Die Einwände liegen auf der Hand: Was einmal ins Netz gestellt wurde, kann - mit und ohne Facebook – kaum mehr zurückgeholt werden. Und da Facebook gerade von jungen Leuten genutzt wird, wird mancher der Nutzer im Laufe seines Lebens so manches Bild und manchen Eintrag bitter bereuen.
Und Facebook wird immer mehr zum Schlaraffenland der Personalchefs und Geheimdienste. Was in der öffentlichen Diskussion meist übersehen wird: Geheimdienste sind nicht nur staatlich, sondern sie werden zunehmend privat betrieben. Und private und staatliche Dienste gehen ineinander über. Sie alle können auf Daten zugreifen, die ihnen die ahnungslosen Nutzer der praktischen Archivierungsfunktionen von Facebook zuhauf liefern.
Woran kaum gedacht wird: Nichts ist für Experten privater oder staatlicher Geheimdienste leichter, als Daten zu fälschen. Wenn man also jemanden ruinieren oder erpressen will, geht man an die Archive von Facebook und füllt sie mit kompromittierenden Details auf.
Die drei Beziehungen der Sprache
Hinter den neuen Möglichkeiten, die Mark Zuckerberg jetzt vorgestellt hat, steckt natürlich nicht die propagierte Absicht, das Lebens mittels des „Social Network“ interessanter und lebenswerter zu machen. Der gigantische Börsenwert von geschätzten 100 Milliarden US-Dollar hängt an der Nutzung dieser Plattform durch die Werbeindustrie. Und die braucht immer neuen Stoff, um immer präziser ihre Produkte lancieren zu können. Den will ihr Mark Zuckerberg mit dem neuen Angebot liefern.
Was die Kritiker bislang übersehen, ist die Tatsache, dass nicht nur die Intimsphäre nach aussen verlagert, sondern dass unsere Kultur im Kern zerstört wird. Denn unsere Kultur beruht auf der Art, wie wir erzählen. Karl Bühler, der als Sprachtheoretiker zur gleichen Zeit wie Ludwig Wittgenstein die Bedeutung der Sprache für unser Denken untersuchte, hat drei Relationen herausgestellt: Jemand erzählt jemandem etwas. In dieser Dreiheit entfalten sich der Erzähler, der Zuhörer und die Sache, um die es geht. Wer etwas in "Open Graph" einstellt, digitalisiert den Prozess des Erzählens. Färbungen durch Beziehungen und Zwischentöne fallen heraus.
Codes der Intimität
Wer sich auch nur ein bisschen selbst beobachtet, wird feststellen, dass er die Geschichten von sich selbst nie gleich erzählt. Dem einen erzählt er ein bisschen mehr, dem anderen ein bisschen weniger. Und überhaupt gibt es Themen, die man dem einen gegenüber anspricht, dem anderen gegenüber ausspart. Und es ist auch interessant zu beobachten, was man sich selber erzählt und was nicht. So können manche Erlebnisse so belastend sein, dass man sehr lange braucht, bis man sie sich selber vollständig erzählt. Und dabei wird man noch eine Entdeckung machen: Ist das, was in der Erinnerung lagert, wirklich so geschehen, oder ist es doch nur ein Traum oder ein Alptraum gewesen?
Zur Erfahrung von Intimität gehören Erzählungen: Ein Partner erzählt etwas, was er "noch nie jemand anderem erzählt hat". Das schafft die besondere Verbindung und prägt die Art, wie beide künftig miteinander umgehen. Niklas Luhmann sprach in diesem Zusammenhang von einer bestimmten Form sprachlicher Codierung, die aus der speziellen Intimität von Paaren hervorgeht und deren Kommunikation prägt.
Wie entstehen Vorbilder?
Auch Vorbilder und die Werte unserer Kultur kommen ohne Erzählungen nicht aus. Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt und der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern, beide ganz sicher keine Nostalgiker, überlegten einmal in ihren Gesprächen über „Unser zwanzigstes Jahrhundert“, ob nicht die klassische Rolle der erzählenden Grosseltern - wie heute noch teilweise in Italien zu beobachten - unabdingbar für die Vermittlung von Werten und Vorbildern ist. Es ist eben sehr wichtig, wer wem etwas wie gesagt hat und welche Erinnerungen daran haften.
Gegen die Befürchtung, dass mit dem neuen Angebot von Facebook unsere Kultur entkernt wird, lässt sich einwenden, dass niemand, der auf Facebook etwas „postet“, deswegen daran gehindert wird, seinen Freunden ganz andere Sachen zu erzählen. Und hatte nicht schon 1985 Neil Postman mit seinem Buch, „Wir amüsieren und zu Tode“, gewarnt, dass das Fernsehen die Intimität zerstöre? Was waren das doch noch für idyllische Zeiten!
Dieser Einwand geht aber an der Sache vorbei. Vergleicht man Facebook mit Netzwerken wie XING oder Linkedin, dann wird das ganz klar. In beiden Netzwerken, die eher auf „Business“ abgestellt sind, werden private Informationen wie die über Hobbys vergleichsweise sparsam gehandhabt und die Eintragungen können jederzeit geändert und gelöscht werden. Die privaten Mitteilungen haben einen instrumentellen Charakter und dienen dazu, „sich optimal zu präsentieren“. Es gibt eine Oberfläche, die man bewusst zeigt, und alles darunter geht die „Businesspartner“ nichts an.
Leben nach dem Mass von Formularen
Auf Facebook ist noch das banalste „Gefällt mir“ mitteilenswert. Und erst recht Details aus dem privaten Leben – jedenfalls wenn Facebook dank „Open Graph“ zur gigantischen Maschine für die Archivierung privater Details wird. Intim heisst dann: „Gib mir den Zugang.“ Es heisst nicht mehr: „Ich erzähle dir etwas.“ Und das Leben steht ein für allemal unabhängig von dem, „dem etwas erzählt wird“, im Netz. Das Leben ist buchstäblich kristallin geworden: durchsichtig und gleichzeitig unwandelbar.
Ein weiterer Einschnitt, der bislang kaum wahrgenommen wird: Damit das Ganze funktionieren kann, benötigt das System logischerweise Kategorien. Jeder, der Facebook benutzt und abruft, folgt diesen Kategorien. Es ist so, als würde man ständig vorgegebene Formulare ausfüllen, aber gar nicht mehr merken, dass es sich um fremde Schemata handelt, weil man sie nach und nach mit den eigenen Lebensknotenpunkten verwechselt.
Wie kann dann eine unverhoffte Begegnung aussehen? Man trifft jemanden, erkundigt sich nach kurzer anfänglicher Faszination wie nebenbei nach dem Namen, entschuldigt sich unter irgendeinem Vorwand und schaut mittels des Smartphones auf Facebook nach. Und schon kennt man die Lieblingsfarbe, die Lieblingsblume und den Lieblingsfilm. Damit lässt sich punkten. Und wer ganz clever ist, antwortet dann: „Dass du das erraten hast!“