Um nicht missverstanden zu werden, muss ich ein ganz persönliches Bekenntnis vorausschicken: Von frühester Kindheit an begleiten mich die Bilder und die Geschichten von der Ermordung der Juden. Dazu kommen die Bilder und Geschichten aus dem 1. Weltkrieg. Mord auf höheren Befehl als greifbare Möglichkeit hat meine Seele von früh auf vergiftet. Das ist keine blasse Theorie.
Deswegen habe ich Schwierigkeiten zu verstehen, warum wir immer neue Schilderungen dieser Scheusslichkeiten brauchen. Fast jedes Jahr wartet der Buchhandel mit noch detaillierteren Forschungsarbeiten zur Praxis des Mordens in Zeiten des Nationalsozialismus auf. Oder mit einem Roman wie vor knapp sechs Jahren von Jonathan Littell, „Die Wohlgesinnten“. Wozu? Wozu vorher Daniel Jonah Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“? Wozu Roman Polanskis Film „Der Pianist“ von 2002? Wer kann so etwas lesen oder sich so etwas anschauen, ohne es als grösste Strapaze, wenn nicht gar als innere Besudelung zu empfinden? Warum muss jeder Stein immer noch einmal umgedreht werden?
Was hat sich verbessert?
Diese Frage ist leicht zu beantworten. Sollte ich wünschen, dass es all diese Berichte, Forschungen, künstlerischen Verarbeitungen nicht gäbe? Nein, das wäre schlimm, denn ich wünschte mir nicht den Mantel des Vergessens. Aber umgekehrt: Gibt es nicht auch einen heimlichen Voyeurismus? Sollen die Bücher, die Filme keine kommerziellen Erfolge sein? Unterliegen sie nicht denselben Marktgesetzen wie alle anderen kulturellen Produkte – insbesondere denen der Unterhaltungsindustrie?
Aber auch dieser Einwand wäre leicht als kulturkritische Larmoyanz zu vernachlässigen, wenn es in der Realität nicht noch härter zuginge: Es wurde nichts gelernt und nichts verbessert. Wurde irgendwo auf dieser Welt aufgrund der Schrecken der Nazi-Verbrecher ein Krieg nicht vom Zaun gebrochen? Wurde irgendwo auf Völkermord verzichtet – im Gedenken an die ermordeten Juden, Kulaken oder Armenier ? Foltern die Geheimdienste demokratischer Staaten deswegen nicht, weil sie „die Lehren aus der Geschichte“ gezogen hätten? So zu fragen, klingt schon zynisch.
Schandttaten als Blaupausen
Nein, es wird gemordet und gefoltert, als hätte es kein Gestern gegeben, das uns vor Augen führen würde, wie weit Menschen und Staaten sich erniedrigen können. Ganz im Gegenteil ist es so, dass manche Opfer von einst sich heute derselben Taktiken bedienen, die ihre Mörder von früher so erfolgreich eingesetzt haben. Und wenn man nur für einen Augenblick den moralischen Zensor in sich abschaltet, könnte man vermuten, dass die Verbrechen der Vergangenheit nicht nur die Blaupausen, sondern gar die implizite Rechtfertigung für noch grössere Schandtaten liefern. Schliesslich sind der Mensch und seine Kultur auf Steigerung angelegt.
Marcel Reich-Ranicki weiss das. Und auch die klügeren seine Zuhörer und Berichterstatter wissen das ganz genau. Warum trägt er dann eine solche Feier, und warum ist diese Feier gerade den sensibleren und klügeren Zeitgenossen so wichtig? Ich vermute, weil Marcel Reich-Ranicki über eine schwindelerregende Brücke gegangen ist. Weil er es geschafft hat, in den Abgund des Verbrechens zu blicken, aber seinen Fokus ganz auf die literarische Kultur der Deutschen gerichtet hat. Kommt die Rettung also aus der hohen Kultur? In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag schildert er den SS-Sturmbannführer Höfle, der in Warschau am 22. Juli 1942 die weitere Etappe der Ermordung der Juden in Gang setzte: „Schon das (übrigens ganz unverkennbar österreicherisch gefärbte) Deutsch zeugte von der ganzen Primitivität und Vulgarität diese SS-Offiziers.“
Brücke auf schwankendem Grund
Bei allem Respekt: Bildung schützt nicht vor Barbarei. Reich-Ranicki weiss es selbst. In seinen Lebenserinnerungen – heute Pflichtlektüre an deutschen Schulen – schildert er, wie der frühere feingeistige Feuilletonchef der FAZ, Joachim Fest, ihn bei einer privaten Einladung mit dem frisch aus der Haft entlassenen Albert Speer, dem angeblich so feinsinnigen Architekten Hitlers, bekannt machte. Trocken konterte Reich-Ranicki: „Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, könnte ich jetzt nicht hier sein.“ Nein, die Welt ist nicht so einfach eingeteilt, dass nur diejenigen, die das schlechteste Deutsch sprechen, keine Skrupel beim Morden haben.
Aber es ist gut, dass Reich-Ranicki auf seine Weise eine Brücke über den schwankenden Grund legt. Seine Antwort ist die des Überlebenden, der im Glauben an die Kultur des Landes seiner Verfolger in eben diesem Land Fuss gefasst hat. Es ist, als sei ein neuer Roman des Joseph aus dem Alten Testament geschrieben worden.
Für die Nachgeborenen erhöht sich aber die Ratlosigkeit. Wir haben ergreifende Gedenkfeiern, aber wir können nicht erkennen, dass die Menschen friedfertiger oder gewaltloser geworden wären. Verbessert hat sich eigentlich nur die Rhetorik, wie der Ethnologe Hans-Peter Duerr („Obszönität und Gewalt“) einmal konstatierte. Man drückt sich gewundener und vorsichtiger aus, wenn es darum geht, gegenüber bestimmten Gruppen das Existenzrecht in Frage zu stellen.
Die Wiederkehr
Und es mag ein Erbe des Christentums sein, dass die angestrebte Unwiederholbarkeit des Mordes an den Juden irgendwie plausibel erscheint und dem Gedenken einen Sinn gibt. So wie Kreuz und Auferstehung im christlichen Mythos einmalige Geschehnisse sind, so einmalig sollten dann auch diese Ereignisse sein: „Geschichte wiederholt sich nicht.“ Wenn aber doch?
Wenn etwas nach Wiederholung aussieht – Hakenkreuze, Naziparolen – dann sind die Reaktionen empfindlich. Wenn sich aber Gewalt und Mord anders drapieren, anders maskieren, dann herrscht Konfusion. Dann heisst es, man könne doch dieses oder jenes „unter ganz anderen Vorzeichen“ nicht mit der Barbarei der Nazis vergleichen. Das mag sein. Aber es gibt leider einen Vergleichspunkt, der bei allem eifrigen Gedenken ausgeblendet wird: die menschliche Gewaltbereitschaft. So lange sie schlummert, schlummern wir auch. Und wenn sie erwacht, schauen wir weg.
Denn die Wahrheit ist allzu schockierend. Im Gefolge der Naziverbrechen haben zwei amerikanische Sozialpsychologen, Stanley Milgram und Philip Zimbardo, Experimente gemacht, aus denen zum Entsetzen der Zeitgenossen klar hervorging, dass Gewaltausübung keine rein deutsche Spezialität ist. Zimbardo hat dafür den Ausdruck „Luzifer-Effekt“ geprägt.
Implizite Vorurteile
Radikale und schmerzhafte Einsichten dieser Art überfordern uns. Überforderung bewirkt nur, dass nichts geschieht. Deswegen sollte man mit Forderungen vorsichtig sein. Dass der Mensch in Richtung auf Gewaltfreiheit umgekrempelt wird, sollte aus diesem und aus anderen Gründen niemand verlangen. Aber die Frage muss erlaubt sein, ob es mit Gedenkfeiern und Gedenkorten getan ist. Gibt es nicht etwas darüber hinaus? Könnte man nicht doch einen durch die Geschichte belehrten Blick auf uns in unserer Zeit werfen – ohne damit in einem unerträglichen moralischen Pathos zu versinken?
Der amerikanische Bestsellautor Malcolm Gladwell hat dafür ein Beispiel gegeben. Er bemerkte, dass er, ohne es zu wollen, den stereotypen Werturteilen der amerikanischen Mittelschicht verhaftet war. Entsprechend urteilte er unbewusst abschätzig über Schwarze und schrieb instinktiv positive Eigenschaften den weissen Amerikanern zu. Immer wieder unterzog er sich dem „Implicit Association Test“ der Harvard University . Auf diese Weise konnte er seine inneren Einstellungen verändern.
Bescheidenheit und Demut
Nichts gegen das Gedenken, nichts gegen Mahnungen, zumal wenn sie so würdig wie in der vergangenen Woche im Deutschen Bundestag vorgetragen wurden. Aber die Gefahr liegt in der Abspaltung von dem, was früher einmal „Irregeleitete“ getan haben, von dem, was heute bei uns latent ist. Diese Formulierung klingt wie eine ungeheure Provokation. Aber ist es weniger provokativ zu glauben, dass zahllose Menschen zu einer bestimmten Zeit bereitwillig Verbrechern gefolgt sind und darüber selbst zu Verbrechern wurden - und dass dieselben Menschen und ihre Nachkommen nur kurze Zeit später keiner bösen Taten mehr fähig wären? Das wäre ein schier unglaublicher Resozialisierungseffekt.
Gedenken, zumal würdiges, hat auch mit Nachdenken zu tun. Deswegen sollten wir Heutigen uns die Frage gefallen lassen, ob wir unsere Aufgabe schon erfüllt haben. Wohin führte ein erster Schritt - gegangen in Bescheidenheit und Demut?