Es ist endlich so weit. Nach elf Wochen Durststrecke haben an diesem Dienstag nach Pfingsten in Dieulefit die Bars und die ersten Restaurants wieder geöffnet. Und anders als in der Region Paris, wo das Virus immer noch sehr aktiv und die Bevölkerungsdichte einfach zu gross ist und deswegen nur draussen serviert werden darf, kann in dem 3’000-Einwohner-Städtchen hier der Betrieb relativ normal wieder aufgenommen werden. Sitzen im Bistro ist allerdings Pflicht, Herumlungern am Tresen geht noch nicht.
Die zwei Beizen in der Hauptgasse hatten schon am Pfingstmontag ihr gesamtes Inventar, Kühlschränke und Gefriertruhen inbegriffen, auf die Strasse gestellt und zum Grossreinemachen geblasen. Das eine oder andere Bier ging bereits über die Theke, für Altbekannte, die vorbeikamen. Und eines der beiden Cafés, dem gegenüber auch wieder einer der drei Obdachlosen von Dieulefit seinen Platz auf der Bank unter der grossen Platane eingenommen hat, hatte schon seit Tagen eine Schiefertafel rausgehängt mit der Aufschrift: «Ouverture – Mardi – 2 juin – 7h!»
Pourquoi l’Allemagne se débrouille-t-elle mieux?
Während der achtwöchigen strikten Ausgangssperre bis zum 11. Mai und auch in den letzten drei Wochen noch, als Unmut und Ungeduld im Land spürbar zunahmen, wurde man als Deutscher in Dieulefit regelmässig mit der obigen Frage konfrontiert, warum sich Deutschland besser gegen das Coronavirus geschlagen habe als Frankreich.
Anfangs verweigerte man noch eine klare Antwort, weil man zum einen seit über 30 Jahren nicht mehr in Deutschland lebt und sich selbst nicht sicher war, ob es in Deutschland wirklich so viel besser funktionierte als hierzulande. Und zum anderen war es einem auch ein wenig unangenehm, dass Deutschland in den Augen der Franzosen offensichtlich auch im Fall der Corona-Krise schon wieder mal als der Klassenbeste erschien, was so manchen im Land hier reichlich nervt.
Doch aus einer gewissen Distanz wurde einfach immer deutlicher, dass die Nachbarn auf der östlichen Rheinseite mit dieser Krise von historischem Ausmass tatsächlich besser zurechtkamen und diese vor allem in einem deutlich entspannteren Klima durchlebt haben als die Franzosen. Mit dem Resultat, dass sie Ende Mai im Vergleich zur Gesamtbevölkerung viermal weniger Corona-Tote zu beklagen hatten als die Nachbarn westlich des Rheins. Eine wahrlich nicht unerhebliche Differenz.
Tests
Der Hauptgrund dafür liegt bei den Virustests und der damit einhergehenden frühzeitigen Isolierung von Infizierten und ihrer Umgebung in Deutschland. Bereits am 19. Januar hatte der Leiter der virologischen Abteilung am grössten Berliner Krankenhaus, an der Charité, einen Test entwickelt, mit dessen massenhafter Produktion dann auch innerhalb weniger Tage begonnen wurde. Deutschland war sehr schnell in der Lage, wöchentlich bis zu 500’000 Personen zu testen. Gleichzeitig arbeiteten, ganz anders als in Frankreich, die Labors der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen mit den privaten Labors im ganzen Land Hand in Hand, und das von Anfang an. Was Deutschland bereits im Februar tat, begann Frankreich erst im Mai recht mühsam zu tun.
Disponibilität
Ein anderer wichtiger Unterschied: Die politisch Verantwortlichen in Deutschland schienen deutlich flexibler und auch effizienter als ihre französischen Kollegen den Kampf mit der Pandemie aufzunehmen. Und sie taten es auch deutlich früher.
Die französische Regierung und der Präsident hatten Ende Januar gerade einen historisch langen Streik sämtlicher Verkehrsbetriebe des Landes mehr oder weniger hinter sich und steckten noch bis über den Kopf in der Rentenreform, die sie auf Teufel komm raus durchs Parlament bringen wollten. Und dies just zu dem Zeitpunkt, als die Coronakrise in ihrem Land ausbrach.
Aus heutiger Sicht erscheint es schlicht undenkbar, dass noch am 29. Februar auf einer Sondersitzung des Kabinetts mit dem Präsidenten, bei der es eigentlich um Covid-19 gehen sollte, am Ende vor allem beschlossen wurde, auf den berühmten Paragraphen 49.3. der französischen Verfassung zurückzugreifen, der es unter bestimmten Bedingungen erlaubt, ein Gesetz – im konkreten Fall das zur Rentenreform – ohne Parlamentsdebatte zu verabschieden.
Ebenso undenkbar empfindet man es aus heutiger Sicht, dass die am meisten involvierte Ministerin, Gesundheitsministerin Buzyn Mitte Februar zurücktrat …, um für Macrons Partei bei den Kommunalwahlen in Paris anzutreten, weil der eigentliche Kandidat wegen eines Sexskandals aufgeben musste. Dieser Rücktritt wirkte wie das Verlassen eines Bootes bei stürmischen Gezeiten.
Soziales Klima
Ein weiterer Nachteil für Frankreich: Die Coronakrise traf hierzulande auf eine extrem angespannte Stimmung in den Krankenhäusern. Seit einem Jahr schon hatten Krankenhauspersonal und Ärzte gegen Einsparungen, für bessere Arbeitsbedingungen und für mehr Anerkennung ihrer Arbeit demonstriert und gestreikt, ohne dass die Regierung wirklich auf die Proteste reagiert hätte. Dass man dann, sobald die Pandemie ausgebrochen war, von einem Tag auf den anderen und von höchster Stelle zu Helden der Nation erklärt wurde, hatte für mehr als einen Krankenhausangestellten einen bitterbösen Beigeschmack.
Diese Sorgen hatte Deutschland nicht, was sicherlich auch zu dem Mehr an Gelassenheit und Ausgeglichenheit beitrug, mit dem man auf der anderen Rheinseite dem Corona-Virus begegnete. Ganz abgesehen davon, dass man dort in den Krankenhäusern drei oder vier Mal mehr Intensivbetten pro Kopf der Bevölkerung zur Verfügung hatte als in Frankreich.
Hier Erwachsene, dort Kinder
Ein anderer wichtiger Unterschied im Umgang mit Covid-19 bestand darin, dass die Deutschen von ihren Politikern weitgehend wie Erwachsene behandelt wurden, die in der Lage sind, sich verantwortlich zu verhalten; die Franzosen dagegen wie Kinder, denen man nicht vertrauen kann. In Deutschland appellierten Kanzlerin und Bundespräsident an die Vernunft und die Eigenverantwortung jedes Einzelnen. In Frankreich drohte man den Bürgern, massregelte und bestrafte sie und erniedrigte sie mit dieser eidesstattlichen Erklärung, die man auszufüllen hatte, sobald man das Haus verliess. So als wäre dieses lächerliche Dokument mehr Wert als das einfache Wort desjenigen, der den Wisch ausgefüllt hat.
Der Deutsch-Franzose, der man nun einmal ist, hat diese Infantilisierung der gesamten französischen Bevölkerung ziemlich schlecht ertragen, ebenso wie die reichlich unwürdige tägliche Buchhaltung über die Anzahl von Kontrollen und Strafbescheiden, die in den Medien neben der Zahl der täglichen Corona-Toten genannt wurden.
Krieg oder nicht
Und schwer verstanden hat man auch die ziemlich hochtrabende Schwülstigkeit im offiziellen Diskurs von Präsident und Premierminister, wo man so weit ging, sogar davon zu reden, dass sich Frankreich im Krieg befinde.
Nur wenige Tage nachdem Präsident Emmanuel Macron diesen Begriff in einer Fernsehansprache gleich mehrmals benutzt hatte, hörte man aus dem Mund des deutschen Bundespräsidenten, Frank-Walter Steinmeier, genau das Gegenteil: «Nein, diese Pandemie ist kein Krieg. Sie ist eine Prüfung für unsere Menschlichkeit», hallte es aus Berlin zurück.
Selbstverantwortung
Während dieser Zeit bekam man Fotos von einer Freundin aus Berlin. Man sah sie bei einer Radtour mit zwei Freunden entlang der Havel, weit weg von ihrem Zuhause. Und das war normal. Währenddessen bestand man in Frankreich und auch im ländlichen Dieulefit darauf, dass man sich nicht weiter als einen Kilometer von seinem Wohnsitz wegbewegen dürfe. Und wie sinnvoll es ist, den täglichen Ausgang auf eine Stunde zu begrenzen?
Auch die Freundin in Berlin hatte ihre Enkeltochter acht Wochen lang nicht gesehen. Der Unterschied zu Frankreich: Sie hat selbst entschieden, sie nicht zu treffen. Und als die Freundin sich dann bereit fühlte, hat sie eben ganz einfach einen Tag mit der Kleinen verbracht und dabei natürlich aufgepasst und Abstand gehalten – eben wie ein erwachsener Mensch.
Vertrauen
Klar ist auch: In Deutschland war während der gesamten Krise bisher das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Regierung extrem viel grösser als in Frankreich. Die merkwürdigen, ja irrwitzigen Demonstrationen der letzten Wochen in Berlin, Stuttgart oder Frankfurt gegen die Einschränkungen auf Grund der Corona-Krise tun dem keinen Abbruch.
Der Hauptgrund für den Vertrauensschwund in Frankreich: Hier haben Präsident und Regierung gleich zu Beginn der Krise die Bevölkerung schlicht und einfach belogen nach dem Motto: Wir brauchen keine Tests, und Schutzmasken bringen ohnehin nichts. Wenige Wochen später war man gezwungen, exakt das Gegenteil zu verkünden. Das denkbar schlechteste Szenario, um mit dem Vertrauen der Bevölkerung eine derartige Krise zu bewältigen.
Nach einem derartigen Fauxpas klingen die Appelle der letzten Wochen zur nationalen Einheit im Kampf gegen das Virus und die Beschwörung eines «französischen Geistes des Widerstands» durch den Staatspräsidenten schlicht und einfach wie hohle Phrasen.