Die Franzosen haben wahrlich ein kurzes Gedächtnis. Im Prinzip, sagt man sich, müssten sie sich doch daran erinnern, was Jacques Chirac ab Mitte der 70er und bis in die 90er Jahre hinein als Chef der von ihm gegründeten RPR-Partei getrieben hat – und welch reichlich krumme Dinge er drehte, um sich dann 1995, beim 3. Anlauf, an die Macht und ins höchste Amt des Staates zu boxen.
Doch kaum war der Vollblutpolitiker, der in 12 Jahren Präsidentschaft wahrlich keine Bäume ausgerissen hatte, 2007 ein Ex–Präsident geworden, kletterte seine Popularität in astronomische Höhen: 76 % haben zur Zeit eine positive Meinung von diesem Mann, den man den Bulldozer nannte und der 40 Jahre lang im politischen Geschäft war.
Jeder Bauunternehmer musste Geld an die Partei abführen
Plötzlich scheint es niemanden mehr zu stören, dass Jacques Chiracs Partei über zwei Jahrzehnte hinweg, z.B. bei öffentlichen Bauaufträgen in Paris und in der Pariser Region "Ile de France", schamlos mitgeschnitten hatte. Jeder Bauunternehmer, der damals einen öffentlichen Auftrag ergattern wollte, etwa für die Renovierung von Gymnasien in der 11 Millionen-Region rund um Paris, musste an die Partei abführen. Das Auftragsvolumen war immens. Ähnlich verhielt es sich, als in Hunderten Sozialwohnungsbauten der Region die Aufzüge renoviert wurden.
Es stört offensichtlich auch niemanden mehr - auch den Steuerzahler der französischen Hauptstadt nicht -, dass das Pariser Rathaus, nachdem Chirac dort 1977, ein Jahr nach der Gründung seiner RPR-Partei, Bürgermeister geworden war, von dieser Partei ganz unverfroren als bequeme Geldquelle benutzt wurde. Die zwanzig fiktiven Arbeitsplätze im Pariser Rathaus, die jetzt vor Gericht behandelt werden, sind nur ein Kleinteil all derer, die es damals gab und die dazu dienten, das Alltagsgeschäft in der Chirac-Partei zu bewältigen, bzw. dafür zu sorgen, dass eine Reihe von Leuten Chirac und seiner Partei verpflichtet waren.
Die Nutzniesser dieser Jobs, zu denen auch ein Problemfall der Familie des ehemaligen Premierministers Debré gehört, waren vom Pariser Rathaus entlohnt worden, ohne dass sie sich dort je hätten sehen lassen, geschweige denn ein Büro oder ein Telephon gehabt hätten. Ja selbst General De Gaulles Enkel Jean De Gaulle hat sich von der Hauptstadt zwei Mitarbeiter finanzieren lassen.
2,2 Millionen Euro für Essen und Trinken - und Papierservietten
Und dann war da doch auch noch die berühmte Haushaltskasse der Chiracs - oder? 2,2 Millionen Euro in Bar haben Bernadette und Jacques Chirac zwischen 1987 und 1995 angeblich gebraucht fürs eigene Essen und Trinken – „frais de bouche“, wie es im französischen so unschuldig heisst. Gebraucht wurde das Geld eben für den Haushalt in der 1'000 Quadratmeterwohnung des Pariser Rathauses. Papierservietten inbegriffen. Aus dieser Wohnung wollte das Ehepaar dann, weil sie so gross und so schön war, fast ein Jahr lang nicht ausziehen. Sogar dann nicht, als Jacques Chirac zum Staatspräsidenten gewählt worden war. Sein Nachfolger im Rathaus, Jean Tiberi, zuvor jahrelange Vize-Bürgermeister, musste warten und durfte sich nicht mal beschweren.
Dabei hatte dieser treue Jean Tiberi 1989 massgeblich dazu beigetragen, dass Chirac nicht nur zum 3. Mal Pariser Bürgermeister wurde, sondern einen für das Prestige wichtigen haushohen Wahlsieg landete. In allen 20 Pariser Arrondissements, selbst in den roten Hochburgen, bekam er die Mehrheit.
Dafür wurden allerdings kräftig Wahllisten gefälscht, Tausende Bekannte und Freunde mit Adressen eingeschrieben, an denen sie nie gewohnt hatten, an manchen Adressen suchte man vergeblich nach einem Wohnhaus, in manchen Strassen vergeblich nach der Hausnummer. Immerhin nennt man so etwas Wahlbetrug. Doch 20 Jahre danach hat bislang immer noch kein Prozess stattgefunden.
Die Nachsicht scheint grenzenlos
Es gab von Anfang der 80er Jahre bis 1995 in der französischen Hauptstadt ein so genanntes „System Chirac“, ein eingespieltes System der Korruption zur Finanzierung seiner Partei und zum Machterhalt um jeden Preis.
Heute, zwei Jahrzehnte später, hat man das Gefühl, für die Franzosen sei all dies nur Kleinzeug und nicht weiter wichtig oder sie seien ein wenig müde geworden, um sich über derartiges noch aufzuregen.
Ihre Nachsicht scheint grenzenlos. Als Jacques Chirac jüngst, wie jedes Jahr seit den 70ern, der Pariser Landwirtschaftsmesse seinen Besuch abstatte, wurde er gefeiert wie ein Nationalheld. Sein Gang ist etwas schwerfällig geworden, hören tut er auch schlecht.Einer längeren Konversation kann er angeblich nur noch schwer folgen. Sein Blick wirkt manchmal reichlich abwesend – doch die gereichten Wurst-, Pastete- oder Käsehappen an den verschiedensten Ständen verschlang er, wie eh und je. Das Bier trug man ihm hinterher und das Hinterteil der Kühe versteht er immer noch zu streicheln, wie kaum ein anderer.
Was stören da seine Privatreisen mit Familie und Freunden nach New York, Salzburg und anderswo hin - und dass dafür in den Jahren vor 1995 hunderttausende Euro für Flugtickets und Luxushotels bar über den Tisch gingen? Und die Gratisflüge seiner Frau Bernadette in den Jets einer kleinen, befreundeten Fluggesellschaft, zu einer Zeit, als Jacques Chirac schon Staatspräsident war? Auch kein Problem. Chirac, so geistert es durch die Köpfe der Franzosen, ist einfach sympathisch.
Hat Chirac Frankreich gedient oder hat er sich bedient?
Offensichtlich erinnern sich die Menschen nicht an all die alten Machenschaften, sondern ausschliesslich daran, dass Chirac als aktiver Politiker einer war, mit dem man saufen und Fressgelage abhalten konnte, dem das Händeschütteln und Schulterklopfen quasi angeboren war und der, trotz allem Zynismus der Macht, Freunden bei Schicksalsschlägen wirklich beiseite stand.
Und doch sollte die Frage erlaubt sein, ob Chirac in seiner 40jährigen Karriere Frankreich wirklich gedient oder er sich und seine Freunde doch sehr oft eher bedient haben? Doch eine solche Frage heute in Frankreich zu stellen, kommt fast einer Gotteslästerung gleich .
Dabei gibt es noch einen weiteren Grund, weswegen die Franzosen über das Verhalten ihres ehemaligen Präsidenten eigentlich schockiert sein müssten.
Nachdem Jacques Chirac im Mai 2007 den Elyséepalast verlassen musste, hat er sich, obwohl Besitzer von zwei Appartements in der Seine-Metropole, eine Absteige der ganz besonderen Art gewählt. Mit einem gewissen Erstaunen erfuhr Frankreichs Öffentlichkeit damals wenige Wochen nach seinem Amtsabtritt, dass das Ehepaar Chirac eine Wohnung bezogen hat, die der libanesischen Milliardärsfamilie Hariri gehört und die ihnen unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde.
Eine Wohnung für 12'000 Euro monatlich - gratis
Jacques Chirac war in der Tat ein enger Freund des ermordeten libanesischen Premierministers gewesen. Bei der Wohnung handelt es sich um eine Belleétage mit knapp 500 Quadratmeter Wohnfläche am Quai Conti, unweit der Académie Française mit Blick auf die Seine und den Louvre. Auf dem freien Pariser Wohnungsmarkt müsste ein Mieter dafür mindestens 12'000 Euros monatlich berappen.
Als Chiracs neuer Wohnorte bekannt wurde und so mancher dann doch fragte, ob es für einen ehemaligen französischen Präsidenten wirklich schicklich sei, ein derartiges Präsent zu akzeptieren, da log seine Gattin, dass sich die Balken bogen. Sie seien, so sagte Bernadette Chirac, damals, derart überarbeitet, dass sie noch keine Zeit gehabt hätten, eine Wohnung zu finden. Fast vier Jahre später wohnen sie immer noch am selben Ort. Der alternde Ex-Präsident musste sich dort unlängst von seinem Hund trennen. Der Vierbeiner zumindest schien etwas gegen diese Wohnung und das merkwürdige Wohnverhältnis zu haben. Er hatte seinen Herrn gleich zwei Mal, innerhalb nur weniger Tage, gebissen.
Die Franzosen scheinen sich auch nicht mehr daran zu erinnern, dass ihr in den Umfragen populärster Politiker seine grosse Karriere mit einem handfesten Verrat begonnen hatte.
Chirac hatte bis zum Ende seines aktiven politischen Lebens das Image eines Gaullisten gepflegt und es geschafft, dass die von ihm gegründete Partei, sein „Rassemblement pour la Republique“ (RPR), als zumindest "neogaullistisch" bezeichnet wurde.
Krach zwischen Chirac und Gisgard d'Estaing
Dabei hatte er nach dem Tod von Präsident Pompidou 1974 massgeblich dazu beigetragen, dass bei den folgenden Präsidentschaftswahlen der echte gaullistische Kandidat, ein Mann aus Chiracs eigenem Lager, Jacques Chaban Delmas, von Valéry Giscard d'Esating im ersten Wahlgang geschlagen wurde und nicht in die Stichwahl gegen den Kandidaten der Linken kam.
Und wen ernannte Giscard d'Estaing nach seinem Wahlsieg 1974 zum Premierminister? Nicht jemanden aus seiner eignen, liberalen UDF-Partei, sondern: Jacques Chirac, den „Neogaullisten“!
Zwei Jahre danach trat Premierminister Chirac polternd vom Amt des Regierungschefs zurück und beschloss, seine eigene "neougaullistsiche" Partei zu gründen und mit den Altgaullisten aufzuräumen. Im selben Jahr bezichtigte er im legendären, so genannten „Appell von Cachin“ Staatspräsident Giscard d'Estaing, "ein Mann des Auslandes" zu sein. Mit anderen Worten: durch seine pro-europäischen Positionen die Interessen Frankreichs zu verraten.
Seitdem hassen sich diese beiden Ex–Präsidenten bis aufs Blut, lassen auch im hohen Alter und 35 Jahre nach dem Zerwürfnis keine Gelegenheit aus, mit Giftpfeilen aufeinander zu schiessen.
Chirac, der mit allen Wassern gewaschene Politiker, wollte den jetzt beginnenden und andere Prozesse mit allen Mitteln vermeiden. Fast zwanzig Jahre lang haben eine Heerschar von Juristen und Rechtsanwälten, sowie von höchsten Beamten des Präsidentenpalastes – allen voran Chiracs langjähriger Generalsekretär im Elysée, Dominique de Villepin - versucht, die Affären aus früheren Zeiten im Keim zu ersticken und die Justiz von Jacques Chirac fern zu halten.
Cela m'en touche une sans faire bouger l'autre
In einem, eher sekundären Fall, hat sie ihn nun doch eingeholt - allerdings, im allerletzten Moment fand der Anwalt eines Mitangeklagten doch noch einen, vielleicht erfolgreichen Winkelzug: Er wird die Frage stellen, ob die Zusammenlegung von zwei Affären in diesem Prozess verfassungskonform ist.
Sollte der vorsitzende Richter darauf eingehen und die Frage prüfen lassen, wäre der Prozess für gut drei Monate ausgesetzt und der Ex-Präsident könnte aus seiner Wohnung am Seineufer erst mal weiterhin den einmaligen Blick auf den Louvre geniessen, ohne den schwierigen Gang in den Justizpalast antreten zu müssen.
Die Franzosen würde dies nicht weiter schockieren. Wie schon gesagt: Chiracs frühere Machenschaften regen sie heute nicht mehr sonderlich auf. Sie zucken die Schultern und sagen sich, mit einem Satz, den Chirac gerne gebraucht und der bereits in die politische Geschichte Frankreichs eingegangen ist:
„Cela m'en touche une, sans faire bouger l'autre". Hinter dem unbestimmten Artikel „une" verbirgt sich das umgangssprachliche Wort „couille“ … der Hoden .