Die Zeitenwende des Ukrainekriegs bringt auch die schweizerische Aussenpolitik in Bewegung. Allein bleiben ist kaum mehr eine Option. Eine Hinwendung muss aber primär Richtung EU erfolgen, welche allein eine umfassende, auch soziale Alternative zum Sonderweg Schweiz bietet.
Der FDP Präsident Thierry Burkart fordert eine engere Anlehnung an die NATO, da die Schweiz, wie der Ukrainekrieg zeigt, sich allein nicht gegen nackte Aggression verteidigen kann. Er schliesst zwar eine Nato-Mitgliedschaft für die neutrale Schweiz aus, aber engere Zusammenarbeit geschieht via gemeinsame Übungen, Rüstungsbeschaffung und Vernetzung von Kommandostrukturen.
Wenn die Forderung nach engerer Anlehnung wirklich ernst gemeint ist, wird sie über die bisherige, lose Zusammenarbeit im Rahmen der sogenannten «Partnership for Peace» – der sich die Schweiz unter der staatsmännischen Führung des damaligen Verteidigungsministers Dölf Ogi zu Beginn der 90er Jahre angeschlossen hat – hinausgehen müssen in Richtung assoziierte Nato-Mitgliedschaft. Das ist ein durchaus ernsthaft zu prüfender, immerhin aber entscheidender Schritt weg vom Dogma des neutralen und bewaffneten Igels, das offiziell weiterhin gilt.
Sicherheitspolitik in der EU
Weniger radikal ist eine resolute Annäherung an die EU, welche zwar sicherheitspolitisch nicht mit der NATO verglichen werden kann, aber auch in diesem Bereich vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges vor entscheidenden Schritten steht. Die im Gegensatz zu früheren Ankündigungen konkrete Schaffung einer «Raschen Eingreiftruppe», die aus verschiedenen europäischen Streitkräften zusammengesetzt ist, aber unter einem einheitlichen EU-Kommando stehen soll, ist bereits beschlossen.
Die anderen bisherigen Neutralen in Europa sind alle drei Mitglied der EU und werden sich voraussichtlich daran beteiligen. Finnland, allenfalls auch Schweden werden voraussichtlich nun auch der Nato beitreten, befinden sich geopolitisch aber in einer offensichtlich anderen Situation als unser Land mit ihren weit offenen Flanken zu Putins aggressivem Russland. Falls die Schweiz sich wirklich sicherheitspolitisch internationaler ausrichten will, wäre eine Mitbeteiligung im Rahmen dieser Eingreiftruppe ein erster Schritt, der in Brüssel wohl auch von einem EU-Nichtmitgliedsland begrüsst würde. Zumal von einem Land wie der Schweiz, das über durchaus ernst zu nehmende Streitkräfte verfügt und wo laut einer ersten Umfrage eine Mehrheit eine militärische Zusammenarbeit mit der EU wünscht.
Schnelle Aufnahme der Ukraine in die EU?
Die Frage nach der Relevanz oder Berechtigung einer sicherheitspolitischen EU neben der Nato ist durchaus angebracht. Dies insbesondere in einer Zeit, in der ohne partielle Unterstützung durch Nato-Länder die Ukraine möglicherweise durch die russische Aggression bereits überrollt und zumindest das Baltikum durch den Putinschen Wahn eines imperialen Russlands akut gefährdet wäre. Allerdings bleibt die Nato mit der schweren Hypothek einer allfälligen Wiederkehr von Trump ins Weisse Haus und seinem Desinteresse an diesem Bündnis belastet.
Die Aktualität zeigt, dass die EU-Mitgliedschaft auch sicherheitspolitische Relevanz hat. So etwa, wenn die Ukraine parallel zu ihrem heldenhaften Verteidigungskrieg und auch das ebenfalls akut gefährdete Moldawien um Eilaufnahme in die EU ersuchen. Ohne Lukaschenko dürfte dies auch die überwiegende Mehrheit in Belarus so anstreben, wie die dort mit Hilfe von Moskau brutal niedergeschlagene Bürgerrevolte gezeigt hat. Alle drei wären wohl bessere Mitglieder als der langjährige Kandidat Serbien unter dem russophilen Präsidenten Vučić oder auch als Ungarn unter dem autokratischen Putin-Freund Orbán. Im Gegensatz zu einer Nato-Mitgliedschaft dieser drei EU- Kandidaten (welche auch bei einem allfälligen Sturz von Putin kaum möglich erscheint) ist die Aufnahme in die EU keineswegs ausgeschlossen.
Auftritt von EU-Kommissar Schmit in Zürich
Natürlich nicht nur sicherheitspolitisch, sondern – und hauptsächlich – als breite Organisation für demokratische und soziale Marktwirtschaft bietet «Brüssel» für diese drei Länder eine attraktive Alternative zu politischer Autokratie und Planwirtschaft oder oligarchen-gesteuertem Neoliberalismus.
In einer eindrücklichen Präsentation in der Churchill-Aula der Universität Zürich hat der Luxemburger EU-Kommissar Nicolas Schmit am vergangenen Freitag dargelegt, dass und wie die EU – neben dem, und ergänzend zum gemeinsamen Binnenmarkt – auch schon weit fortgeschritten ist bei der Schaffung eines sozialen Raumes in Europa. Er räumte zu Beginn ein, dass es parallel zu globalen Strömungen um die Jahrtausendwende durchaus eine gewisse Tendenz in grossen EU-Mitgliedstaaten Richtung Neoliberalismus gegeben hätte. Spätestens nach der Wirtschaftskrise ab 2004 habe sich aber die Einsicht Bahn gebrochen, dass neben dem wirtschaftlichen Hauptpfeiler Binnenmarkt eine ebenso wichtige europäische Säule sozialer Rechte errichtet werden müsse.
Solidarität und Subsidiarität
Schmit legte detailliert dar, wie Brüssel nicht einen Sozialstaat Europa – Eckpunkte der Sozialpolitik wie beispielsweise die Ausgestaltung der Rentenpolitik bleiben bei den einzelnen Mitgliedstaaten –, aber ein soziales Europa errichtet als notwendige Ergänzung zum grenzüberschreitendem Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr. Dies einerseits in Form von Direktiven zur Aufrechterhaltung von EU-weiten Mindeststandards (Mindestlöhne, Tarifpolitik) und andererseits durch gezielte Beihilfen zur Behebung von Missständen (Kinderarmut, Obdachlosigkeit). Zu den letzteren Problemen, die ja auch in der Schweiz nicht unbekannt seien, machte er auf die innovative Politik Finnlands aufmerksam, wo tatsächlich kaum mehr Leute auf der Strasse leben.
Mit Blick auf die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU fügte er freundlich, aber unmissverständlich bei, dass in einem solchen kontinentweiten Sozialraum eben auch dieselben Regeln für alle Teilnehmenden zur Anwendung kommen, welche in letzter Instanz von einem gerichtlichen Gremium entschieden werden müssen.
Helvetisches Klein-Klein
Die an Schmits Ausführungen anschliessende Podiums- und Publikumsdiskussion begann recht gehaltvoll mit einem Plädoyer von Monika Rühl, Direktorin von Economiesuisse. Sie betonte die Bedeutung der Zeitenwende des Ukraine-Kriegs für eine Neuorientierung unserer Europapolitik. Daran schloss sich zunächst auch der zweite Panelist, der SP-Nationalrat Eric Nussbaumer, Präsident der EBS (Europäische Bewegung Schweiz) an. Der folgerte daraus allerdings, die EU müsse doch bei der Regelung der Schiedsgerichtsbarkeit auch an einer politischen Lösung mit der Schweiz interessiert sein – was Schmit wiederum höflich aber kategorisch ausschloss.
Erstaunlich angesichts des Europa-affinen Publikums sackte anschliessend das Diskussionsniveau ab, mit den bekannten helvetischen Nörgeleien an sozialen Standards der EU. Dabei tat sich ein hoher Gewerkschaftsfunktionär speziell hervor, der beleidigt verstummte, als seine langfädigen Ausführungen von ungeduldigen Zurufen aus dem Publikum unterbrochen wurden. Das dürfte wohl einigermassen typisch sein für die doppelbödige Europapolitik der schweizerischen Linken.
Einerseits wird EU-Nähe beschworen, andererseits werden europäische Schlüsselmomente für die Schweiz sabotiert – so im Zusammenhang mit dem einseitigen Abbruch der Rahmenverhandlungen und jetzt wieder bei der Unterstützung des selbstzerstörerischen Referendums gegen den Schweizerischen Frontex-Beitrag. Als wirklicher Europafreund ist man da versucht, gemäss dem bekannten Diktum auszurufen: «Mit solchen Europafreunden, wer braucht da noch die Europafeinde aus der SVP?»