Aufgewachsen war er in Sachsen. Er studierte Theaterwissenschaft in Leipzig und Berlin. Er arbeitete als Dramaturg, Intendant und Regisseur, auch am Schauspielhaus Zürich. Seit Jahren lebt Martin Kreutzberg an der Limmat. Jetzt, im Hinblick auf die deutschen Wahlen, ist er nach Berlin zurückgekehrt und erzählt von seinen Eindrücken.
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Noch nie konnten die Berlinerinnen und Berliner so viele Kreuze machen wie am kommenden Sonntag: Zu gleich vier Abstimmungen sind sie gebeten:
- zur Wahl des deutschen Bundestages: Wer tritt die Nachfolge von Angela Merkel an?
- zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses. Wird Franziska Giffey von der SPD die erste „Regierende Bürgermeisterin“ von Berlin?
- zur Wahl der Bezirksverordnetenversammlungen
- und, auch in Berlin gibt es so etwas wie direkte Demokratie, zu einem Volksentscheid über eine Vergesellschaftung der privaten Immobilienunternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen.
Ein volles Programm
Über Jahre gab er zu Hohn und Spott Anlass: Der Bau des neuen Berliner Flughafens. Jetzt ist er fertig. Noch nicht ganz zwar, aber einen Vorteil bietet er schon: Hatten die Reisenden am Flughafen Tegel, um in die Stadt kommen, dort die Wahl zwischen einem teuren Taxi oder einem Stehplatz im überfüllten Bus, so können sie heute relativ bequem die S-Bahn nutzen, um ins Zentrum von Berlin zu gelangen. Aber es dauert …
Zwischen den Stationen Baumschulenweg und Plänterwald hinter einer grossen, für Berlin so typischen Schrebergartenanlage, befindet sich das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Berühmt geworden ist der Flugplatz während der Blockade West-Berlins 1947 durch die Sowjetunion, als hier im Minutentakt die „Rosinenbomber“ der Amerikaner und Briten zur Versorgung der Stadt landeten.
Und von Tempelhof aus wurden bis zum Bau der Mauer die Flüchtlinge aus der DDR nach Hannover oder München ausgeflogen. Nach der Inbetriebnahme des Flughafens Berlin-Tegel wurde der Betrieb weitgehend eingestellt. Heute ist das Flugfeld, mitten in der Stadt gelegen, eine riesige Brache, fast doppelt so gross wie die Zürcher Altstadt.
Ein gigantischer Grillplatz
Auf diesem Areal sollten, so die Pläne der Senatsverwaltung vor sieben Jahren, in einer Randüberbauung Wohnungen entstehen. Dagegen gab es Widerstand, ein „Volksbegehren“. Verlangt wurde: „Das Land Berlin verzichtet auf eine Bebauung des ‚Tempelhofer Feldes‘“.
Im Mai 2014 stimmten die Berlinerinnen und Berliner diesem Volksbegehren mit Mehrheit zu. Also keine Wohnungen auf dem ‚Tempelhofer Feld‘. Stattdessen ein gigantischer Grillplatz mitten im Zentrum der deutschen Hauptstadt.
„Hier können Familien Kaffee kochen“
Das erinnert an den bekannten Berliner Slogan „Hier können Familien Kaffee kochen“. Der Ausdruck geht auf die Wirtschaft „Spreebudike“ im 18. Jahrhundert zurück. Der Wirt weigerte sich, eine Getränkekonzession zu zahlen. Der Ausschank wurde daraufhin verboten. Daraufhin kam man auf die Idee, nur Geschirr und warmes Wasser zu verkaufen. Die Gäste brachten dann das Kaffeepulver und die Speisen selbst mit. Die Idee verbreitete sich rasch in der ganzen Stadt und ihrer Umgebung. Der Maler Hans Baluschek setzte dem Brauch ein Denkmal.
Heute werden auf dem Tempelhofer Feld eher Würste gegrillt als Kaffee gekocht. Das Geschirr, falls man welches braucht, muss man allerdings selbst mitbringen. Hier gilt: Würste statt Wohnungen.
„Vergesellschaftung“ der Immobilienunternehmen?
Heute, sieben Jahre später, geht es wieder um Wohnungen. Am Sonntag wird über den Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ abgestimmt. Alle privaten Immobilienunternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen im Land Berlin sollen vergesellschaftet werden. Mit marktüblichen Entschädigungen.
Mehr noch als die Wahlen zum nächsten Bundestag spaltet diese Abstimmung die Menschen in Berlin.
Um 20 Prozent sind die Mieten in Berlin in den letzten fünf Jahren gestiegen. Zwischen 13 und 14 Euro pro Quadratmeter müssen heute gezahlt werden. Und dies nicht nur in den angesagten Quartieren am Prenzlauer Berg, Friedrichshain oder Wilmersdorf. In Zürich mag dieser Preis nur ein müdes Lächeln hervorrufen, in Berlin jedoch, bei Neurenten zwischen 800 und 1100 Euro im Durchschnitt, geht das schnell einmal ans Lebendige.
1000 Euro Rente
Eine Freundin, Theaterdramaturgin, hat ihr ganzes Berufsleben im Vollpensum gearbeitet, allein zwei Kinder grossgezogen. Allerdings in Ost-Berlin. Entsprechend schmal ist ihre Rente, sie beträgt exakt 1000 Euro. Nachdem ihre Wohnung an eine der grossen Wohnungsunternehmungen verkauft wurde, ist die Miete immer weiter gestiegen. Eine erneute Erhöhung wird sie nicht verkraften können.
Auch wie diese Abstimmung am Sonntag ausgeht, ist völlig offen. Franziska Giffey, die Kandidatin der SPD für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin, ist übrigens, wie die Mehrheit ihrer Partei und wie CDU und FDP, gegen die Annahme des Volksentscheides. Die Jungsozialisten, die Grünen und die Linke hingegen sind dafür.