Matteo Salvini gehörte über Jahre zu den unappetitlichsten italienischen Politikern. Er war der Inbegriff eines rechtspopulistischen Semi-Rassisten. Er hetzte gegen die Schwächsten, unter anderem gegen Sinti und Roma; er steht vor Gericht, weil er die Häfen für sterbende Boat People geschlossen hatte. In phänomenaler Selbstüberschätzung stürzte er die erste Regierung Conte und glaubte, sich alles erlauben zu können.
Ausser Polemik hörte man nichts von ihm. Als damaliger Innenminister verbrachte er 90 Prozent seiner Amtszeit als populistischer Agitator auf Plätzen und in Fernsehstudios. In Zehntausenden Tweets und Posts trommelte er mit Lügen und Unterstellungen auf seinen politischen Gegnern herum. Mit übelsten Tiraden verunglimpfte er die EU, die nach seiner Meinung nach an allem schuld ist. Er flirtete offen mit Putin und zeigte sich stolz mit Marine Le Pen, Viktor Orbán und einigen AfD-Grössen. Doch sein ewiges populistisches Trommelfeuer nützte sich ab. In den Meinungsumfragen verlor er innerhalb eines Jahres zehn Prozent an Zustimmung.
Und jetzt frisst er Kreide: Seine Lega tritt in die Regierung von Mario Draghi ein. Sicher nicht aus innerer Überzeugung, sondern weil er Gefahr läuft, in der italienischen Politszene aussortiert zu werden. Lieber die Meinung wechseln, als vergessen zu werden. Draghi hat ihm klar den Tarif erklärt, und wie ein Schulbube hörte Salvini zu: Kein Flirt mehr mit Putin, Orban und den anderen Illiberalen, keine anti-europäischen Ausfälle mehr. Er sei ein guter Europäer, sagt er plötzlich.
Salvini weiss: Draghi, ein Schwergewicht, ist beliebt und wird vermutlich eine Regierung bilden, die zumindest bis zu den nächsten Wahlen 2023 hält. Und die Chance besteht, dass der neue Ministerpräsident einige Erfolge haben könnte. Wenn er, Salvini, nun weiterhin auf Opposition macht, droht sein Stern noch weiter zu sinken. Also: kehrt man die Weste, wirft alle bisherigen Grundsätze über Bord, mit denen man seine Anhänger jahrelang in superpopulistischer Art aufgewiegelt hat. Plötzlich arbeitet man in Minne mit dem „Superbanker“ Draghi zusammen, obwohl man die Europäische Zentralbank, der Draghi vorstand, mit übelsten Beschimpfungen eingedeckt hatte. Plötzlich findet man für die EU nur schöne Worte.
Doch sein fast schon verzweifelter Sinneswandel könnte gefährlich für ihn sein. Er könnte nämlich einen grossen Teil seiner bisherigen aufgepeitschten Anhänger verlieren. Diese stehen nun plötzlich verwaist und ohne Anführer da und wissen nicht, was ihnen geschieht. Ein Teil von ihnen könnte nun zu den postfaschistischen „Fratelli d’Italia“ von Georgia Meloni abwandern: der einzigen Rechtspartei, die sich nicht in die Regierung einbinden lässt.
Es ist noch nicht lange her, da Salvini mit offener Brust am sommerlichen Adria-Strand prahlte, Italien liege ihm zu Füssen. Nun liegt er Mario Draghi zu Füssen. Salvini ist das Schulbeispiel eines Politikers, dem es nicht um Prinzipien, um Verantwortung, um das Wohl des Landes und um Inhalte geht, sondern allein um sich selbst: um Einfluss und Macht. Selten zuvor hat sich der Rechtpopulismus so demaskiert wie hier.