Trotz epochaler Herausforderungen kommen die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zeitenwenden nicht so voran, wie es nötig wäre. Neben ideologischen Antagonismen liegen die Gründe dafür auch in einer im 20. Jahrhundert aufgetretenen Selbstlähmung des Denkens.
Nach der Diagnose des viel gelesenen und diskutierten deutschen Soziologen Andreas Reckwitz bildet die Singularisierung eine Grundtendenz in der Spätmoderne. Damit ist gemeint, dass das Einzelne nicht dem Allgemeinen folgt, sondern umgekehrt: Der Einzelfall hat im Erkennen, Denken und Handeln stets den Vorrang.
Allerdings äussert sich dieses Paradigma in höchst konträren konkreten Haltungen, einer futuristischen und einer machtkritisch ausgerichteten. Und diesen Singularisierungs-Varianten steht erst noch ein Populismus entgegen, der gewissermassen vorwärts in die Vergangenheit durchbrechen will. Dieser unübersichtliche Clash der Ideologien ist mit ein Grund dafür, dass die gesellschaftlich-politische Veränderungen blockiert sind sich am Status quo nichts Grundlegendes ändert. Ein Übriges tut eine Abkehr vom Realitätsprinzip, die allen ideologischen Sackgassen gemeinsam ist.
Paradigmenwechsel: Vom Vorrang des Allgemeinen ...
In seiner Studie «Die Gesellschaft der Singularitäten» von 2019 beschreibt Reckwitz einen zentralen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel, nämlich den Wandel auf der Ebene fundamentaler kultureller Codes, der sich an der Schwelle zwischen der industriellen Moderne und der Spätmoderne ereignet hat.
Die bürgerliche sowie die erste industrielle Ära, also die Zeit zwischen 1850 und der Mitte des 20. Jahrhunderts, sieht Reckwitz geleitet durch eine «Logik des Allgemeinen». Sie rückt das Reguläre ins Zentrum des Interesses. Demzufolge steht immer die Regel vor dem Einzelfall, die Gattung vor dem Exemplar, die soziale Rolle vor der individuellen Person.
Die Top-Down-Logik, die stets vom Allgemeinen, von der Regel her denkt, ist die Logik der industriellen Produktion.
Unter der Herrschaft dieser Top-Down-Logik findet eine durchgängige Rationalisierung statt, das heisst, Produkte wie auch Produktionsprozesse werden standardisiert, ebenso die Abläufe in der betrieblichen wie der staatlichen Verwaltung, und nicht zuletzt erfährt das Rechtswesen eine durchgängige Vereinheitlichung.
Die Produktion im industriellen Massstab erfordert beides: zum einen ein transparentes Rechtssystem, das Planbarkeit garantiert, zum anderen Produktionsmethoden, die unabhängig sind von den «Einzelfällen» des Orts, der Zeit und der beteiligten Personen. Diese «Logik des Allgemeinen» ist ganz direkt und zwingend an die Industrialisierung gekoppelt.
... zum Primat des Besonderen
Am Übergang zum postindustriellen Zeitalter, den Reckwitz auf die Zeit um 1970 datiert, kommt diese Herrschaft des Allgemeinen ins Wanken. Sie wird schliesslich abgelöst durch einen neuen Konsens, eine «Logik des Singulären», welche die bisher geltenden Hierarchien auf den Kopf stellt. Das Generalisierbare erfährt eine durchgängige Abwertung, seien das nun Standardprodukte, Normen oder Konventionen. Im Gegenzug rücken das, was Reckwitz «Singularitäten» nennt, ins Zentrum des Interesses.
Im postindustriellen Zeitalter erfährt das Generalisierbare eine durchgängige Abwertung.
Darunter versteht Reckwitz Phänomene, die aus dem Gewohnten herausstechen, weil sie entweder neu sind oder in einer Weise speziell, dass sie sich der Einordnung entziehen. Der heutige Markt fragt nicht mehr primär nach der Nützlichkeit von Produkten, nach ihrem materiellen Gebrauchszweck; er verlangt vielmehr nach einem symbolischen Mehrwert, der aus dem Gegenstand einen Marker der Besonderheit macht.
Denn tatsächlich verändert sich unter der neuen sozialen Logik auch die Selbstdarstellung der Individuen grundlegend. Wurden diese im Industriezeitalter nach einem allgemeinen Raster bewertet, der bestimmte berufliche, moralische oder charakterliche Standards einforderte, so haben sie heute ihre Eigenqualität herauszustreichen, das gewisse Etwas, über das nur sie verfügen und das sie unverwechselbar macht.
So ist auf den Arbeitsmärkten – wenn man den Stellenausschreibungen denn glauben will – nicht mehr die graue Maus gefragt, die schlicht ihre Aufgaben erledigt. Gewünscht sind – selbst für Routinejobs – Persönlichkeiten, die über Kreativität verfügen, die selbstbewusst auftreten und durch Charisma überzeugen. Sich unterscheiden, indem man sich selbst inszeniert, das scheint derzeit die zentrale soziale Kompetenz zu sein, und das längst nicht nur im Arbeitsumfeld.
Ein Nebeneinander sozialer Logiken
Nun stellt Reckwitz allerdings die beiden sozialen Logiken nicht einfach nebeneinander wie zwei unterschiedliche Epochen; es ist keineswegs so, dass die eine die andere glatt ablöst. Vielmehr sind beide auf beiden Seiten der Zeitenwende vorhanden, nur ihr Verhältnis ändert sich. So war die «Logik des Singulären» auch unter der Herrschaft des Allgemeinen schon da, allerdings begrenzt auf spezifische kulturelle Reservate, nämlich die Gegenkulturen von der Romantik bis zu den Achtundsechzigern, die ja immer schon die Unvergleichlichkeit von Individuen hochhielten.
Schon von der Romantik bis zu den Achtundsechzigern wurde die Unvergleichlichkeit von Individuen hochgehalten.
Umgekehrt ist aber auch die «Logik des Allgemeinen» in der Spätmoderne keineswegs verschwunden. Sie herrscht noch immer auf der Ebene der technischen Hardware, also in der Produktions- und Verkehrssphäre, wo weiterhin Gebrauchsgegenstände in industriellem Massstab gefertigt und anschliessend effizient über die ganze Welt verteilt werden. Die Singularisierung von Produkten wie auch von Dienstleistungen bleibt letztlich Sache der Vermarktung. Sie mag die Oberfläche betreffen, die Wahrnehmung der Waren, aber nicht deren Substanz.
So löst im Paradigmenwechsel, den Reckwitz beschreibt, wohl eine soziale Logik die andere in der Vorherrschaft ab. Doch sie ersetzt sie nicht, sondern drängt sie bloss ab in den gesellschaftlichen Hinter- oder Untergrund.
Allerdings betrachtet Reckwitz die Kulturen der industriellen und postindustriellen Moderne aus sehr grosser Höhe. So konfrontiert er zwei konträre soziale Logiken miteinander, um einen zentralen Wandel des 20. Jahrhunderts in seinen grundsätzlichen Zügen zu erfassen. Diese Logiken sind Idealtypen und erhalten dadurch monolithische Züge.
Sobald wir aber näher heranzoomen, zeigt sich die Sache differenzierter: Die «Logik der Singularität» erscheint dann nicht mehr als einheitlicher Block. Vielmehr treten an ihrer Oberfläche – nebst vielen Ziselierungen – zwei grosse Hauptströmungen zutage, welche das Phänomen der Singularisierung mit unterschiedlichen, ja sogar gegensätzlichen Akzenten versehen.
Die Opposition gegen das Allgemeine bildet quasi das Schwarz des Monoliths. Doch über dieser Grundierung findet sich auf der einen Seite ein Projekt mit futuristischer Orientierung, auf der anderen eine Strömung, die sich primär gegen verfügende Vernunft richtet und in ihrem Kern machtkritisch angelegt ist.
Futurismus für die Herren
Betrachten wir zunächst die futuristische Variante: Sie legt das Gewicht auf Dynamik, auf den Wurf, den unablässig wiederholten Sprung in eine unbekannte Zukunft. Dieses Projekt hat sich ganz der «schöpferischen Zerstörung» (Schumpeter) verschrieben und zielt seinem Wesen nach darauf, den Fängen des Gewesenen zu entkommen.
Im Grunde hält dieses disruptive Konzept am alten Fortschrittsethos fest, wobei es aber den Bezug zu einem Ziel gänzlich gekappt hat. Wir gehen vorwärts, ohne zu wissen wohin. Die futuristische Vision gibt sich grundsätzlich optimistisch und dabei technikaffin: zudem pflegt sie ein unbelastetes Verhältnis zur Macht. Genau das macht sie kompatibel mit wirtschaftlichen Interessen.
Zentraler Protagonist der futuristischen Erzählung ist der innovative Unternehmer, ein Subjekt, das als vereinzeltes im Wettbewerb mit andern steht, das zudem seinen Fokus ganz auf die Zukunft richtet und deshalb stets bereit ist, sich vom Erreichten – auch von bisherigen Erfolgskonzepten – loszureissen.
Der innovative Unternehmer als Protagonist der futuristischen Erzählung muss stets bereit sein, sich von bisherigen Erfolgsrezepten loszureissen.
Ständig spürt dieser Typus die Konkurrenz im Nacken und muss, um sich zu behaupten, die Marktentwicklungen antizipieren. Das vermag er jedoch nur, wenn er fähig ist zur Disruption, also in der Lage ist, das Niedagewesene zu denken, etwas zu konzipieren, was jenseits der bekannten Horizonte liegt. Denn primär die Neuheit ist es, welche Produkten wie Dienstleistungen die Aura des Singulären verschafft – und damit den Wettbewerbsvorteil. Stillstand bedeutet Rückschritt, Rückfall nämlich in die Niederungen des Allgemeinen und Gewohnten, dem jeder verkaufsfördernde Glanz abgeht.
Permanente Selbstüberschreitung, kompromisslose Selbstüberwindung, das fordert der Kategorische Imperativ des neoliberalen Unternehmertums von den Leadern wie auch vom erweiterten Management; insofern hallt in der futuristischen Pflichtethik durchaus ein puritanisches Arbeitsethos nach.
Flexibilität für die Knechte
Diese Überschreitungspflicht gilt allerdings nicht nur für die Herren, sondern ebenso für die Knechte, wenn auch mit verschobener Perspektive: Erstere entwickeln die Visionen und geben den Takt vor, letztere haben zu folgen, sich flexibel anzupassen an all die Innovationen und Reorganisationen, die in der Regel von Marktentwicklungen her begründet werden.
Richard Sennett hat in seiner Studie zum «flexiblen Menschen» schon 1998 die ideale Arbeitskraft unter spätkapitalistischen Bedingungen eingehend beschrieben. So besteht deren zentrales Merkmal in einer «Korrosion des Charakters» (vgl. den englischen Titel des Buches «The Corrosion of Character»); das heisst, die Angestellten von heute haben alles von sich abzustossen, was ihnen eine scharfe und dauernde Kontur verschaffen könnte.
Ideale Arbeitskraft ist ein «flexibler Mensch» ohne gefestigte Persönlichkeitsmerkmale, konsequente Überzeugungen und verpflichtende Beziehungen.
Gefestigte Persönlichkeitsmerkmale, konsequente Überzeugungen, auch verpflichtende Beziehungen oder Einbindungen erscheinen als Makel, der weggearbeitet werden muss, weil er als Hemmschuh für die Arbeitsmarktfähigkeit gilt. Die Dinge ändern sich fortwährend, seien es Prozesse, Technologien oder Organisationsformen; da führt Erfahrung bloss in die Sackgasse.
Stabile Orientierung ist out, der Weg selbst das Ziel, so lautet das Credo, auf das die Arbeitskräfte in postindustriellen Gesellschaften getrimmt werden und das sie in ein Hamsterrad bannt, weil es sie auf den Dauerlauf einer ebenso end- wie ziellosen «Persönlichkeitsentwicklung» verpflichtet. Aus futuristischer Sicht ist alles zu überwinden, was aus der Vergangenheit herkommt oder auch nur im Begriff ist, Bestand zu gewinnen. Dazu gehören auch individuelle wie kollektive Geschichten, an denen wir Halt finden.
Paartanz zwischen Antagonisten
Die futuristische Erzählung untermalt primär wirtschaftsliberale Positionen. Ihr Gegenpart, der machtkritische Diskurs, findet sich eher im kulturliberalen Umfeld, das seinerseits in der Tradition der Gegenkulturen steht und so noch immer einen sanft anarchistischen Anstrich trägt. Damit erscheinen die beiden Narrative zunächst als Antagonisten: Das erste gibt sich offen wirtschaftsfreundlich, das zweite zielt auf Kritik, und zwar nicht nur am aktuellen System, sondern am Prinzip der Herrschaft überhaupt.
Aber trotz des Gegensatzes führen die beiden Bekenntnisse zuweilen einen Paartanz auf, und zwar deshalb, weil sie letztlich über einen gemeinsamen Fluchtpunkt verfügen: die Befreiung der Einzelnen von einer zentralen Macht und von einengenden Normen. Für die kulturliberale Seite steht der Ordnungsstaat mit seinem Unterdrückungspotential im Fokus der Kritik; die wirtschaftsfreundliche Fraktion wettert gegen den Steuer- beziehungsweise den Umverteilungsstaat, dessen bürokratische Macht angeblich die unternehmerische Initiative lähmt.
Machtkritische und kulturliberale Positionen behindern Wirtschaftsinteressen in keiner Weise, denn sie fördern den Konsum und den Zugang zu Absatzmärkten.
Ganz abgesehen davon behindert die kulturelle Entgrenzung die Wirtschaftsinteressen in keiner Weise, denn zum einen fördert sie den Konsum, zum andern den Zugang zu Arbeitsmärkten, was wiederum bei deren Flexibilisierung hilft. Dass Linke und Wirtschaftsliberale also teilweise am gleichen Strick ziehen, lässt sie als Interessengemeinschaft erscheinen – vor allem natürlich in den Augen derer, die sich als Verlierer der gesellschaftlichen Öffnung sehen.
Fundamentalopposition gegen die Macht
Das machtkritische Narrativ findet sich vor allem in der linken Avantgarde; es hat seine Anfänge bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg genommen, nämlich in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Schon diese hat die die Wurzel aller modernen Übel in der verfügenden Vernunft verortet. Allerdings spielen die Frankfurter in der aktuellen Debatte kaum noch eine Rolle; heute stützt sich die machtkritische Argumentation hauptsächlich auf das Denken Michel Foucaults.
Auch Foucault hat in seinen Werken aus den Sechzigern die Standardisierungszwänge angeprangert, welche das Denken der Moderne kennzeichnen und die in ihrer Konsequenz zum Ausschluss des jeweils Andersartigen führen. Zentral ist in dieser Kritik das Konzept der «Diskurse». Darunter versteht Foucault jene tief hinter dem expliziten Wissen angelegten Logiken, die letztlich der Herrschaft dienen, indem sie den kollektiven Blick lenken und damit auch die gesellschaftliche Praxis auf der vorgegebenen Spur halten.
Ab den Siebzigern ist Foucault über diesen erkenntniskritischen Ansatz hinausgegangen und hat sich direkter mit Machttechniken beschäftigt, beispielsweise mit der Strafpraxis im bürgerlichen Zeitalter oder mit den Mechanismen, welche die Sexualität gesellschaftlich kanalisieren. Doch auch in diesen späteren Arbeiten bleiben für Foucault Wissen und Macht in einer Weise ineinander verschlungen, dass sich eine Alternative zum Bestehenden, eine freiere Form der Vergesellschaftung, gar nicht mehr fassen lässt.
Zahnlose Kritik
Es gibt keinen Diskurs jenseits der Macht; sie ist allumfassend, ein unentrinnbarer Alptraum, in dem der Unterschied zwischen Herren und Knechten verschwimmt. Auch eine von den letzteren getragene Gegenmacht unterläge dem Bann der Gewalt. Foucault distanziert sich von der Herrschaft, indem er deren Effekte im Denken denunziert; aber zugleich verzichtet er darauf, eine konkrete Perspektive zu entwerfen, eine politische Alternative, welche über die aktuellen Verhältnisse hinausführen könnte.
Foucault betont, dass es kein Denken ohne Ausübung von diskursiver Macht gibt. Freiheit bleibt für ihn eine Utopie, von der man sich kein Bild machen kann. Die postmarxistische Linke ist nicht in der Lage, ein Zukunftsprogramm zu entwerfen.
Was er am Schluss seines Lebens bietet, ist die rein individuelle Aussicht auf eine persönliche Lebenskunst. Aber die rechtlich abgesicherte politische Freiheit bleibt eine Leerstelle, eine Utopie, die dem Bilderverbot unterliegt. Diese Abstinenz gegenüber Zukunftsprogrammen bildet das typische Merkmal postmarxistischer Gesellschaftskritik, sie ist letztlich der Enttäuschung geschuldet, welche der real existierende Sozialismus über die linke Intelligenz gebracht hat.
Eine ähnliche Zurückhaltung findet sich im Grunde bereits in der Kritischen Theorie: Schon die «Dialektik der Aufklärung» der Frankfurter Meisterdenker Theodor W. Adorno und Max Horkheimer spricht der Rationalität an sich eine Gewaltsamkeit zu. Daher findet sich auf deren Boden kein Ausweg aus dem Zwangszusammenhang. Machtverhältnisse lassen sich zwar beklagen, aber nicht mehr umstürzen, weil jedes Gegenprogramm auch wieder der instrumentellen Vernunft unterliegt. Daraus resultiert als Befindlichkeit eine umfassende Melancholie. Denn die Gesellschaft findet sich in einem Verhängnis gefangen, das schon in der Form der herrschenden Vernunft angelegt ist und entsprechend alle zu einem «falschen Leben» zwingt.
Ob bei Foucault oder bei den Frankfurtern, die Utopie entwirft einen Zustand frei von Verfügung, ein Leben jenseits von Herrschaft und ein Denken ohne beengende Strukturen. Die Radikalität allerdings, mit der sich der machtkritische Diskurs auf diese Utopie ausrichtet, führt zu einem ästhetisierenden Eskapismus und damit zum Verzicht auf die Perspektive einer Zukunft, die sich politisch gestalten lässt.
Der Clash der Diskurse
Die singularisierten Gesellschaften des Westens zeigen sich aber nicht nur gespalten zwischen der futuristischen und der machtkritischen Orientierung. Den Clash der Diskurse komplettiert die Reaktion derer, die sich insgesamt als Verlierer erleben. Sie sehen in Konkurrenz und Individualisierung das eigentliche Problem und träumen sich zurück in die Zeit der guten alten Ausschliessungen, deren Schutz sie nun vermissen.
Solchen Ressentiments hofieren fleissig jene Kreise. die allein am Erhalt des Status quo interessiert sind. Sie fangen die Verschreckten ein mit einer Ideologie, die – im Ganzen rückwärtsgewandt – kulturkonservative mit wirtschaftsliberalen Positionen verhäkelt. So spalten sich die Gesellschaften in ein modernistisches und ein reaktionäres Lager. Dieser Antagonismus sorgt wirksam dafür, dass sich nichts ändert, weil sich kaum noch stabile Mehrheiten bilden können.
Aber selbst je für sich allein genommen, taugten die gängigen Ideologien nicht für den Umgang mit Herausforderungen wie der planetaren Ungleichheit oder dem Klimawandel, denn ihr gemeinsamer Nenner besteht in der Tendenz zum Realitätsverlust. Über den langen politischen und wirtschaftlichen Schönwetterlagen im nordatlantischen Raum hat sich eine fatale Blindheit gegenüber epochalen Notwendigkeiten breitgemacht.
Es hat sich eine fatale Blindheit gegenüber epochalen Notwendigkeiten breitgemacht.
Der Futurismus auf der einen Seite geht an gegen materielle Grenzen an sich, seine extremsten Vertreter spintisieren von einer menschlichen Existenz, welche den Planeten Erde hinter sich gelassen hat, wenn nicht das körperliche Leben überhaupt. Der machtkritische Diskurs auf der anderen Seite kultiviert eine Totalaversion gegen das Allgemeine; entsprechend hat er sich der Bewirtschaftung peripherer Befindlichkeiten verschrieben und von Realpolitik verabschiedet. Die reaktionäre Fraktion schliesslich, die beiden Positionen entgegensteht, verweigert schlicht die Einsicht, dass sich der Strom der Zeit niemals umkehren lässt.
Der Blick der Spätmodernen ist offensichtlich müde geworden vom Vorübergehen der Dinge, betäubt durch einen Wandel, der sich in einem Drehen im Kreis erschöpft. Kraft und Wille zur Veränderung sind blockiert durch schiere Ausweglosigkeit. Diese aber resultiert primär aus der Sicht durch ideologische Gitterstäbe. Sollte der Käfig sich nur kurz öffnen, dann könnte vielleicht wieder mal ein Bild hineingehen in die Köpfe: ein Stück Wirklichkeit. Ein solcher Augenblick würde das Herz des Panthers nicht ungerührt lassen, denn es zeigte das Gesicht einer Welt, die zum Fürchten ist und darum zum Handeln aufruft.
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein grosser Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Rainer Maria Rilke, 1903