Das bürgerliche Zeitalter war gekennzeichnet durch eine Vorherrschaft allgemeiner Normen und die Ausgrenzung alles Abweichenden. Dagegen probten die Gegenkulturen des 20. Jahrhunderts den Aufstand. Herausgekommen ist dabei aber nicht die ersehnte offene Gesellschaft, sondern das Hickhack zwischen rivalisierenden Narzissmen.
Muss es denn sein? – Diese Frage steht im Raum, nachdem der Baron von Instetten Beweise für die Untreue seiner Frau entdeckt hat (Fontane, Effi Briest). Der Baron ist zweifellos tief gekränkt, sein Lebensglück hin; doch Rachsucht verspürt er nicht. Im Tiefsten ist da sogar die Neigung, Effi zu verzeihen, zumal die Affäre Jahre zurückliegt und nie Wellen geschlagen hat.
Muss er jetzt also einen Skandal lostreten, der ihn zum Duell zwingt und verlangen wird, dass er seine Frau verstösst? – Er wird zum Schluss kommen, dass es unausweichlich ist. Nicht, weil er es wollte oder weil seine Gemütslage ihn dazu drängte. Doch es gibt da eine Verpflichtung, ein tyrannisierendes Gesellschafts-Etwas, das ihm gar keine Wahl lässt. Er würde sich selbst nicht mehr in die Augen sehen können, wenn er das Ehrgesetz seines Standes nicht einhielte. So tut er, was «man» als preussischer Junker eben zu tun hat: Er schiesst den unglücklichen Crampas über den Haufen und stösst Effi ins Elend.
Sturz der kollektiven Selbstbilder
Die bürgerlichen Schichten im 19. und frühen 20. Jahrhundert kultivierten ein kollektives Selbstbild, dem sich niemand ungestraft entziehen konnte. Wer diesem Bild nicht gerecht wurde, setzte nicht nur den Respekt der anderen aufs Spiel, sondern auch die Selbstachtung. Ein Ausscheren bedeutete nicht weniger als den sozialen Tod. Diese übermächtige Instanz hat Martin Heidegger später mit dem Titel des «Man» belegt. Als Mitglieder einer Gemeinschaft finden sich letztlich alle umfangen von einem Netz aus Meinungen und Konventionen, die ihrem eigenen Tun und Denken Grenzen setzen. Dafür steht das «Man», und das unbestimmte Personalpronomen trifft exakt die anonyme Qualität jener ungeschriebenen Gesetze, an die «man» sich hält, um ja nicht ins Abseits zu geraten.
Instetten glaubt, nicht anders zu können, denn der Druck eines namenlosen Allgemeinen lässt keinen Spielraum für individuelle Entscheidungen. Genau dagegen hat die Existenzphilosophie ab den dreissiger Jahren Einspruch erhoben. Als Kräfte des Widerstands bot sie selbstbewusste Einzelne auf, Menschen, die nicht einfach mittrotten wollten, sondern den Mut hatten, zu sich selbst zu stehen. In der Nachkriegszeit breitete sich die Kritik an den kollektiven Selbstbildern in den westlichen Gesellschaften weiter aus und verschärfte sich dabei zusehends.
Anstoss dafür waren nicht zuletzt die totalitären Gräuel in Nazideutschland und der Sowjetunion. Vor ihrem Hintergrund musste die jüngere Generation jede Art von Gleichschaltung als fatal empfinden. So kam es zu einer Freisetzung individueller Haltungen und Bedürfnisse, welche das Gefüge verbindlicher Konventionen ins Wanken brachte. In den kulturellen Umbrüchen ab den Sechzigern ist es schliesslich weitgehend in sich zusammengestürzt. Auf einmal war nicht mehr massgeblich, was «man» tun oder lassen sollte. Abweichung wurde möglich – ja sogar zum Gebot der Stunde.
Die kulturellen Umbrüche der Sechziger hätten eine Stunde der Freiheit werden können, wenn die Sache mit den Selbstbildern nicht so vertrackt wäre. Die individuellen Muster sind kaum weniger borniert als die alten umfassenden Identitäten.
Damit schien sich das Versprechen der offenen Gesellschaft zu erfüllen: Pluralität trat an die Stelle der alten Ausschlüsse, Andersheit war zugelassen, und die Perspektive eines fruchtbaren Austauschs tat sich auf. Eine Stunde der Freiheit also? – Hätte es werden können, wenn die Sache mit den Selbstbildern nicht so vertrackt wäre. Wir scheinen sie nämlich zu brauchen, und wenn die umfassenden Identifikationen wegbrechen, suchen viele Zuflucht bei individuellen Mustern, die kaum weniger borniert sind.
So begann sich schon bald ein Grauschleier über die neue Buntheit zu legen. Die Ausschliessungen kehrten zurück, jetzt einfach in der Breite verteilt, dabei aber in der Wirkung kaum weniger rigid und destruktiv. Nach dem Millennium nahm diese Regionalisierung der Konventionen weiter Fahrt auf. Den bisherigen Höhepunkt hat sie im Querdenkermilieu erreicht. Hier waren unterschiedlichste exklusive Selbstbilder leitend, die in ihrer Summe sogar über jeden Realitätsbezug triumphierten. Individuelles Rebellentum – egal, ob links- oder rechtsgewickelt – wurde zum Selbstzweck, frei nach dem Motto: Wir für uns und alle gegen den Staat, bzw. einen vorgeblichen Mainstream.
Scherbenwelt
Diese Tendenz zur Abschottung ist aber alles andere als ein Privileg des verqueren Denkens. Sie zeigte sich ansatzweise schon in den alternativen Milieus der Siebziger und Achtziger; mittlerweile findet sie sich verbreitet über alle möglichen Lager hinweg. Der Sturz der kollektiven Identitäten hat offenbar ein Vakuum hinterlassen. In der Folge sind nabelfixierte Credos zum neuen Haltepunkt geworden, und sie funktionieren kaum weniger exklusiv als die alten Normen. Sie grenzen genauso aus, was je nicht ins vorgegebene Bild passt.
Der gesellschaftliche Gleichschritt ist ausgesetzt, da ist «man selbst» es sich wert, irgendwie speziell zu sein: anders halt. Zum Beispiel, indem man den eigenen Körper vor angeblicher pharmazeutischer Kontamination bewahrt, den Kampf gegen Windräder aufnimmt oder für Ernährungsvorschriften eintritt, welche die religiösen an Strenge noch hinter sich lassen. Ausgeklammert bleibt dabei die Frage nach der Verhältnismässigkeit der jeweiligen Agenda, nach deren Stellenwert angesichts der Probleme, welche die Welt sonst noch beschäftigen. Hauptsache, frau oder man hält das Fähnchen der ganz eigenen Identität hoch. So werden im Ansatz sinnvolle Ziele zu Ich-Markern, die sich jeder Diskussion und jeder Prüfung durch den gesunden Menschenverstand entziehen.
Angenommen, die Instettens lebten heute, dann könnte ein Seitensprung natürlich immer noch eine Ehekrise auslösen. Aber da ist keine monolithische Moral mehr, welche rigide Konsequenzen fordert. Deshalb liesse sich über alles reden, eventuell ein Arrangement finden. Genau das aber wäre nicht mehr sicher, sofern sich das Paar über der Impffrage oder bezüglich einer gerade kursierenden Verschwörungstheorie zerstreiten sollte. Die Postmoderne hat das Konzept einer verbindlichen Wahrheit dekonstruiert. Nun darf jede und jeder sich eine eigene wählen und zum Kernbestand der Persönlichkeit erheben. Was einmal als Meinung galt, ist dann nicht mehr verhandelbar. Abgesehen davon, dass diese Art von Eigensinn das Tor ganz weit öffnet, das in die Wüste des Postfaktischen führt.
Blüte der Narzissmen
Der Zwangsverband, den das «Man» herstellte, bot Einbindung und damit Sicherheit. Darüber hinaus erlaubte er den Einzelnen, sich in der Grösse und dem Glanz des Ganzen zu sonnen. Den Preis bezahlten all jene, die dazu nicht willens oder fähig waren. Es waren die Gegenkulturen des 20. Jahrhunderts, welche diesen kollektiven Narzissmus kritisierten und das Ideal eines autonomen Individuums auf den Schild hoben. Dieses Individuum sollte auf die Rückendeckung durch den sozialen Verband verzichten können und damit auch auf die Diskriminierung aller Andersartigen. So versprach der Sturz des «Man» nicht weniger als ein gesellschaftliches Leben ohne Ausgrenzungen.
Aber die Wege des Narzissmus sind sonderbar, und der aufrechte Gang, wie er den Existenzialisten vorschwebte, bedeutet ein hartes Brot. Denn in der Tat birgt sie ein Risiko, jene Autonomie, die sich ihrer selbst so sicher ist, dass sie ohne festen Plan auskommt. Wann immer ich Unerwartetes annehme oder Fremdes toleriere, werde ich selbst nämlich in Frage gestellt. Da ist es doch leichter, eine Krücke zu haben, eben das «Man selbst», ein fixiertes, glattes Selbstbild, das man vor sich hertragen und hinter dem man sich verstecken kann.
Die zurück wollen zu einer Kultur der Ausschliessungen, geben sich nicht als Bewahrer; viel lieber inszenieren sie sich als Rebellen, als eine vom Mainstream diskriminierte Minderheit.
Und noch besser ist es, mit diesem Fähnchen in eine Ingroup zu passen, also Gleichgesinnte um sich zu wissen, die einen bestätigen und bestärken. Man ist dann fast wieder so gut verpackt wie unter dem Mantel der kollektiven Identität, auch wenn der aktuelle zu einem recht dünnen Jäckchen eingelaufen ist. Zudem hätschelt die demonstrative Abkehr vom Kollektiv ein Gefühl der Besonderheit: «Man selbst» ist anders, kein Mitläufer wie alle andern, kein Duckmäuschen eben, vielmehr jemand mit Rückgrat, ein Homme révolté (Camus), der sich der umfassenden Gleichmacherei widersetzt. Selbst jene, die erklärtermassen zurück wollen zu einer Kultur der Ausschliessungen, haben begriffen, wie das läuft. Sie geben sich nicht etwa als Bewahrer, das wäre uncool; viel lieber inszenieren sie sich als Rebellen, als eine vom Mainstream diskriminierte Minderheit.
Vom Totum zum Totem
Das phantasierte Ganze, die angebliche kollektive Identität, ist zum Feindbild geworden, zum Popanz, an dem sich die individualisierten Narzissmen unablässig abarbeiten. Ein weiteres Spielfeld bietet ihnen die Distanzierung gegenüber dem «Man selbst» der anderen, den Selbstbildern, die sich in je wieder anderer Weise von einer imaginierten Leitkultur absetzen. Das narzisstisch unterfütterte Anderssein toleriert nichts, was anders ist als es selbst.
Der grosse Spiegel mag zerschlagen sein, dafür glotzen viele in die Scherbe, die sie gerade in der Hand halten, und glauben darin die ganze Wahrheit zu erkennen. Damit allerdings ist wenig gewonnen, vielmehr wird letztlich die Freiheit verschenkt, die nach dem Sturz des «Man» möglich gewesen wäre. Wenn das Totum lediglich durch Totems ersetzt wird, findet kein Austausch mehr statt, es gibt auch keinen Boden mehr, auf dem sich stabile politische Mehrheiten bilden könnten.
Westlichen Gesellschaften versinken in einem kulturellen Tribalismus, der ein hysterisches Hickhack zwischen partiellen Identitäten generiert, zusätzlich befeuert durch digitale Medien, die auf Krawall gebürstet sind.
Der Tendenz nach versinken die westlichen Gesellschaften in einem kulturellen Tribalismus, der ein hysterisches Hickhack zwischen partiellen Identitäten generiert. Befeuert wird dieses zusätzlich durch die digitalen Medien, die um Aufmerksamkeit buhlen und daher auf Krawall gebürstet sind. Die Differenzen aber, die der Jahrmarkt identitärer Eitelkeiten kultiviert, haben nichts Produktives mehr; sie spalten die Gesellschaft in einer Weise, dass langfristige politische Perspektiven schon gar nicht erst aufkommen.
Die Kuh am Waldesrand
So war das aber nicht gemeint. Der Aufstand gegen die kollektiven Selbstbilder richtete sich nicht einfach nur gegen äusseren Anpassungsdruck, sondern vor allem gegen den narzisstischen Wunsch, über fixe Wahrheiten zu verfügen, um so das Leben im Griff zu haben. Die Existenzialisten, später auch die Beatniks sowie die Inspirierteren unter den Hippies träumten davon, persönlich über diesen Wunsch hinauszugelangen. Sie wollten sich kein Bildnis machen: nicht von sich, nicht von andern, nicht von der Welt. Sie wollten vielmehr offen sein für die ganze Breite des Wirklichen, für alles, was uns je begegnet.
Dieses Ethos hat die Kulturrevolution der Moderne angetrieben, und es steht in denkbar schärfstem Gegensatz zu dem, wozu es der postmoderne Umschlag verzwergt hat: zum heutigen «Man selbst», das sich in eine rebellische Pose wirft und hinter eingebildeten Gewissheiten verbunkert – so beschränkt, verbiestert und blöd wie Mani Matters Hobbymaler, dem am Schluss die Kuh aus dem Bild gelaufen ist.