Aus seiner Erfahrung als Therapeut und Gutachter nimmt Hans-Werner Reinfried Stellung zum Bericht Stephan Wehowskys über die Ausstellung des Landesmuseums zum Thema der Heimkinder. Sein Fazit: Auch heute ist ein kritischer Blick auf den Umgang mit auffälligen oder vernachlässigten Kindern und Jugendlichen geboten.
Als Psychotherapeut und rechtspsychologischer Gutachter habe ich den Beitrag von Stephan Wehowsky «In falschen Händen» zur Ausstellung «Fremdplatziert» im Landesmuseum Zürich über die Zwangsunterbringung von Kindern und Jugendlichen mit Interesse gelesen. Was heute kaum mehr nachvollziehbar erscheint, störte den damaligen Zeitgeist wenig. Viele hatten keine Kenntnis von den zwangseingewiesenen Heimkindern oder wollten davon nichts wissen, andere hielten die Vorgehensweisen für angebracht oder für nicht vermeidbar.
In meinem ersten Psychopathologie-Klinikpraktikum 1979 in Königsfelden konnte ich mehrere ehemalige Heimkinder kennenlernen, die lebenslänglich untergebracht waren. Sie waren als Jugendliche oder junge Erwachsene in die Psychiatrie überstellt worden, wenn sie in den Heimen oder an ihren zugewiesenen Arbeitsplätzen renitent geworden waren und ihre Arbeitsleistung nachgelassen hatte. In der psychiatrischen Klinik fanden sie eine «Heimat».
Jeder hatte sein Bett im Schlafsaal, jeder erhielt sein Essen, und die meisten gingen in der Landwirtschaft, der Küche oder der Hauswirtschaft gemäss ihren Möglichkeiten einer Beschäftigung nach. Das Klinikgelände stellte ihre ganze Welt dar, die sie nicht verlassen wollten, selbst wenn dies möglich gewesen wäre. Sie trauten sich ein selbstbestimmtes Leben nicht mehr zu, nachdem sie als Kinder oder Jugendliche drangsaliert und in ihrer Persönlichkeit gebrochen worden waren.
Verdikt der Herkunft
Diejenigen, die von ihren Erfahrungen berichten können, wie dies in der Ausstellung des Landesmuseums gezeigt wird, haben irgendwie überlebt, nicht unbeschadet, doch haben sie Möglichkeiten gefunden, sich auszudrücken. Sie berichten von ihrem Leidensweg. Eine Mehrheit dürfte wohl auf immer schweigen, viele von ihnen sind schon gestorben.
Der Hinweis von Stephan Wehowsky auf die Forschungen von Philip Zimbardo ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich und erfasst einige Aspekte der Problematik. Ebenso wichtig für das Verständnis scheinen die Einflüsse der kirchlichen – damals auch der allgemein herrschenden gesellschaftlichen – Moralvorstellungen zu sein. Viele der Heimerzieher und -erzieherinnen waren der festen Überzeugung, dass unehelich geborene Kinder «Kinder der Sünde» seien. Diese Sündhaftigkeit sollte ausgetrieben werden. Die Kinder litten unter dem Verdikt ihrer Herkunft und wurden seelischen und körperlichen Misshandlungen ausgesetzt. Wehrten sie sich dagegen, wurde dies als Bestätigung ihrer moralischen Verkommenheit interpretiert, was noch mehr Härte und weitere Strafen zur Folge hatte.
Armut der Herkunftsfamilien wurde mit persönlichem Versagen oder als Folge eines nicht gottgefälligen Lebens interpretiert. Die harten Zwangsmassnahmen zielten vor allem darauf ab, gehorsame, gottesfürchtige und fleissige Menschen zu formen. Dazu wurden Heime zur Arbeitserziehung geschaffen. Kinderarbeit bei Bauern galt als einfache und billige Lösung für das Sozialwesen, Arbeit von Jugendlichen und jungen Erwachsen als Leiharbeiter in Fabriken deckte die Kosten der Vormundschaftsbehörden. Zudem erwiesen sich diese Arbeitskräfte für landwirtschaftliche und industrielle Betriebe als lukrativ.
Seelenlose Frömmigkeit
Viele dieser Heime wurden von kirchlich gebundenen Personen geführt, die von ihrem Auftrag beseelt waren und diesen mit aller Härte durchsetzten. Die rigide Moral, die jede sexuelle Regung der Kinder und Jugendlichen unterbinden wollte, ging in manchen Fällen mit übelsten sexuellen Übergriffen einher. Wem das rigorose Sendungsbewusstsein fehlte, blieb nicht lange in einem Betreuungsberuf. Die Zuchthausatmosphäre in solchen Heimen überforderte das Personal. Ein starres Machtgefälle zwischen Erzieher und Zögling sowie die gewalttätige Durchsetzung erzieherischer Konzepte begünstigten sadistische Handlungen. Die Erzieher stellten die Methoden, die sie in ihrer Ausbildung gelernt hatten, nicht in Frage. Erreichten sie die angestrebten erzieherischen Ziele nicht, verstärkten sie ihre Massnahmen.
Die Kinder und Jugendlichen sollten in ihrem Willen und in ihrer Persönlichkeit gebrochen werden. Als Ersatz wurde eine seelenlose, verlogene Frömmigkeit angeboten, die keinen Halt geben konnte und den Weg in ein selbstbestimmtes Leben versperrte. So blieb nur ein lebenslanges Dasein am Rande der Gesellschaft. Glücklicherweise finden sich in den Berichten früherer Heimkinder jedoch auch Hinweise auf Betreuungspersonen, die sich nicht immer an die Doktrin hielten und in ruhigen Momenten Mitleid zeigten oder den Kindern wenigstens ein Lachen schenkten, Momente, die zum Überleben beitrugen.
Und heute?
Interessant wären in diesem Zusammenhang Nachforschungen, inwieweit die damaligen Auffassungen in neuen Gewändern weiterleben. Nur allzu oft begehen wir den Fehler, frühere Probleme anzuprangern und uns gleichzeitig im Glauben gut zu fühlen, es sei jetzt alles anders und besser. Die Berichte der Zeitzeugen sollten dazu anregen, die heutigen Verhältnisse kritisch zu hinterfragen.
Heute ist das Heimwesen weitgehend verweltlicht, die Verhältnisse sind kindgerecht und manche Heimkinder und -jugendliche fühlen sich wohl und gut aufgehoben. In mehreren Fällen, die ich verfolgen konnte, waren sie im Heim besser betreut und unterstützt als in den Herkunftsverhältnissen. Dies schliesst jedoch nicht aus, dass sich einerseits auch heute noch sadistische und/oder sexuelle Übergriffe ereignen oder andererseits aus Angst vor derartigen Skandalen die Kinder und Jugendlichen in emotionaler Isolation gehalten werden. Das läuft dann darauf hinaus, dass sie lediglich neutral «verwaltet» werden. Es fehlen beständige und vertrauensvolle Beziehungen zu Erwachsenen, an denen sie sich orientieren könnten.
Auch heute werden manchmal theoriegeleitete erzieherische oder therapeutische Konzepte propagiert, die eine grundlegende Umgestaltung der Persönlichkeit der anvertrauten Bewohner versprechen. Oft gefallen diese und leuchten auf den ersten Blick ein. Die Politik nimmt solche Konzepte als einfache Lösungen lästiger Probleme gerne entgegen. Das Scheitern der Erzieher oder der Therapeuten mit solchen Vorgehensweisen führt – genau wie früher – in manchen Fällen bloss zu immer mehr vom Gleichen.
Maximalforderungen und Enttäuschungen
Das unangepasste, auf Eigenständigkeit zielende Verhalten einiger Kinder und Jugendlicher wird in solchen Fällen nicht positiv aufgenommen, um ihnen zu sinnvolleren Eigeninitiativen zu verhelfen. Anstelle kleiner Entwicklungsschritte, die bei der Eingliederung in die Gesellschaft von Nutzen sein könnten, werden Maximalforderungen aufgestellt. Die unvermeidlichen Misserfolge führen dann bei Erziehern und Klienten gleichermassen zu Frustrationen. Das ist ein Grund für die oft kurzen Verweildauern im Beruf von Heimerziehern, ein Grund auch für Enttäuschungen bei den Klienten, weil sie die ihnen vorgegebenen Ziele nicht erreichen.
Abschliessend ist zu erwähnen, dass ich mit einigen Heimen, die christlich geführt werden, gute Erfahrungen machen konnte. Es gibt auch die Nonnen, die mit echter «Engelsgeduld» die Kinder unterstützen und ihren Weg liebevoll begleiten. Damals wie heute ist eine streng christliche Grundhaltung nicht von vornherein unvereinbar mit einem kindgerechten pädagogischen Auftrag.
Jede Epoche findet eigene Lösungen für die sozialen Probleme. Wenn wir frühere Vorgehensweisen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen aus prekären Verhältnissen zu Recht ablehnen, kommen wir nicht darum herum, auch einen kritischen Blick auf den heutigen Umgang mit Kindern und Jugendlichen am Rande der Gesellschaft zu werfen.