalterserhöhung (arbeiten bis 67) zum nächsten grossen Volksabstimmungs-Stolperstein. Dieses Umlageverfahren zu korrigieren, ist schmerzvoll. Das Kapitaldeckungssystem der Pensionskassen ist es nicht weniger. Beide müssen sich den Geboten der Gegenwart und Zukunft unterordnen. Die dritte Säule – das private Ansparen aus Eigenverantwortung – darüber wird eifrig geschwiegen. Sparen ist gegenwärtig bei den Jungen etwas ausser Mode geraten.
Der „heitere“ Schlusspunkt
Die Nationalrätinnen Ruth Humbel (CVP) und Regine Sauter (FDP), tonangebende Politikerinnen in der zweijährigen Ausmarchung um diese Vorlage, trugen im Streitgespräch mit der NZZ einiges zur zusätzlichen Verwirrung bei. Humbel verteidigte die Reform als tragfähigen Kompromiss, für Sauter verfehlt sie ihre Ziele. Sauter weiter wörtlich: „Wenn das Volk die Vorlage ablehnt, dann machen wir nicht einfach nichts, sondern wir kommen rasch mit einer besseren Vorlage.“ Da allerdings darf gelacht werden – nach 20 Jahren erfolglosen Bastelns „rasch eine bessere“ aus der Schublade zu zaubern, ist das jetzt simple Propaganda oder Prognose wider besseres Wissen einer Märchentante?