Manchmal sollte man ein Buch lesen, das man eigentlich gar nicht lesen wollte. Es genügt doch, sich auf der Straße, im Tram oder Restaurant umzusehen. Die Jugend! Wenn unterwegs, immer das Headphone in die Ohren gepfropft, blind über den Fußgängerstreifen, auf youtube von der Welt verabschiedet. Oder noch schlimmer: die Augen starr aufs smartphone gerichtet, knallen sie in Entgegenkommende hinein, als wären sie allein auf dieser Welt. Dabei flitzen ihre schlanken Daumen über die Tastatur, schneller als die Alten mit den Augen zwinkern können. Und erst im Coffeeshop! Da hocken sie, belegen den ganzen Vierertisch mit Freitagtasche, Wolljacke und iPad, touchen auf dem screen herum und vergessen dabei den Latte grande. Über eben diese Jugend – ein Buch lesen? Nein, danke. Schon falsch. Denn das Buch ist durchaus lesenswert.
Digitale Demenz?
Wer diese neue Welt verstehen möchte – wie die Generation der Digital Natives tickt – der 1994 geborene Philipp Riederle aus Burgau hilft der älteren Generation dabei . Auf 250 Seiten tischt er nachsichtig und geduldig die basics der Smartphone World auf, aus seiner persönlichen Sicht. Ihre Bewohnerinnen und Bewohner sind jung und die Zukunft der realen Welt. Die Revolution im Internet ist im Gang, der noch nicht Zwanzigjährige mit dem fragenden Blick heisst für Interessierte „Willkommen im Club“.
Er weiss um alle Vorurteile der Erwachsenen gegenüber „dieser“ Jugend. Auch ist er sich bewusst, dass Erzieherkapazitäten wie Manfred Spitzer nachdrücklich warnen vor diesen „digital Dementen“. Irgendwo hat er sogar gelesen, was Sokrates vor 2500 Jahren gesagt haben soll: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süssspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“
Schon die 23jährigen verlieren den Überblick
„Wir gehen mit unserer Lebenswelt komplett anders um, als Ihr denkt“, warnt er schon auf den ersten Seiten seines Buches „Wer wir sind und was wir wollen“. Es ist ihm ein ehrliches Anliegen, die Wissenslücken der älteren Menschen zu füllen, aufzuzeigen, dass sich nicht nur das Web und die Kommunikation verändern, sondern daraus resultierend das ganze Leben. „Denn sie (eben die Älteren, z.B. der Autor dieser Kolumne), die Wirtschaft, die Politik, das Fernsehen und Radio, die Printmedien und Bücherautoren sind gerade dabei, den Kontakt zur jungen Generation zu verlieren“ konstatiert er trocken und etwas undifferenziert.
Eine Frage sei erlaubt: Wenn die digitale Welt ein so rasant wachsender, sich ständig mutierender Selbstläufer ist, wie das Digital Natives selbst erfahren und sie deshalb schon im Alter von 23 Jahren den Überblick über das Ganze verloren haben (sie kennen die Apps der Jüngsten bereits nicht mehr), verlieren da nicht eben diese älteren Jungen ihrerseits den Kontakt zum Nachwuchs?
Wir suchen nicht mehr – wir finden
Die Generation Y (mit digitalen Technologien aufgewachsen) hat unendlich viel Input jederzeit zur Verfügung. Millionen von Websites, Foren, Blogs, Sendern. Vorbei die Zeiten, als Fernsehen und Radio mit ihren Programmen („Programm“, aus dem Griechischen, bedeutet „Vorschrift, Bekanntmachung“) eine Einwegkommunikation betrieben. Das Internet schreibt nicht vor, was und wann – sonntagabends den „Tatort“ eben. Die Internetwelt braucht die grossen Medienanstalten, die Gatekeeper, nicht mehr.
Stattdessen fragen sich die Jungen: Was ist relevant für mich? Womit will ich mich beschäftigen? Was ist es wirklich wert? Dabei wollen sie mit anderen Menschen kommunizieren, die Köpfe zusammenbringen. Schon Picasso als Pionier einer neuen (Maler-) Generation sagte über sich, „ich suche nicht – ich finde“.
Die unsichtbare Revolution
Mag sein, dass viele ältere Menschen etwas Mühe bekunden mit der Generation Y, weil ihnen das Ganze ziemlich unheimlich vorkommt. Die Revolution läuft im Internet – unsichtbar, schnell, geheimnisvoll. Da zeigt sich Riederle entwaffnend offen und macht sich interessante Gedanken. Er vermutet, dass die Grundbedürfnisse – das Gefühl, nicht allein zu sein, Menschlichkeit, Kommunikation, Freunde, Unterhaltung, ein wenig Wärme, Lebendigkeit, Interaktion und das Gefühl, gebraucht zu werden - in dieses neue Medium Internet projiziert werden. (Auch da wären wohl nicht alle seiner Generation einverstanden?) Diese sozialen Medien sind, im Gegensatz zu den altbekannten, klassischen und linearen, keine Einbahnstrasse. Somit mutiert das System zur verlängerten Kneipentheke, die zum Cliquengefühl beiträgt.
Doch wie ist das Verhältnis dieser Social Media- Welt zum öffentlichen Alltag? Leben die Jungen da nicht ab und zu gleichzeitig in einer Parallelwelt? Sie nehmen zwar vordergründig teil an Gesprächen, sind irgendwie physisch anwesend, aber gleichzeitig gefesselt via Smartphone in ihrer virtuellen Welt. Diese Frage ist gestattet. Sagen doch selbst Jugendliche, dass „ihre digitale Welt so stark mit der Realität verschmilzt, dass einem die Grenzen bereits abhanden kommen“.
Andererseits ist es der Erwachsenengeneration nicht verboten, sich selbstkritisch Gedanken zu machen über die sichtbare Anonymisierung der Gesellschaft, über die beklagte Vereinsamung vieler, vor allem älterer Leute. Dieser Trend muss doch nachdenklich stimmen. Hätten es da die Jungen von heute dereinst vielleicht gar besser? Können sie nicht ihre persönlichen Bilder im Kopf mühelos kommunizieren, andere sehen lassen? Erfahrungen teilen, Frust und Ängste loswerden, Freuden, Freundschaften und Liebe im Netz verbreiten? Bilder, das sind auch die Föteli, die sie dauernd schießen, mit ihrem Smartphone, sagen unendlich viel mehr als Worte.
Wo Junge und Alte gleich ticken
Geradezu wohltuend ist Riederles Verhältnis zu Billetautomaten. „Was haben die sich eigentlich gedacht, die das erfunden haben?“ Jetzt fragen sich manche Leserinnen und Leser vielleicht: was, der auch? „Allein das Buchstabengetippe zum Zielort ist eine Wonne“, mockiert er sich. „Man sollte verstehen, was die Software-Programmierer sich so gedacht haben dabei.“ Aber eben: müssen wir das? Muss ich verstehen, wie diese „old-school“-Geräte funktionieren, nur damit ich Bahn fahren darf? „Sicher war diese Technologie gut gemeint!“
Der Unterschied zum SmartPhone ist gewaltig. Diese neue Technologie erklärt sich von selbst, ist extrem kundenfokussiert. Immerhin gibt es ja auch Billetautomaten der neuesten Generation. Wer schon mal elektronisch eingecheckt hat für seinen Flug, ist zur Fangemeinde gestoßen. Alles kinderleicht, selbsterklärend, zeitsparend. Fazit: es gibt durchaus Bereiche, in denen Junge und Alte gleich ticken!
Denkpause
Die Generation Y versteht das Internet als sozialen Kulturraum. Gut ist hier, was „gefällt“. Wenn Millionen Leute ihren „gefällt mir“-Button drücken, tun sie es freiwillig. Das ist gewöhnungsbedürftig. Es ist beeinflusst von der medialen Durchdringung der Welt und der Beschleunigung von allem.
Gut ist, was gefällt. Denkpause. Die älteren Generationen haben die Konsumgesellschaft begründet, den sich selbst regulierenden Markt, die Vielrednerinnen und -redner in der Politik, die dabei nichts sagen, die endlosen Ratgeberauftritte und die werbedurchtränkten Kochsendungen, in ihrer Banalität nicht zu übertreffen. Das Auto als Statussymbol, den tonnenschweren, spritsaufenden SUV als Intelligenzausweis. Denkpause. Es fällt tatsächlich schwer, vom alten, einmal gelernten Lebensmodell wegzukommen.
Crowdfunding für Start-ups
„Wir teilen unser Wissen, anstatt es als Machtkapital anzusehen und liefern uns gegenseitig feedback für unsere Beiträge.“ Durch Crowdfunding ergibt sich eine weitere Komponente in der Palette endloser Möglichkeiten. Dabei wird eine tolle Idee oder technische Erfindung auf einer Crowdfunding-Plattform vorgestellt und Menschen gesucht und gefunden, die darin investieren wollen.
Jetzt wird es möglich, seine elektrisierende Idee – die im Grosskonzern durch Ego-Chefs immer abgeblockt wurde – als Start-up zu finanzieren, als selbständiger Unternehmer Risiko auf und Erfolg für sich zu nehmen. Eine neue, faszinierende Möglichkeit, die zudem den Resultaten der neuesten Genforschung entspricht: menschliche Gene sind auf Kooperation angewiesen, um sich optimal zu entfalten. Und natürlich: Der Kontrollwahn der Machthaber wird ad absurdum geführt.
Transparenz ohne Grenze
Viele Politiker und Machtausübende fürchten sich vor Transparenz. In unserem Land gibt es angesehene Printmedien, die sich noch heute keine Gelegenheit entgehen lassen, vor vermehrter Transparenz zu warnen.
Mal abgesehen davon, dass „es eine Grundvoraussetzung der Demokratie ist, dass es Menschen gibt, die auf Missstände hinweisen“ (ZEIT online), führt Wikileaks, führen die Digital Natives dazu, dass strategische Volksbeeinflussung oder Inszenierung ins Abseits geraten. Die Unterdrückung der Meinungsfreiheit ist doch eigentlich ein Wesensmerkmal der Diktaturen. So gesehen erfährt „Transparenz als Schlüssel zur Moderne“ (so der Titel meines Buches aus dem Jahr 2002) eine Bestätigung durch die aktuellsten Vorkommnisse in der globalisierten Politik.
Cybermobbing – das Kapitel fehlt
Die Medien vermelden inzwischen mit Nachdruck, dass die Auswirkungen von Cybermobbing im realen Leben für Betroffene, Ausführende, Schulen und Eltern ein virulentes Problem geworden. Das perfide daran ist ja, dass es dabei keinen geschützten Raum mehr gibt. Da hört der Spass auf. Warum sucht man bei Riederle vergeblich nach seinem Befund? Sind das Anzeichen der Unsicherheit beim sonst so selbstsicheren Autor?
„Wir sind abgeklärt – aber möglicherweise falsch programmiert“, sinniert der Autor. „In Wirklichkeit, aber vielleicht ohne es zu wissen, sehnen wir uns im tiefsten Inneren nach einer romantischen Beziehung, nach der Grossen, ewigen, erfüllten Liebe.“ Noch viele lesenswerte Geständnisse, aber auch einige verzeihbare Überheblichkeiten oder Fehldiagnosen erwarten Sie bei der spannenden Lektüre. Doch das grosse Ganze, der mutige Versuch einer Beweisführung für Laien, ist lesenswert und lehrreich. Dabei darf man sich vor Augen halten, dass Riederle vielleicht zu oft denkt, für seine Generation zu sprechen, wo der doch in Wirklichkeit sein ganz persönliches Weltbild beschreibt.
Neues Denken?
„Das Internet bietet die Chance für eine fundamentale Neuordnung der Gesellschaft zum Bessern“ wird der französische Journalist Michel Serres (83-jährig!) zitiert (TA 29.10.2013). Er rät der Jugend: „Erfindet euch neu!“ und er plädiert für ein neues Denken, das einer neuen Gesellschaft vorausgeht. Mehr als ein Wunschtraum?
Jede Generation hat ihre eigenen Rituale. Um den Generationen-gap zu überbrücken braucht es auf beiden Seiten dieser Brücke starke Fundamente, welche die Verlässlichkeit der Konstruktion sichern. Gegenseitiges Vertrauen in die Generationen auf der gegenüberliegenden Seite des „Flusses der Zeit“ ist der Bewehrungsstahl im Beton dieser Brücke, der die Druck- und Zugfestigkeit des Gesamtwerkes garantiert.
Die schönste Brücke – sozusagen die Golden Gate – wird in jenen Familienclans gebaut, wo ganz selbstverständlich Alte sich für Junge ehrlich interessieren und vice versa.
(Philipp Riederle: „Wer wir sind und was wir wollen – Ein Digital Native erklärt seine Generation“, 2013, Knaur Taschenbuch.)