Klassenkämpferische Parolen bringen uns der längst überfälligen Altersreform nicht näher. Sturheit und Unversöhnlichkeit auch nicht. Will sich die Schweiz am 24. September 2017 nicht einmal mehr selbst beweisen, dass sie schwer reformierbar ist, braucht es ein JA an der Urne. Jene Kreise, die immer noch nicht begriffen haben, dass Kompromiss statt Kampf das Land weiterbringt, sind vergleichbar mit Brandstiftern aus dem Kreis der Feuerwehr.
Morgen, morgen, nur nicht heute
Es scheint eine typische Einstellung einiger Bundespolitiker zu sein, dass sie ihre (Partei-) Meinung höher gewichten, als zielorientiertes Politisieren. Wie anders ist es zu erklären, dass die eidgenössischen Räte samt den ihnen zugewandten Gewerkschaften, Lobbyisten und PR-Agenturen seit nunmehr 20 Jahren an einer Reform herumbasteln, die sie unisono zwar als dringlich und überfällig bezeichnen, „aber nicht so“?
Kritisieren dieser Vorlage ist zu einfach. Die Einsicht, dass es zu einem gut eidgenössischen Kompromiss Weitsicht, Grösse und Verzicht braucht, ist zwar da und dort vorhanden, doch lässt sich diese versöhnliche Haltung medial nicht reisserisch auswerten. Jene Kreise, die den in der Frühjahrssession 2017 mühsam erarbeiteten Reformvorschlag des Parlaments jetzt an der Urne bodigen möchten, sei in Erinnerung gerufen: Schon mehr als einmal in den letzten Jahren hat sich das Stimmvolk klüger verhalten, als ihm aus Bern, Parteizentralen oder Chefredaktionen zugemutet wurde.
Fakten zur Gesamtschau
Heute bezahlt die AHV eine minimale Rente (1. Säule) zur Existenzsicherung und Vermeidung von Armut. Die AHV ist obligatorisch und wird durch Bundesbeiträge, Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Beiträge gespiesen. Die berufliche Vorsorge (2. Säule) – Pensionskasse – soll darüber hinaus ein etwas komfortableres Leben ermöglichen. Auch sie ist obligatorisch, von Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu finanzieren. Die private Vorsorge (3. Säule) ist freiwillig. Wer will und kann, spart hier nach eigenem Gutdünken für später, solche Einzahlungen sind zudem steuerlich privilegiert.
Haupttreiber des Reformzwangs ist die Alterung unserer Gesellschaft. Diese ist Tatsache und ein prognostizierter Rückgang der Arbeitenden verstärkt die Kluft.
Gemäss Vimentis wird der Anteil der über 65-Jährigen zwischen 1995 und 2035 von 15 auf 26 Prozent der Bevölkerung ansteigen.
Gleichzeitig wird die Anzahl der Erwerbstätigen, die für einen Rentner aufzukommen haben werden, von 3,8 auf 2,0 Personen sinken.
(*Schätzungen BFS)
Die hängige Reform sieht vor, mit verschiedenen Massnahmen diesem Szenario zu folgen. Erstens: bei der AHV mit einer Erhöhung des Rentenalters für Frauen von 64 auf 65 Jahre, zweitens einer Erhöhung der MwSt um 0,6 Prozent und drittens mit zusätzlichen 0,3 AHV-Lohnprozenten. Parallel dazu kommt eine Senkung des Umwandlungssatzes bei der 2. Säule von 6.8 auf 6.0. (Angesichts tieferer Renditen auf Sparguthaben werden die Renten aus den angesparten Kapitalbeträgen nach einer Senkung des Umwandlungssatzes deshalb sinken).
Verzicht statt Forderung
Keine noch so vermeintlich clever formulierte Abstimmungszeitung oder -parole wird übertünchen können, dass es à la longue nicht ohne Verzicht ablaufen wird. Eine Sanierung unserer europaweit als vorbildlich taxierten Altersvorsorge ist angesichts laufend steigender Bezügergenerationen also unumgänglich. Ohne Gegenmassnahmen würde sich der AHV-Topf sukzessive leeren, deshalb braucht es Verzicht auf mehreren Ebenen. Wer heute der Bevölkerung vorgaukelt, der AHV-Fonds wäre auf Jahre hinaus in der Lage, ohne schmerzende Reform im bisherigen Rahmen Renten auszuzahlen, bleibt einer polemischen, ideologischen Sicht verhaftet.
Auch wenn in der Gegenwart angesichts hoher Reserven und Erträgen noch „Freude herrscht“, wir reden hier um die Zukunft. Und um die Zukunft der Pensionierten in mit den Jahrgängen 1970 und später und generell der jüngeren Arbeitnehmenden. So oder so gehen die Reformbemühungen auf Kosten der Jungen.
Wo sich die Geister scheiden
Hauptstreitpunkt beim Reformvorschlag ist das Ständerats-Zückerchen: Neurentner sollen eine monatliche AHV-Rentenerhöhung nach dem Giesskannenprinzip von 70 Franken erhalten. Begründet wird diese vordergründig kontraproduktive Geste (die 1,4 Milliarden zusätzlich kosten wird) als Kompensation für sinkende Renten aus der 2. Säule (siehe oben).
Das ist, gelinde gesagt, eine umstrittene Idee. Doch Bundesrat Alain Berset erinnert in der NZZ an Folgendes: „Die Idee war, zu sanieren, aber zugleich auch zu kompensieren. Nur zu sparen, das kann man versuchen, aber es würde scheitern, wie es in der Vergangenheit mehrfach der Fall war. Das ist eine Frage der Lernfähigkeit.“ Damit stehen wir wieder am Anfang dieses Beitrags. Ohne Kompromisse geht es schlicht nicht und deshalb – um ein Fiasko zu verhindern – ist diese Kröte wohl zu schlucken.
Alain Berset erweist sich als lernfähiger Taktiker. Zwar ist auch ihm bewusst, dass eine nachhaltige Sicherung der AHV langfristig nur durch stufenweises Verzichten möglich sein wird. Doch die Lehre, die er aus den gescheiterten Vorlagen gezogen hat, tönt plausibel: Wir müssen die erste und die zweite Säule als Gesamtpaket betrachten. Sonst scheitern wir an der Urne.
Rentenalter 67?
Das Rentenalter früher oder später – angesichts stark steigender Lebenserwartung – von 65 auf 67 Jahre zu erhöhen ist eine rationale, begründbare Idee, die bürgerliche Politiker und ihnen zugewandte Verbände als logische Massnahme propagieren. Theoretisch ist dieser Schluss sogar zu beweisen. Doch: wie sieht die Praxis aus? Während der Niederschrift dieser Zeilen ist im Kioskaushang zu lesen: „Arbeitslosenrate sinkt, dafür steigt sie bei den über 55-Jährigen“. Über 55 – wohlverstanden – diese älteren Semester werden in der Wirtschaft nach wie vor zu oft diskret früh verabschiedet oder im besseren Fall „frühpensioniert“.
Stellensuchende über 50 haben innert fünf Jahren von 45‘000 auf 59‘000 zugenommen (+32 Prozent), während unter 50 der Anstieg nur 16 Prozent betrug. Zwar wiegelt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) ab und verweist auf den Fact, dass Ältere generell einer unterdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit ausgesetzt wären. Was es verharmlost und verschweigt: Bei diesem Vergleich werden Zehntausende von Stellensuchenden und Ausgesteuerten gar nicht erfasst. Dass Statistiken die „Wahrheit“ des Auftraggebers unterstützen sollen ist eine längst bekannte Tatsache, alle machen das so. In diesem Fall liegt das Problem bei den Langzeitarbeitslosen, resp. Ausgesteuerten, die bei der Seco-Statistik gar nicht erfasst werden.
Wer unter diesen Voraussetzungen mit zwei Jahren zusätzlicher Arbeitszeit liebäugelt, hat das System unserer direkten Demokratie nicht verstanden. Das hat weder mit Links oder Rechts zu tun, sondern damit, dass – einerseits – Jung und Alt in unserem Land schlicht nicht gewillt sind länger zu arbeiten und – andererseits – eine Mehrheit der Arbeitgeber noch immer Arbeitnehmende über 50 diskriminiert.
Ein Wort zur zweiten Säule
Während die AHV im Umlageverfahren funktioniert (mit den laufenden Einzahlungen werden die Renten finanziert), ist bei den Pensionskassen das Kapitaldeckungsverfahren System: Jede und Jeder spart für sich sein persönliches Kapital an. Wenn also bei dieser Revision der Umwandlungssatz für Pensionskassengelder gesenkt wird, ist dies eine Folge der Nullzinspolitik der Notenbanken. Null- oder sogar Negativzinsen bedrohen Pensionskassen und Versicherte gleichermassen.
Auch wenn einzelne Pensionskassen an den Aktienmärkten momentan respektable Renditen erwirtschaften, gilt doch die Regel, dass fast 35 Prozent dieser Anlagen aus Sicherheitsgründen in Obligationen parkiert sind, weniger als 30 Prozent in Aktien und gute 15 Prozent in Immobilien. Angesichts drohender Aktien- und Immobilienblasen sicher eine vernünftige Praxis. Gesamthaft sind die Renditen im Sinkflug und parallel dazu die auszubezahlenden Renten.
Noch immer haben viele Menschen gar nicht realisiert, was das für sie konkret heissen wird. Nehmen wir das Beispiel des TA mit einem angesparten Alterskapital von 500‘000 Franken: Sinkt der Umwandlungssatz von 5.5 Prozent auf 4.5 Prozent verbleiben von der ursprünglich geplanten Monatsrente von 2521 Franken noch ganze 1875 Franken.
Realität statt Illusion
In unserer direkten Demokratie entscheiden wir selbst über Reformen und wir tendieren klar dazu, viel zu wenig in dieser Hinsicht zuzulassen. Stichwort Besitzstandwahrung. Für einmal gilt es also, wenigstens einen kleinen Schritt in die Zukunft zu wagen. Auch wenn er marginal und zögerlich ist und wir davon ausgehen können, dass bereits in zehn Jahren weitere, mutigere und einschneidendere nötig sein werden – jetzt ein Scheitern an der Urne zu provozieren wäre fahrlässig.
Am Tag nach dem Parlamentsentscheid im März 2017 provokativ mit einer Erhöhung des Rentenalters auf 67 „im nächsten Schritt“ zu drohen ist unklug. Ebenso unverbesserlich sind jene Kreise, die nicht akzeptieren wollen, dass das Rentenalter der Frauen demjenigen der Männer angeglichen werden soll. Illusionen nachzuhängen war noch nie eine erfolgreiche Zukunftsstrategie.
Auf die lange Sicht bleibt offen, ob bis in zehn Jahren der finanzielle Leidensdruck soweit gestiegen sein wird, dass dannzumal die Hauptprobleme einer erneuten, grundlegenden Reform ernsthaft angepackt, statt auf die lange Bank geschoben werden müssen.
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