Der Schweiz droht Strommangel, und sie hat kein Stromabkommen mit der EU. Wissenschaft und Forschung sind von wichtigen EU-Programmen abgeschnitten. Doch die Schweizer Politik lässt sondieren und sondieren und sondieren.
Das Beunruhigendste ist die Ruhe – die Ruhe in den schweizerischen Medien und in der Politik. Als Staatssekretärin Livia Leu am Mittwoch von der fünften «Sondierungsrunde» mit der EU aus Brüssel zurückkam und der Öffentlichkeit nicht mehr mitteilen konnte, als dass sie «Lösungspisten» erkenne, verschlug es den Fachjournalisten im Bereich Europäische Union die Sprache so sehr, dass ihnen, kreuz und quer durch den Blätter- und Elektronik-Wald weder ein milder noch ein spitzer Kommentar einfiel.
Was sind das für «Pisten», auf welche Bereiche beziehen sie sich? Auf den von den schweizerischen Gewerkschaften geforderten Lohnschutz? Auf das Thema «fremde Richter» oder «Schiedsgericht» oder worauf sonst? Nachvollziehbar ist, dass die Staatssekretärin keine Details bekannt geben darf, während «Sondierungen» laufen, aber nicht nachvollziehbar ist, dass der Bundesrat eineinhalb Jahre nach dem brüsken Zerreissen des Rahmenabkommens noch immer nicht den Hauch einer «Vision» verkünden kann, wie es in den Beziehungen mit der EU weiter gehen soll.
Ungehört verhallende Hilferufe
Unsere «Landesmütter» und «Landesväter» vermitteln den Eindruck, man habe genügend Zeit, das Europa-Dossier in aller Ruhe, nach Abwägung aller Vor- und Nachteile und nach einer wohl noch folgenden Konsultation aller Parteien und Interessenverbände in Angriff zu nehmen. Der Schweiz droht zwar eine Strom-Mangellage – aber soll das Grund genug sein, «vorschnelle» Konzessionen in irgendeinem Bereich gegenüber der EU zu machen, um so bald wie möglich ein Strom-Abkommen zu erreichen? Scheint nicht so.
In Kreisen der Wissenschaft werden Sorgen laut, die Forschung werde in absehbarer Zeit international ins Hintertreffen geraten, weil die Schweiz beim EU-Horizon-Programm marginalisiert wurde –, aber soll das Anlass sein, Brüssel gegenüber beispielsweise beim Dossier «Unionsbürgerrichtlinie» einzuknicken?
«Blick» kommentierte treffend: «In der Politik verhallen die Hilferufe von Universitäten und Unternehmen ungehört – zumindest ziehen weder die FDP noch die Mitte oder die SP den Schluss, dass die Schweiz Kröten schlucken muss, wenn sie eine Erosion der Bilateralen verhindern und den Zugang zu Forschungsprogrammen wie Horizon oder Digital Europe wiedererlangen will. Stattdessen klagt man lieber über die böse EU.»
Abstimmung in frühestens zwei Jahren
Auch wenn Staatssekretärin Leu in der fünften Sondierungsrunde «Lösungspisten» erkennt: Bis auf diesen Pisten Rennen irgendwelcher Art, das heisst konkrete Verhandlungen beginnen können, wird es lange dauern. Zu lange. Absehbar ist: Vor der Wahl eines Nachfolgers für Bundesrat Maurer bleibt alles in der Schwebe, weil ja niemand vorhersehen kann, wer nach dem Wahltag im Dezember welches Ressort übernehmen wird. Dann nähern wir uns dem Beginn des Jahrs 2023, und da will sich, vor den Eidgenössischen Wahlen vom Herbst, keine Partei auf Europa-Themen festlegen.
Also landet man nur schon für das Fassen von Parolen bereits im Zeitraum Winter 2023/24. Und möglicherweise nochmals in einem Winter mit Stromknappheit und exorbitanten Energiepreisen. Und dann, für den Bestfall geschätzt, könnte eine Abstimmung über irgendwelche Bereiche zum Verhältnis Schweiz–EU allenfalls im Frühsommer oder Herbst 2024 stattfinden. Also von jetzt an in rund zwei Jahren.
Kein Mut, keine Prioritäten
Letzten Endes besteht das grösste Problem darin, dass keine wichtige politische Kraft den Mut hat, sich mit EU-Themen unbeliebt zu machen. Relativ am klarsten sind die Grünliberalen, die den Bundesrat auffordern, «die Beziehungen der Schweiz zur EU zu deblockieren». Viel konkreter jedoch werden sie nicht, und so lange keine Partei konkret wird beispielsweise bei den Themen Unionsbürgerrichtlinie, Schiedsgericht und dynamische Übernahme von EU-Entscheiden in jenen Bereichen, die uns im Rahmen der Bilateralen (oder eines Rahmenabkommens) direkt angehen, so lange kann keine echte öffentliche Debatte beginnen. Wirklich Klartext hört man nur von der Operation Libero, deren Vizepräsidentin, Sanija Ameti, sich in der Arena-Sendung von TV SRF ebenso profilierte wie exponierte – deren Initiative aber höchst wahrscheinlich chancenlos ist.
Warum chancenlos? Weil bei wirklich komplexen Themen (dazu zählt das Verhältnis der Schweiz zur EU zweifellos) fast niemand mehr die Courage hat, Prioritäten zu setzen. Die «hohe Politik» will es immer allen recht machen und sämtlichen Partikular-Anliegen Rechnung tragen.
Keine unlösbaren Probleme
Gewiss ist der Lohnschutz wichtig, besonders in grenznahen Regionen, wo Unternehmen aus dem benachbarten Ausland in bestimmten Branchen Marktanteile gewonnen haben. Gemäss der Gewerkschaft Unia gab es zwischen 2016 und 2021 etwa 40’000 sogenannte Entsendungen aus Baden-Württemberg in die Schweiz, pro Jahr also etwa 7’000. Das schmälerte die Chancen für schweizerische KMUs und Kleinbetriebe in der betreffenden Region. Nur, ist das nun wirklich so gravierend, dass deshalb (oder: auch deshalb) das in siebenjähriger Arbeit ausgehandelte Rahmenabkommen zerrissen werden musste?
Oder beim Thema Streitbeilegung: Muss die nach Unabhängigkeit dürstende Schweiz wirklich fürchten, von sogenannten fremden Richtern geknechtet zu werden? Daniel Woker, erfahrener Diplomat und Autor auch für Journal 21, schrieb in «the market NZZ»: «Wenn die Schweiz bereit ist, dem offensichtlichen Grundsatz nachzuleben, dass in einem gemeinsamen Markt auch dieselben Regeln für alle Teilnehmer gelten müssen, liegen zwischen Bern und Brüssel fertig ausgehandelte Lösungen vor. Mit einer fein austarierten Schiedsgerichtsbarkeit; von ‘fremden Richtern’ keine Spur.»
Diffuse Stimmungen statt offene Debatte
In den Wochen und Monaten vor dem vom Bundesrat vollzogenen Zerreissen des Rahmenabkommens (Mai 2021) wäre eine breite öffentliche Debatte über solche und weitere Aspekte im Verhältnis Schweiz–EU vordringlich gewesen. Sie fand nicht statt. Eine medial geschürte und «von oben» diffus erkannte Anti-Rahmenabkommen-Stimmungslage bestimmte die Politik der Landesregierung. Das hat sich bis heute nicht geändert. Bundesrat Cassis sprach von Reset, tonangebende Politiker und Politikerinnen schwärmen von einer «sektoriellen» Herangehensweise an die EU. Alle im Glauben, die Schweiz könne bei den EU-Diplomaten, den Ministern und Ministerinnen in den 27 EU-Ländern und beim Brüsseler Beamtenapparat nochmals Goodwill beanspruchen – nach sieben Jahren (so sieht das aus der Perspektive des europäischen Auslands aus) verschwendeter, harter Büro-Knochenarbeit.
«Am Ende der Geduld», titelte die «Süddeutsche Zeitung» am 29. September. Der Beitrag endet mit diesem Abschnitt: «Offenbar verlieren nun auch viele in Berlin die Geduld mit der Schweiz. Diese reist zwar seit dem Abbruch der Verhandlungen in Gestalt ihrer Chefunterhändlerin Livia Leu regelmässig nach Brüssel für Sondierungsgespräche. Aber Substanzielles ist dabei bislang nicht herausgekommen. Stattdessen fiel Leu zuletzt mit Vorwürfen an die Kommission auf: Diese lege keine grosse Eile an den Tag und habe Termine mehrmals hinausgezögert. (…) Die Eiszeit zwischen Bern und Brüssel hält offenkundig an.»
Das tönt ziemlich bitter – und ist kein Einzelfall. Ähnlich kritische Kommentare lassen sich beispielsweise auch in der französischen Presse finden.
Doch für Bern – für unsere Regierung, das Parlament, die Parteien – ist das alles offenkundig kein Anlass, über die Bücher zu gehen.