Wer nach dem gescheiterten Attentat einen geläuterten Donald Trump erwartet hatte, sah sich getäuscht. Der Parteitag der Republikaner in Milwaukee war ein reines MAGA-Event. Das könnte den Demokraten nützen und nach dem Rücktritt Joe Bidens aus dem Wahlkampf erst recht.
«Trump bleibt Trump», bilanzierte ein Kommentator des «Atlantic» seine Eindrücke des republikanischen Parteitags in Milwaukee. Für eine angeschlagene, demoralisierte demokratische Partei, folgert er, sei das unter Umständen die einzige gute Nachricht der Woche. Zumindest war sie es bis am Sonntagmittag, als Präsident Joseph R. Biden, der sich nach einer Covid-Ansteckung in seinem Strandhaus in Rehoboth Beach (Delaware) isoliert hatte, in einem über den Kurznachrichtendienst X (früher Twitter) verbreiteten Brief bekanntgab, dass er sich aus dem Präsidentschaftswahlkampf zurückziehe und später in der Woche ausführlicher zur Nation reden werde.
Der Entscheid, liessen sich Leute aus seinem engsten Umfeld vernehmen, sei in den 48 Stunden zuvor gefallen, nach reiflicher Überlegung und der Abwägung verschiedener Optionen. Auf jeden Fall aber, hiess es ausdrücklich, habe der 81-Jährige ganz allein entschieden: «Ich glaube heute, was ich immer geglaubt habe: Es gibt nichts, was Amerika nicht erreichen kann – wenn wir es zusammen machen. Wir müssen uns nur daran erinnern, dass wir die Vereinigten Staaten von Amerika sind.»
«Es ist die grösste Ehre meines Lebens gewesen, als euer Präsident zu dienen», schrieb Biden an die Adresse seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger: «Und während es meine Absicht war, die Wiederwahl anzustreben, glaube ich, dass es im besten Interesse meiner Partei und des Landes ist, wenn ich zurücktrete und mich für den Rest meiner Amtszeit ausschliesslich auf meine Pflichten konzentriere.» Worauf umgehend erste republikanische Stimmen laut wurden, die forderten, Biden müsse jetzt umgehend zurücktreten. Andere sprachen von einem «Coup».
In einer zweiten Mitteilung versicherte er Vizepräsidentin Kamala Harris seines Supports als Präsidentschaftskandidatin: «Heute will ich Kamala meine volle Unterstützung und Empfehlung offerieren, um dieses Jahr von unserer Partei nominiert zu werden. Demokraten – es ist Zeit, zusammenzukommen und Trump zu schlagen. Packen wir’s an.»
Ebenfalls auf X antwortete Harris, es ehre sie, von Joe Biden empfohlen zu werden, und sie beabsichtige, die Nomination zu gewinnen: «Letztes Jahr bin ich durch das ganze Land gereist und habe mit Amerikanerinnen und Amerikanern über die klare Entscheidung dieser bedeutenden Wahl gesprochen. Und genau das werde ich auch in den kommenden Tagen und Wochen tun. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um die Demokratische Partei zu vereinen – und unser Land zu vereinen –, um Donald Trump und seine extreme Agenda des Projekts 2025 zu besiegen.»
Noch aber ist offen, ob Harris am viertägigen Parteitag der Demokraten nominiert werden wird, der am 19. August in Chicago beginnt. Bis dann dürfte den Demokraten eine unruhige Zeit mit allerlei parteiinternen Flügelkämpfen bevorstehen. Kamala Harris wie von Joe Biden empfohlen zu nominieren, wäre für eine zerstrittene Partei zwar die einfachste Option. Sie ist eine bekannte Grösse und erfahrene Wahlkämpferin auf nationaler Ebene. Auch könnte sie Bidens Wahlkampfapparat und dessen Spendengelder in der Höhe von 240 Millionen Dollar übernehmen. Deren Fluss war nach dem desaströsen Auftritt des Präsidenten in der Fernsehdebatte gegen Donald Trump am 27. Juni am Versiegen, fliesst nun jedoch erneut. Innert eines Tages sollen rund 50 Millionen Dollar eingegangen sein
Doch es gibt auch Stimmen unter den Demokraten und in den Medien, die einen demokratischeren Selektionsprozess fordern und die Ernennung einer Kandidatin ohne eine aktivere Beteiligung der Parteibasis als «Krönung» für riskant halten. Das würde bedingen, dass andere Kandidatinnen und Kandidaten ihren Anspruch auf die Nomination anmelden und sich einem internen Wettbewerb stellen. Die 3’937 demokratischen Delegierten des Parteitags sind im Prinzip frei, zu nominieren, wen sie wollen. Derweil wird bereits eifrig spekuliert, wen Kamala Harris, falls sie als Präsidentschaftskandidatin bestätigt wird, als ihre Nummer zwei auswählen könnte. Am ehesten, ist zu hören, dürfte es eine demokratische Gouverneurin oder ein Gouverneur sein.
Währenddessen beantwortet der Rücktritt Joe Bidens jene unbequemen Fragen, die Mehdi Hasan, Chefredaktor des progressiven Mediums «Zeteo», den Demokraten stellte, nachdem sich etliche ihrer Spitzenkräfte aus dem Wahlkampfteam und dem Weissen Haus vorbehaltlos hinter den Präsidenten gestellt und dessen Rücktritt entschieden ausgeschlossen hatten: «Ist die demokratische Partei, die selbsternannte Partei liberaler Werte und wissenschaftlicher Daten, dabei, sich vor unseren Augen in einen MAGA-ähnlichen Kult zu verwandeln?»
Aufrufen, Präsident Joe Biden solle zur Seite treten, sei von Angehörigen der Partei nicht mit durchdachten Kritiken oder vernünftigen Gegenargumenten begegnet worden, sondern mit wütenden Anklagen der Untreue, der Illoyalität und des Verrats: «War es nicht einmal wichtig, abweichende Meinungen zu äussern? Mutig der Macht zu widersprechen? Sind Liberale nicht jene Menschen gewesen, die eine offene Debatte und Diskussion schätzen?»
Zwar, so Mehdi Hasan, gebe es innerhalb der demokratischen Partei eine echte und nachvollziehbare Furcht vor einer zweiten Amtszeit Donald Trumps und auch legitimen Frust, was die «ausgeglichene» Medienberichterstattung über den Wahlkampf betrifft. Gleichzeitig aber existiere eine unübersehbare Tendenz zu Gruppendenken und übertriebener Parteilichkeit, verstärkt durch die Echokammern der sozialen Medien: «Blue MAGA ist wohl nicht so gewaltsam oder autoritär wie Red MAG, aber die Auswirkungen, dass eine zweite grosse politische Partei der Vereinigten Staaten Opfer eines Online-Personenkults wird, könnten für unsere Demokratie verheerend sein.»
Wie gaga Red MAGA sein kann, hat sich vergangene Woche am Parteitag der Republikaner in Milwaukee gezeigt. Ganze 20 Minuten hielt Donald Trump sein Versprechen, die gespaltene Nation fünf Tage nach den Schüssen auf ihn zu einen: «Die Uneinigkeit und die Spaltung in unserer Gesellschaft müssen geheilt werden – wir müssen rasch heilen», las er am Donnerstagabend im Fiserv Center in Milwaukee vom Teleprompter ab: «Als Amerikaner verbindet uns ein einziges Schicksal und eine geteilte Bestimmung. Wir gehen zusammen vorwärts – oder wir fallen auseinander.»
Der Ex-Präsident, sagte ein Konservativer, habe eine Verletzlichkeit gezeigt, welche die meisten Leute bei ihm noch nie gesehen hätten: «Ich kandidiere, um Präsident aller Amerikanerinnen und Amerikaner zu werden, nicht nur der Hälfte unter ihnen, denn es wäre kein Sieg, lediglich für das halbe Amerika zu gewinnen.» Solche Äusserungen, meinte ein Kommentator, seien sehr «un-Trumpy» gewesen, leiser, netter und versöhnlicher als üblich: «Es war, als hätte ihn das Attentat demütiger werden lassen.»
Doch Donald Trumps wunderbare Verwandlung vom Rabauken zum Menschenfreund hielt nicht lange an. Während des Rests seiner 92-minütigen Rede zeigte sich der 78-jährige Ex-Präsident wie gehabt: aggressiv, laut und unversöhnlich. Auch ausschweifend, improvisierend und unzusammenhängend. Die verzückte Anhängerschaft im Fiserv Center störte das nicht; sie applaudierte begeistert und liess ihn hochleben, als wäre Trump nicht ein Politiker (und verurteilter Verbrecher), sondern der Anführer eines Kults. Wäre das in Milwaukee Genosse Kim Jong-uns Parteitag gewesen, witzelte ein Beobachter, der Führer Nordkoreas hätte seine Getreuen gebeten, die Temperatur zurückzudrehen.
Ein Fakt-Checker der «Washington Post» listete in Donald Trumps Rede 34 leicht widerlegbare Unwahrheiten auf. «Sie alle versuchten, uns davon zu überzeugen, dass er (Trump) ein Teddybär und kein Grizzly ist», liess sich Charles M. Blow, ein Kolumnist der «New York Times», nach dem Parteitag zitieren: «Sie versuchten, uns dazu zu bringen, mit einem Menschen mitzufühlen, dem dieser Impuls fehlt und der betrügerisch, grausam und aus Rache handelt. Aber Trump konnte nicht widerstehen, in seine vertraute Finsternis zurückzukehren, und machte damit alle Bemühungen zunichte, sein wahres Ich zu rehabilitieren – und zu verbergen.»
Da half wenig, dass Rednerinnen und Redner nicht nur Trumps Entschlossenheit und Mut beim Attentat am 13. Juli priesen. Sie mutmassten auch, dass es unter Umständen der Wille Gottes sei, dass er Präsident werde. «Donald Trump fing in Butler, Pennsylvania, nicht einfach eine Kugel ein», sagte seine Anwältin Alina Habba: «Er hat für jeden von uns eine Kugel eingefangen und wird das weiterhin tun.» Trump selbst sagte in seiner Rede, er sollte eigentlich gar nicht mehr hier sein: «Ich stehe nur dank Gott dem Allmächtigen vor euch in dieser Arena.»
Sein Vater, sagte Eric Trump, habe eine Kugel überlebt, die ihn für immer von der Zukunft und der Familie hätte eliminieren sollen: «Und du hast deine Faust in die Luft gereckt, in einem Augenblick, der als einer der mutigsten Momente in die Geschichte Amerikas eingehen wird.» Senator Tim Scott (South Carolina), als möglicher Trump-Vize gehandelt, erzählte, der Teufel sei am Tag des Attentats mit einem Gewehr nach Pennsylvania gekommen: «Aber ein amerikanischer Löwe stand auf und brüllte.» Auf jeden Fall hat sich das weichgezeichnete Bild der republikanischen Partei, das nach dem missglückten Attentat auf Donald Trump gezeichnet worden ist, definitiv als Fata Morgana erwiesen.
So liess Donald Trumps Reaktion auf den Rücktritt Joe Bidens nicht lange auf sich warten. Trump bezeichnete Biden auf seiner Plattform «Truth Social» als den bei weitem schlechtesten Präsidenten, den die USA je gehabt hätten: «Crooked Joe Biden war ungeeignet, um als Präsident zu kandidieren, und ist mit Sicherheit nicht fit, um zu dienen, und er war es nie.» Gleichzeitig rief der Ex-Präsident zu Wahlspenden auf: «Das WASHINGTONER ESTABLISHMENT, die ‘Hate America’-Medien und der korrupte TIEFE STAAT haben alles getan, was sie tun konnten, um Biden zu schützen, aber er ist soeben VÖLLIG SCHÄNDLICH aus dem Rennen ausgestiegen.» Die Leitartikler der «New York Times» sahen das noch am Sonntag anders: «Mr. Biden hat jetzt getan, was Mr. Trump nie tun wird. Er hat das nationale Interesse über seinen Stolz und Ehrgeiz gestellt.»