Wer heute den Begriff Neoliberalismus hört, der denkt zuerst an die wirtschafts- und sozialpolitische Wende anfangs der Achtziger, die sich mit den Namen Thatcher und Reagan verbindet. Denkt auch an eine Globalisierung, welche die Staaten tendenziell zu Statisten degradiert und die Lenkung der "unsichtbaren Hand des Marktes" überlässt. Den wissenschaftlichen Bezugspunkt bilden dabei Milton Friedman (1912-2006) bzw. die Chicagoer Schule mit ihrem Konzept vom rational handelnden Wirtschaftssubjekt; dazu gehört auch die Vorstellung, dass eine freie Wirtschaft nur auf dem Boden demokratischer Verhältnisse gedeihen könne.
Mit seinem Buch "Globalisten" zeichnet nun der kanadische Historiker Quinn Slobodian eine vertiefte Geschichte der neoliberalen Bewegung, mit der er die verengte Gegenwartsperspektive beträchtlich weitet. Er führt zurück zu den Anfängen in den zwanziger Jahren, also zu den österreichischen Gründervätern Ludwig von Mises (1881-1973) bzw. Friedrich Hayek(1899-1992). Dabei zeigt er auf, dass sie keineswegs von einem schwachen Staat träumten und in der Demokratie eine latente Gefahr für die Wirtschaftsinteressen sahen.
Slobodian arbeitet auch heraus, wie sehr die älteren neoliberalen Theoriekonzepte Reaktionen auf geschichtliche Erfahrungen darstellen: etwa auf die Zwangswirtschaft im Ersten Weltkrieg, den Untergang des Habsburgerreiches und schliesslich den Prozess der Entkolonisierung.
Zerfall der Vielvölkerstaaten
Der Versailler Vertrag von 1919 besiegelte das Schicksal der Doppelmonarchie und liess eine Vielzahl junger Nationalstaaten entstehen. Damit aber wurde auch der Wirtschaftsraum in Mittel- und Osteuropa fragmentiert, Zollmauern entstanden, welche den freien Güterverkehr hemmten, generell wurde eine eingespielte überregionale Arbeitsteilung in Frage gestellt. Zudem konnten nun die nationalen Autoritäten in Versuchung geraten, im Hinblick auf die Wählergunst wirtschaftsfeindliche Gesetze zu erlassen.
Hayek wie von Mises haben diese Entwicklung persönlich als Katastrophe empfunden; in der Folge machten sie es sich zur Aufgabe, ein Nebeneinander von Wirtschaft und Nationalstaat zu denken, bei dem die Kapitalinteressen gegen die Begehrlichkeiten der Bevölkerung geschützt bleiben. Dabei war ihnen durchaus klar, dass es Regelungen brauchen würde, einen übernationalen Ordnungsrahmen allerdings, der die Ansprüche der nationalen Arbeiterschaften in Schranken halten sollte.
Die Staaten hatten diesen Rahmen bei ihrer Gesetzgebung zu respektieren, gleichzeitig aber auch stark genug zu sein, ihn im Innern durchzusetzen. Von Mises beispielsweise trat für Lohnsenkungen in Restösterreich ein und begrüsste die gewaltsame Niederschlagung des Arbeiteraufstandes in Wien von 1927, die gegen hundert Leben kostete.
Die Genfer Schule
Der Umstand, dass der Völkerbund weiterhin das Fähnchen des Freihandels hochhielt, zog in den Zwanzigern viele Neoliberale der ersten Stunde nach Genf. Hier sammelten sie sich vor allem im Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien, das der schweizerisch-amerikanische Doppelbürger William Rappard (1883-1958) 1927 als freies Institut der Universität Genf gegründet hatte und das von der Rockefeller-Stiftung unterstützt wurde.
Diese Einrichtung sollte schon bald eine Zufluchtsstätte für politisch verfolgte Ökonomen aus ganz Europa werden, und sie bot Raum für die weitere Entwicklung von Konzepten zu einer supranationalen Wirtschaftsordnung. Im Grunde bildet sie das institutionelle Zentrum für das, was Slobodian als "Genfer Schule" bezeichnet und deren Charakteristikum er in einer zentralen Einsicht sieht: Der freie Markt funktioniert nicht von allein; er bedarf der "Ummantelung" durch eine internationale Rechtsordnung, welche auf der wirtschaftlichen Ebene die Souveränität der Nationalstaaten beschränkt.
Weltwirtschaftskrise und Entkolonialisierung
Mit der Weltwirtschaftskrise, die 1929 ausbrach, erhielt der Freihandel aber einen weiteren Schlag: Zum einen begannen sich die Nationalstaaten gegeneinander abzuschotten, um ihre Binnenwirtschaft zu schützen; zum andern führte die Grosse Depression zu wirtschaftspolitischen Experimenten, die der liberalen Vision gründlich zuwiderliefen: Jenseits des Atlantiks leitete der New Deal von Franklin D. Roosevelt eine Politik der staatlichen Umverteilung ein, in Deutschland begann das nationalsozialistische Regime die Wirtschaft durch staatliche Rüstungsaufträge anzukurbeln.
Und in der Nachkriegszeit kam auf den Freihandel eine weitere Herausforderung zu. Durch die Entkolonisierung wurden einmal mehr grossräumige Imperien zerstückelt, was wiederum Hemmungen im Güter- wie im Kapitalverkehr heraufbeschwor. Kam hinzu, dass die ehemaligen Kolonien in der UNO bald einmal die Mehrheit hatten und dieses Forum nutzen konnten, um eine Änderung der bisherigen Wirtschaftsordnung zu bewirken.
Wie nach dem Ersten Weltkrieg in Ostmitteleuropa stand zudem die Drohung im Raum, dass neue Nationalstaaten ihre Interessen höher gewichten könnten als die Vorteile eines freien Austauschs, ja dass ihre Regierungen aus populistischen Motiven schliesslich von der internationalen Eigentumsordnung abrücken. Beispielhaft dafür die Verstaatlichung der Ölindustrie im Iran 1953 sowie des Suezkanals durch Nasser 1956, die beide massive westliche Interventionen auslösten.
Rückzugsgefecht der Kapitalinteressen
Die Vision der neoliberalen Gründerväter zielte auf eine optimierte weltweite Arbeitsteilung, insofern waren sie von Anfang an Globalisten. Der Markt soll gegen verzerrende staatliche Eingriffe geschützt sein. Nur unter dieser Bedingung kann das freie Spiel der Preise Konsum wie Investitionen lenken, letztlich zum Vorteil aller, weil dann die Güter dort hergestellt werden, wo es am günstigsten kommt. Die liberale Lehre folgt dem Ideal einer Funktionalität des Marktes und verspricht sich von dessen Erfüllung eine Win-Win-Situation.
Doch sie stand zunächst einmal lange im Gegenwind, denn die Weltwirtschaftskrise hatte in der Ökonomie wie in der Politik zu einem Paradigmenwechsel geführt. Keynes bzw. die Vorstellung vom Wohlfahrtsstaat beherrschten in der Nachkriegszeit das Feld und lieferten bis in die frühen siebziger Jahre die Leitlinien für die Wirtschafts- bzw. die Sozialpolitik.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Mont Pèlerin Gesellschaft zu sehen, die Hayek 1947 ins Leben rief, und zwar als Forum, das einer akademischen Minorität Austausch und die Bildung von Netzwerken ermöglichen sollte. Die neoliberale Bewegung befand sich eindeutig in der Defensive, und Slobodian zeigt auf, dass das nicht nur für das wissenschaftliche Feld der Kriegs- und Nachkriegszeit gilt, sondern generell für ihr Verhältnis zu wesentlichen politischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert.
Die Ausbreitung der Demokratie wie die Neubildung souveräner Einzelstaaten waren geeignet, die Kapitalinteressen zu bedrohen. Deshalb wurde es zum zentralen Anliegen der Neoliberalen, einen supranationalen Rechtsrahmen zu entwerfen, der das Eigentum gegen Partialinteressen – z. B. der Landwirtschaft oder der Arbeiter – schützen konnte. Was als reine, objektive Wissenschaft daherkommt, ist also durchaus eine standpunktgebundene Sicht – und damit Ideologie.
Bestechende Sachhaltigkeit
Es gehört zu den Stärken von Slobodians Buch, dies unmissverständlich klar zu machen, allein durch sachliche Darstellung und ohne je den polemischen Hammer auszupacken. Slobodian wird überdies auch der Vielgestaltigkeit des Neoliberalismus gerecht, der sich keineswegs monolithisch darstellt. Es kam durchaus zu Spannungen und Spaltungen innerhalb der Bewegung, was zeitweise sogar zur Infragestellung des Sammelbegriffs führte.
Da gibt es etwa die deutsche Fraktion der Ordoliberalen um Walter Eucken (1891-1950), welche den Leistungs- mit dem Sozialgedanken zu vermitteln suchte und so das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft hervorbrachte. Ihr stand der spätere Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (1897-1977) nahe, der als Vater des Wirtschaftswunders gilt. Es gab aber auch eine ausgeprägt wertkonservative Strömung, die in der Entkolonisierungsdebatte teils rassistische Töne anschlug. Ihr Hauptvertreter Wilhelm Röpke (1899-1966) trat offen für das Apartheid-Regime in Südafrika ein und knüpfte schliesslich Beziehungen zur Neuen Rechten in den USA an.
Indem Slobodian zurückblendet auf die Geschichte des Neoliberalismus, bricht er das libertäre bzw. antietatistische Klischee auf, das gegenwärtig den Blick bestimmt. Es ging nicht gegen den Staat, vielmehr um einen anderen Staat, einen, der sich an einer supranationalen Wirtschafts- und Eigentumsordnung orientiert, um so die Freiheit des Marktes zu gewährleisten. Was die Lektüre so lohnend macht, ist aber nicht nur die sachliche Tiefe; es sind auch die vielen biografisch-anektotischen Details, die ein lebendiges Bild von einer Bewegung entwerfen, auf deren Konzepten heute unsere ökonomischen wie die sozialen Verhältnisse basieren.
Slobodoan Quinn: Globalisten - Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus, Suhrkamp 2019