Meinungsumfragen in Grossbritannien gehören zu den miserabelsten. Entweder sind die Institute schlecht oder die Briten spielen mit den Befragern und lügen sie an. Vielleicht ist beides der Fall.
Jüngstes Beispiel waren die Umfragen zu den Parlamentswahlen vor einem Jahr. Sie endeten für die Meinungsforscher mit einem eigentlichen Desaster. Die Umfragen lagen nicht knapp daneben, nicht ein bisschen daneben – sondern total daneben, und zwar alle.
Deshalb auch sind die Umfragen zu einem Austritt Grossbritanniens aus der EU mit grösster Vorsicht aufzunehmen.
"Poll of Polls"
Täglich erscheinen neue Meinungsumfragen, die sich zum Teil klar widersprechen. Eines der meist beachteten Instrumente ist der „Brexit poll tracker“ der renommierten Finanzzeitung „Financial Times“. Dabei wird ein Durchschnittswert der jüngsten Meinungsumfragen ermittelt. Die „Financial Times“ nennt das: „Poll of Polls“ – Umfrage der Umfragen.
Noch am Donnerstag ermittelte der „Poll tracker“ fast ein Patt: 41 Prozent für den Verbleib in der EU und 40 Prozent für den Austritt. Seit Tagen lag alles auf Messers Schneide. Am Freitag wendete sich das Blatt.
47 Prozent für den Verbleib, 41 Prozent dagegen
Jetzt sieht der „Poll tracker“ 47 Prozent für den Verbleib und 41 Prozent für den Austritt. Sechs Meinungsumfragen, die seit dem 15. Mai durchgeführt wurden, ermittelten – mit einer Ausnahme – einen Ja-Anteil (Verbleib in der EU). Dabei handelt es sich um die Institute ComRest, YouGov, Ipsos MORI, ORB, ICM.
Es sind Umfragen, die am 15., 16., 17. und 19. Mai durchgeführt worden waren. Bei der einzigen Umfrage, die einen Nein-Wert ergab, handelt es sich ebenfalls um eine ICM-Umfrage, die am 15. Mai stattfand. Sie ist insofern nicht zu unterschätzen, weil sie das höchste Sample (2'048 Befragte) aufwies. Die andern Umfragen haben ein Sample von 800 bis 1'648.
Entscheidet Schottland?
Die Umfragen zeigen, dass ein Monat vor dem Urnengang am 23. Juni noch immer 4 bis 14 Prozent der Briten nicht wissen, wie sie Stimmen sollen.
Was den Ausschlag für den möglichen Gesinnungswechsel gab, weiss die „Financial Times“ auch nicht. Sie zitiert nur Jean-Claude Juncker, den Präsidenten der EU-Kommission. Er sagte, „Deserteure werden später nicht mehr mit offenen Armen willkommen geheissen“.
Ein immer wichtigeres Argument ist offenbar das EU-freundliche Schottland. Sagt Grossbritannien Nein zur EU, könnte Schottland erneut eine Abstimmung für seine Unabhängigkeit durchsetzen. Und das wollen viele Engländer dann eben doch nicht.
Keine Prognose
Obwohl der „Financial Times“-„Poll-Tracker“ jetzt einen Umschwung anzeigt, wagt noch niemand eine Prognose. Vor allem auch deshalb nicht, weil der eigentliche Abstimmungskampf der Austrittswilligen jetzt erst richtig begonnen hat. Alles kann sich schnell wieder ändern.