Es war Mitte der 90er Jahre im letzten Jahrhundert, als sich in Calais und rund um die einst so stolze Hafenstadt mit ihrer Textilindustrie die ersten Flüchtlinge sammelten, die unbedingt nach Grossbritannien wollten - nur 30 Kilometer vom englischen Dover entfernt, dessen weisse Kreideküsten bei gutem Wetter mit blosem Auge zu sehen sind. Damals schon waren es Afrikaner aus der Subsahara – daneben vor allem Flüchtlinge vom Balkan, weil der Krieg in Jugoslawien tobte.
Sangatte
Es waren, im Vergleich zu heute, fast gesegnete Zeiten, als ein Land wie Frankreich zunächst noch in der Lage war, auf ein derartiges Phänomen einigermassen „ normal“ zu reagieren, Man schuf unter dem sozialistischen Premierminister Jospin 1999 in einer aufgelassenen, riesigen Fabrikhalle das Aufnahmezentrum „ Sangatte“, das vom Roten Kreuz betrieben wurde und anfänglich für 200 Flüchtlinge ausgelegt war. Es waren Zeiten, als fast jeder Flüchtling in dieser Gegend nach einigen Wochen eine Möglichkeit finden konnte, im Hafengelände von Calais oder kurz davor, einen Lastwagen zu finden, mit dessen Hilfe er sein Eldorado, Grossbritannien, erreichen konnte.
Doch die Zahl der Flüchtlinge nahm zu, irgendwann waren in dem Hangar des Roten Kreuzes in Sangatte über 1000 Personen untergebracht. Und was geschah? Nicht, dass man zwei weitere Lager eröffnet hätte – nein, es kam Zampano Nicolas Sarkozy, damals Innenminister der bürgerlich- konservativen Regierung, und regelte Ende 2002 das Problem unter Blitzlichtgewitter und vor den Objektiven dutzender Kameras im Handstreich: das Auffanglager Sagatte wurde kurzerhand wieder geschlossen und Sarkozy tönte, er habe nun endlich für Ordnung gesorgt und das Problem gelöst.
Dschungel von Calais
Was danach geschah, hätte sich ausser dem kurzsichtigen französischen Innenminister eigentlich jedes Kind ausrechnen können: die Flüchtlinge schufen sich wieder ihre eigenen Lager, einen so genannten „ Dschungel“ nach dem anderen, in den Dünen hinter der Küste oder in Brachlandschaften rund um Calais, aus denen sie bis heute mit schöner Regelmässigkeit Morgen für Morgen wieder vertrieben werden. Unmittelbar danach macht eine Kolonne aus Bereitschafspolizisten und Planierraupen ihre bisherige Bleibe regelmässig dem Erdboden gleich.
Das Dumme nur: Die anwesenden Flüchtlinge selbst konnte man die ganzen Jahre über nicht einfach plattwalzen. Nach jeder dieser spektakulären Säuberungsaktionen waren diese Menschen, die zum Teil seit fünf Jahren auf der Flucht sind, immer noch da, in und rund um Calais – und alles begann wieder von vorne.
Denn das politische oder ökonomische Chaos in Afrika, im Nahen und mittleren Osten, das Millionen Menschen in die Flucht treibt, schert sich reichlich wenig um die abschreckenden Massnahmen da oben an der französischen Ärmelkanalküste. 60 Millionen Menschen sind dieser Tage weltweit auf der Flucht – und gewiss nicht aus Vergnügen. Die 3000 in Calais Gestrandeten sind ein Klacks. Trotzdem entblödet sich zum Beispiel die britische Schmutzfinkpresse dieser Tage nicht, an den Widerstand gegen Hitler zu erinnern, wenn sie fordert, man müsse sich mit aller Macht gegen die Invasion dieser verzweifelten und ausgelaugten Flüchtlinge zur Wehr setzen.
Hilflosigkeit
Letztes Wochenende haben die britische Innenministerin und ihr französischer Kollege, Bernard Cazeneuve, ein gemeinsames Kommuniqué herausgegeben, in dem sie die Flüchtlingsfrage als absolute Priorität bezeichneten. Im Grunde ist dieses Kommuniqué nichts anderes als eine peinliche Bankrotterklärung aus London und Paris.
Um dem Problem der 3000 Menschen, die um jeden Preis von Calais aus nach Grosbritannien möchten, Herr zu werden, appelieren die beiden Minister doch tatsächlich an Europa, das ihnen helfen müsse, und suggerieren nichts anderes, als dass sich doch bitte die Erstankunftsländer wie Griechenland und Italien um diese Menschen zu kümmern hätten.
Man muss sich das schon einmal auf der Zunge zergehen lassen. Grossbritannien und Frankreich, die keine Gelegenheit auslassen, darauf zu verweisen, was für grosse Nationen sie doch sind, wagen zu sagen, das darniederliegende Griechenland, wo es stellenweise für Zehntausende von Flüchtlingen schon nichts mehr zu essen gibt, möge doch bitte seinen Verpflichtungen nachkommen. Ebenso Italien, das nun seit Jahren wirklich tut, was es kann, damit sich das Massengrab Mittelmeer nicht noch weiter mit Flüchtlingsleichen füllt, und verzweifelt und berechtigt auf europäische Solidarität hofft, wird von den Herrren in Paris und London zur Ordnung gerufen. So etwas nennt man wohl blanken Zynismus oder Vogel-Strauss-Politik.
Schmeissfliegen
Nun spricht Herrr Cameron auch noch von einem „Schwarm“ von Flüchtlingen, als wären die Geschundenen und Traumatisierten, die in den letzten Jahren dem Tod in der Sahara, im chaotischen Libyen oder im Mittelmeer bereits mehrmals von der Schippe gesprungen waren, letztlich nichts anderes als Schmeissfliegen. Das erste, was den Briten einfiel, um die Sicherheit rund um den Hafen von Calais und das Eurotunnelgelände noch weiter zu verstärken, war das Entsenden mehrerer Spürhunde!
Frankreich als Handlanger
Letztlich hat sich Frankreich seit 2003 mit einer ganzen Reihe von bilateralen Verträgen mit Grossbritannien zur Flüchtlingsproblematik von London über den Tisch ziehen lassen. Die Tatsache, dass ein Teil des Hafens von Calais auf Grund dieser Verträge de facto plötzlich britisches Territorium ist, die britische Grenze also hier auf der französischen Seite des Ärmelkanals liegt, macht die französischen Ordnungskräfte zu Handlangern und Ausführenden der britischen Immigrationspolitik - das souveräne Frankreich ist plötzlich gezwungen, seine eignen Grenzen für gewisse Ausreisende dicht zu machen, die Flüchtlinge im eigenen Land einzusperren.
Und muss sich dafür von der britischen Regenbogenpresse, ganz tief aus der Gosse kommend, auch noch beschimpfen und massregeln lassen, von wegen die französischen Ordnungskräfte seien unfähig und würden wegschauen, wenn die Flüchtlinge Nacht für Nacht das 650 Hektar grosse Terrain des Eurotunnels stürmten. Grossbritannien hat sich am Ausbau der Sicherheitsvorrichtungen, der Erhöhung und Verstärkung der Stacheldrahtzäune rund um den Hafen von Calais finanziell beteiligt, zahlt an Frankreich jährlich lächerliche 10 Millionen Euro, damit das Nachbarland die Flüchtlinge von der Insel fernhält. Der Hafen ist inzwischen derart abgeschottet, dass sich die Flüchtlinge nun auf den Eurotunnel konzentrieren, sich dort die Hände an den Stacheldrahtzäunen aufreissen und glauben, sie könnten so nach Grossbritannien gelangen – Nacht für Nacht versuchen es Hunderte. Und immer mehr sterben dabei.
Todesanzeige
Eine Todesanzeige zu Beginn der Woche in der Tageszeitung Liberation klingt wie eine schallende Ohrfeige für den geballten Zynismus in Paris und London und die zum Himmel schreiende Unfähigkeit Europas, das Flüchtlingsproblem in Calais einigermassen human zu lösen. Diese Todesanzeige im Wortlaut:
„Die Freiwilligen zur Unterstützung der Migranten in Calais,
die Immigranten aus verschiedenen Ländern, die in Calais blockiert sind,
und die Familien der Verstorbenen
informieren in Schmerz und Machtlosigkeit über das Ableben von:
Monsieur ****
Flüchtling, verstorben am 29. Juli 2015. Von einem Laster überfahren auf dem Gelände von Eurotunnel in Calais
Monsieur Sadik
Flüchtling aus Pakistan, 30 Jahre, verstorben am 28. Juli 2015 in Folge seiner Verletzungen auf dem Gelände von Eurotunnel in Calais.
Madame Ganet
Flüchtling aus Erythrea, 22 Jahre. Verstorben am 24. Juli 2015, um 5Uhr30 erfasst von einem Auto auf der Autobahn A 16 in Richtung Calais.
Monsieur ****
Jugendlicher. Verstorben am 23. Juli 2015, tot aufgefunden auf der britischen Seite des Eurotunnels in Folkstone.
Monsieur Houmed
Jugendlicher aus Erythrea, 17 Jahre. Verstorben am 19. Juli 2015. Ertrunken auf dem Gelände vom Eurotunnel in Calais.
Monsieur Mohamad
Pakistanischer Flüchtling, 23 Jahre. Verstorben in der Nacht des 13. Juli durch einen Stromschlag auf dem Gelände vom Eurotunnel in Calais.
Monsieur Abdul Majid
Flüchtling aus dem Sudan, verstorben am 7. Juli. Tot aufgefunden auf dem Gelände vom Eurotunnel in Calais.
Samir
Geboren am 4. Juli 2015. Am selben Tag verstorben nach einer Frühgeburt in der 22. Woche, ausgelöst durch einen Sturz seiner Mutter von einem Lastwagen auf dem Gelände vom Eurotunnel in Calais.
Madame Zébiba
Junge Erythräerin, verstorben am 29. Juni 2015. Von einem Auto erfasst auf der Autobahn A 16 zwischen Calais und Merck.
Monsieur Getenet
Flüchtling aus Äthiopien, 32 Jahre. Verstorben am 26. Juni 2015 auf dem Gelände vom Eurotunnel in Calais.
Monsieur ****
Flüchtling. Verstorben am 2. Juni 2015. Von einem Auto auf der A 16 in Richtung Calais überfahren.
Monsieur Tesfaye
Flüchtling aus Äthiopien, 26 Jahre. Verstorben am 14. Februar 2015, tot aufgefunden in seinem Zelt im „ Dschungel von Calais“.
Die Familien werden ganz überwiegend die sterblichen Überreste der Opfer nicht in ihr Heimatland überführen können.
Sie werden unter allergrösstem Schweigen der europäischen Staaten beigesetzt.
Gestorben für die Freiheit an der französisch-britischen Grenze.
Die Grenze tötet."