Mit den Vorwahlen der Republikaner in Iowa beginnt am 15. Januar die heisse Phase des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs. Die Demokraten starten am 3. Februar in South Carolina. Überraschungen sind auf beiden Seiten wenig wahrscheinlich.
Amerikas Medien sind sich weitgehend einig: Ohne ein unvorhersehbares Ereignis werden die kommenden Vorwahlen lediglich bestätigen, was seit Längerem feststeht. Wie 2020 kommt es zum Zweikampf zwischen dem Republikaner Donald Trump und dem Demokraten Joe Biden, zwischen dem Ex-Präsidenten und dem Präsidenten. Und noch eher als vor vier Jahren ist es ein Duell, das Amerika nicht will. Einer Gallup-Umfrage zufolge finden in den USA lediglich noch 28 Prozent der Befragten, die Demokratie im Lande funktioniere noch.
Von Gott gesandt
Beide Kandidaten, Trump wie Biden, schleppen 2024 etliches Gepäck mit sich, das ihnen im Weissen Haus ein effizientes Regieren erschweren dürfte: ihr Alter, 77 der eine, 81 andere; in den eigenen Reihen mit fast uneinholbaren Beliebtheitswerten der eine, mit tiefen Umfragewerten wie kaum ein anderer Präsident vor ihm der andere; die Aussicht auf vier Straf- und zwei Zivilprozesse für den einen, die Anklage gegen Sohn Hunter für den anderen.
Wobei sich Donald Trump, kein Witz, laut einem Video seiner Nachrichtenplattform «Truth Social» als gottgesandt sieht. Der Sprecher des Bildbeitrags suggeriert, Gott habe den Ex-Präsidenten als Betreuer und «Hirten für die Menschheit» erschaffen: «Gott sagte: ‘Ich brauche jemanden, der bereit ist, vor dem Morgengrauen aufzustehen, dieses Land zu reparieren, den ganzen Tag zu arbeiten, die Marxisten zu bekämpfen, zu Abend zu essen, dann ins Oval Office zu gehen und bis nach Mitternacht bei einem Treffen der Staatsoberhäupter zu bleiben’.» – Als hätte Trumps Alltag im Weissen Haus je so ausgesehen.
Dagegen warnt Joe Biden immer eindringlicher vor einer Wiederwahl seines Herausforderers. «Ob die Demokratie noch die heilige Sache Amerikas darstellt, ist die dringendste Frage unserer Zeit, und darum geht es bei den Wahlen 2024», hat der Präsident in einer Rede zum Start seines Wahlkampfes gesagt. Über Trump sagt er: «Er ist bereit, unsere Demokratie zu opfern, um selbst an die Macht zu kommen.»
Fehlender Mut
Doch Donald Trump behauptet, nicht er, sondern der Präsident stelle die grössere Bedrohung für die Demokratie dar. Als Beweis nennt er die gegen ihn erhobenen Anklagen wegen des Versuchs, den Wahlausgang 2020 zu sabotieren und mit Geheimdokumenten fahrlässig umgegangen zu sein. Die Verfahren zeigten, so Trump, dass Biden die Regierung gegen ihn instrumentalisiert habe. Laut einer Umfrage der Washington Post und der University of Maryland (UMD) finden 54 Prozent aller Republikanerinnen und Republikaner, Donald Trump sei nicht für den Sturm auf das US-Capitol vom 6. Januar 2021 verantwortlich. Lediglich 14 Prozent halten ihn für weitgehend schuldig.
Sowohl den Republikanern wie den Demokraten hat der Mut gefehlt, sich rechtzeitig valable Alternativen zu ihren mutmasslichen Präsidentschaftskandidaten einfallen zu lassen: aus Duckmäusertum und Feigheit im Falle Donald Trumps, aus Arroganz und falscher Rücksicht im Fall Joe Biden. Jetzt, mitten im Rennen, ist es zu spät, die Pferde zu wechseln, wie es in Amerika heisst. Trotzdem wird das einheimische Kommentariat nicht müde, alle möglichen Szenarien zu entwerfen, die unterschiedlichste Eventualitäten, Optionen und Wahrscheinlichkeiten einbeziehen.
Dies, um am Ende jeweils zum selben Schuss zu gelangen: Die Wahl 2024 ist ein Urnengang wie kaum ein anderer zuvor in der Geschichte der Vereinigten Staaten, ein Schauspiel, das über die Bühne geht vor dem Hintergrund einer gespaltenen Nation, deren eine Hälfte die Fiktion eines Wahlbetrugs 2020 für eine Tatsache hält und deren andere Hälfte keine überzeugenden Lösungen für drängende Probleme findet.
Streitpunkt Sturm auf das Kapitol
Und nicht zu vergessen das Oberste Gericht, wo Konservative den Ton angeben und dessen Entscheidungen wie jener des landesweiten Verbots der Abtreibung von vielen als politisch motiviert gesehen werden. Wie 2000, als George W. Bush gegen Al Gore hauchdünn siegte, könnte das Gremium auch dieses Jahr die Wahl entscheiden, falls es urteilt, Donald Trump sei gegen Anklagen immun, die ihm vorwerfen, während seiner Präsidentschaft strafbare Handlungen begangen zu haben.
Eines der Hauptthemen im Wahlkampf 2024 dürfte neben der an sich rosigen, aber nicht so wahrgenommenen Wirtschaftslage, der Abtreibung und der Einwanderung der Sturm auf das Kapitol vom 6. Januar 2021 (6/1) sein, dessen Interpretation die Nation nach wie vor spaltet. War es ein versuchter Staatsstreich, um Donald Trump um jeden Preis an der Macht zu halten, wie Demokraten das sehen? Oder war es lediglich ein aus dem Ruder gelaufener, letztlich aber harmloser Versuch strammer Patrioten, ihren Bedenken bezüglich des angeblichen Wahlbetrugs Gehör zu verschaffen, wie Republikaner das sehen?
Donald Trump jedenfalls hat bereits versprochen, jene rund 900 wegen diverser Delikte verurteilten Randalierer zu begnadigen, sollte er am 5. November 2024 erneut zum Präsidenten gewählt werden. Gegen 350 Verfahren gegen Krawallmacher von 6/1 sind noch hängig. Der Ex-Präsident, dem zufolge jener Mittwoch im Januar «ein schöner Tag» war, nennt die ordentlich Verurteilten «Geiseln» oder «politische Gefangene».
Journalistische Pflicht
Auf jeden Fall sind die Randalierer für ihn «grosse, grosse Patrioten». Inzwischen hat die Umfrage von Post/UMD gezeigt, dass ein Viertel aller Amerikanerinnen und Amerikaner überzeugt ist, die Bundespolizei (FBI) stecke hinter dem Sturm auf das Kapitol. Derweil zeigt ein neuer Werbespot der Biden-Kampagne Videoaufnahmen von der Erstürmung des Parlaments vor drei Jahren. Darauf ist Biden zu hören, wie er sagt: «In Amerika geht etwas Gefährliches vor sich. Es gibt eine extremistische Bewegung, die die Grundüberzeugungen unserer Demokratie nicht teilt.»
In diesem Reizklima werden die Medien im Wahlkampf erneut eine wichtige Rolle spielen. Margaret Sullivan, einst «Public Editor», (d. h. Ombudsfrau) der New York Times zweifelt daran, ob Presse, Radio und Fernsehen die Lektionen von 2016 gelernt haben, als sie, von Trumps Prominenz und Popularität geblendet, atemlos über fast jede provokative Äusserung des republikanischen Kandidaten berichteten, statt seine Aussagen kritisch zu hinterfragen.
«In einer ständigen Show der gespielten Neutralität neigen Journalisten dazu, das Ungleiche auszugleichen und die Berichterstattung in die Mitte zu verlagern, obwohl dort nicht die wahre Fairness liegt», schreibt Sullivan als Kolumnistin des US Guardian: «Doch die Journalistinnen und Journalisten haben die Pflicht, über die Rhetorik und das Auftreten, über die Umfrage- und Zustimmungszahlen hinauszugehen – all die Dinge, mit denen sie am besten vertraut sind.» Leider sind Sullivan zufolge Amerikas Mainstream-Medien nicht annähernd so gut darin, die grossen Zusammenhänge zu vermitteln, selbst wenn es um so viel geht: «Reporter und ihre Chefs – sowohl in den Redaktionen als auch in den Hochglanzbüros der Unternehmen – sollten sich daran erinnern, dass es kein journalistisches Verbrechen ist, sich für die Demokratie einzusetzen. Es ist vielmehr eine journalistische Pflicht.»
Die Leitartikler der New York Times haben sich Sullivans Rat zu Herzen genommen. In einem Editorial zum Start des Wahlkampfes warnen sie, dass eine Wiederwahl Donald Trumps die Republik und die Welt ernsthaft gefährden würde: «Dies ist ein Zeitpunkt, um nicht passiv zu bleiben, sondern um sich erneut zu engagieren. Wir appellieren an die Amerikanerinnen und Amerikaner, ihre politischen Differenzen, Missstände und Parteizugehörigkeiten beiseite zu lassen und – als Familien, als Kirchgemeinden, als Räte und Vereine sowie als Einzelpersonen – über die wahre Tragweite der Wahl nachzudenken, die sie im November treffen werden.»