Die Grünen in Deutschland erleben derzeit eine Talfahrt, die auch Absturz genannt werden kann. Sie verlieren Wahlen und Abstimmungen, können sich in der Regierung mit SPD und FDP nicht durchsetzen, und ihr Wirtschaftsminister wirkt gedämpft, mehr und mehr gereizt, geradezu trotzig.
Die Liste der neuesten Schlappen oder Klatschen liest sich wie ein schlechtes Schulzeugnis. Es beginnt mit der Benotung in den Umfragen. Im Mai 2021, vor der Bundestagswahl vom 26. September 2021, standen die Grünen bei 26 Prozent. In den Wahlen selbst erreichten sie 14,8 Prozent. Aber im Juli 2022 kamen sie auf 23 Prozent. Heute sind sie in den Umfragen auf 16 Prozent abgerutscht.
Blatt überreizt
Das ginge ja noch. Aber in Berlin verloren sie am 12. Februar 2023 die Nachwahl, in der sie mit ihrer Spitzenkandidatin Bettina Jarasch ganz knapp – wirklich nur äusserst knapp – hinter der SPD landeten, mit der sie zusammen mit der Linken regiert hatten. Die wendige Franziska Giffey, bisherige Regierende Bürgermeisterin von der SPD, rettete sich in eine Koalition mit der CDU. Tschüss, liebe Grüne.
Das ist zwar nicht schön, aber von der Aussenperspektive erscheint Berlin ohnehin wie ein hoffnungsloser Fall. Was soll es, wenn die Grünen einige Zeit einmal nicht an der KI der Stadt – den Klüngeln und Intrigen – beteiligt sind? Schwerer wog die Niederlage bei der Volksabstimmung vom 26. März 2023 zur Frage, ob Berlin bis zum Jahr 2030 klimaneutral sein solle. Da mussten die Grünen erkennen, dass sie ihr Blatt weit überreizt hatten.
Vermeintliche Brechstange
Und nun die 30-stündigen Verhandlungen im Kanzleramt über die weitere Zusammenarbeit in der «Fortschrittskoalition», als die sie angetreten ist. Nicht nur, dass der anfängliche Elan so weggeblasen ist wie die Erwartungen eines jungen Ehepaares, das vor der Heirat noch nie einen Film über Ehekrisen gesehen oder wenigstens ein Ratgeberbuch konsultiert hat. Die Medien sind sich einig: SPD und FDP haben die Grünen so zusammengestaucht, dass sie jetzt wieder problemlos in ihre Welt, nämlich in die Welt der überbordenden Fürsorge (SPD) und der überaus heilsamen Marktkräfte (FDP), passen.
Konservative Kommentatoren des Zeitgeschehens neigen dazu, Robert Habeck vorzuhalten, dass er «Klimapolitik mit der Brechstange» betreiben wolle, was natürlicherweise beim Bürger nicht gut ankomme. Das klingt plausibel und richtig‚ geht aber am Kern des Problems vorbei. Tatsächlich ist seine Rolle viel vertrackter und wirft die Frage auf, ob die Politik überhaupt in der Lage ist, das Klimaproblem adäquat zu bearbeiten.
«sehr, sehr, sehr»
Man kann diese Frage am jetzigen Koalitionskompromiss geradezu lehrbuchmässig studieren: Der FDP als kleinstem Koalitionspartner steht das Wasser bis zum Hals. Seit 2022 hat sie in fünf Landtagswahlen miserabel abgeschnitten und ist im Saarland, in Niedersachsen und Berlin aus drei regionalen Parlamenten geflogen. Der talentierte, aber auch etwas substanzlose Christian Lindner hat Schwierigkeiten, seinen Parteimitgliedern und vor allem den gewünschten Wählern zu erklären, warum die FDP in der jetzigen Regierung als Koalitionspartner noch dringender benötigt wird als das unverzichtbare Salz in der Suppe.
Christian Lindner ist Finanzminister und sein Kollege, der ehemalige Kirchenmusiker Volker Wissing, ist für den Verkehr mit der gesamten Infrastruktur zuständig. Gibt es wichtigere Stellschrauben als diese beiden Ministerien ausser dem Wirtschaftsministerium von Robert Habeck? Beide Minister der FDP haben ihre Stellschrauben jedenfalls hart angezogen. In den vielen, vielen Stunden der Verhandlungen, deren Ergebnisse Bundeskanzler Scholz später als «sehr, sehr, sehr» gut bezeichnen sollte, haben sie erreicht, dass der Bundeshaushalt gedeckelt wird und der Ausbau von Autobahnen vorrangig betrieben werden soll. Überhaupt werden die für den Verkehrssektor im Koalitionsvertrag ursprünglich vereinbarten Klimaziele insofern neutralisiert, als sie auf alle anderen Ressorts umgerechnet werden.
Bürokratische Monster
Entsprechend einigte man sich in den endlosen Verhandlungen darauf, dass es genüge, wenn insgesamt klimatisch – sowohl für die Koalition wie für das Klima, das eigentlich Thema sein sollte – etwas erreicht wird. Es ist so, wie wenn sich ein zerstrittenes Ehepaar darauf einigt, dass die ursprünglich getrennt abgerechnete Haushaltskasse mit der Kontrolle über die Ausgaben des jeweiligen Partners in Zukunft nur noch insgesamt betrachtet werden darf.
Dieses Vorhaben ist so faul, dass man den offensichtlich zermürbten Grünen etwas in den Korb gelegt hat, was versöhnlich sein soll, aber wie eine zynische Parodie wirkt: An den neuen oder renovierten Autobahnstrecken sollen nun Solarpanels stehen. Ironisch könnte man anfügen, dass diese bitte so aufgestellt werden, dass sie den fliessenden Verkehr ganz bestimmt nicht stören – zumal bei höheren Geschwindigkeiten.
Wurden die Anliegen der Grünen auf dem Verkehrssektor parodiert, wurden sie beim Thema des Heizens geradezu sabotiert, aber so, dass es nicht sofort auffällt. Getarnt wurde dieses Vorgehen mit der Parole der «Fürsorge». Das Vorhaben der Grünen, ab 2024 das Heizen in Deutschland «klimaneutral» zu machen und eine entsprechende Umrüstung zu dekretieren, hat mit Recht Angst und Schrecken ausgelöst. Gerade ältere Besitzer von Häusern und Wohnungen fragen sich, wie sie diese Umrüstung bezahlen sollen. Nun kam die Beruhigungspille: Viele, viele Regelungen im Detail sollen dafür sorgen, dass die Lasten gerecht und vor allem tragbar verteilt werden: «Niemand wird im Stich gelassen.» – Klar doch. Noch kein bürokratisches Monster hat jemals jemanden vergessen.
Merkels heimliche Rache
Die besten Absichten der Grünen sind in Monsterhausen gelandet. Das Ganze wirkt deswegen so grotesk, weil es dem höchst gekonnten Erwartungsmanagement der Grünen diametral entgegengesetzt ist: Man tut etwas fürs Klima, indem man Grün wählt. Grüne Politik ist mehr als bisherige Politik. Denn sie bringt einen neuen Stil ein, eine neue Kraft. Bundeskanzler Scholz spricht innerhalb seiner engen kommunikativen Grenzen vom «Wumms». Das liegt nicht allein sprachlich weit unterhalb dessen, was die Grünen für sich in Anspruch nahmen.
Wer 2021 deren politisch noch etwas freitragend wirkende Aufstellung mit der Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock und dem sichtbar zerknirscht, aber kompetenter wirkenden zweitplatzierten Robert Habeck misstraute, wurde durch die Selbstzerfleischung der CDU in der Frage der Kanzlerkandidatur (der lahme Laschet oder der präpotente Söder) und dem Absinken der SPD auf den kleinsten gemeinsamen Nenner mit Olaf Scholz wenn nicht motiviert, so doch zumindest etwas gestupst. In dem Masse aber, wie man sich an Olaf Scholz als Wiedergänger von Merkel gewöhnt hat, wurde ihre heimliche Rache an der Gegenwart akzeptiert – zu Lasten grüner Ambitionen.
Aus grüner Perspektive kann man fragen, was schwerer wiegt: die Schrecken der schon jetzt unabweisbaren Klimakatastrophe oder die Schrecken der Politik, die für das Klimathema innerhalb ihrer Mechanismen im Grunde keinen Ansatzpunkt hat. Politiker wollen Wahlen gewinnen, Klima hin oder her. Mit Recht kann man das für engstirnig halten und Warnrufe ausstossen. Aber dann melden sich geradezu kichernd die politischen Mechanismen zurück. Bis das Klima diese Mechanismen buchstäblich verbiegt – jenseits von Habeck und Scholz, Lindner und den deutschen Autobahnen.