Unter dem Titel «Fremdplatziert» widmet das Landesmuseum Zürich die zweite Ausgabe des Formats «Erfahrungen Schweiz» einem besonders dunklen und beschämenden Kapitel der Schweizer Geschichte: den Zwangsadoptionen und den Zwangseinweisungen von Kindern und Jugendlichen in Heime. Bis in die 1980er Jahre sollen einige Hunderttausend übelster Willkür ausgesetzt gewesen sein.
Das Museum setzt ganz auf die Überzeugungskraft der Leidensgeschichten, die von zehn Betroffenen erzählt werden. Der Besucher sitzt in einem Raum mit kahlen grauen Betonwänden, auf die die Videos mit den Berichten projiziert werden. Für die Aufnahmen wurde der gleiche Hintergrund gewählt, so dass eine geradezu surreal wirkende Präsenz entsteht. Der Ton wird über Kopfhörer übertragen, was die Intensität steigert und zudem den Vorteil bietet, zwischen verschiedenen Sprachen wählen zu können.
Vernichtung der Seelen
Die Schilderungen haben einen gemeinsamen Kern: Es wurde alles dafür getan, um die Seelen der Kinder zu zerstören. Die Zwangseinweisungen erfolgten, weil ein «Fürsorgeamt» der Meinung war, dass ein Kind zum Beispiel nach einer Scheidung nicht hinreichend von der Mutter versorgt werden konnte. Oder die Familienverhältnisse waren in den Augen des Amtes ganz allgemein «zerrüttet». Ein Kind konnte auch das Pech haben, wegen einer kleinen Straftat aufzufallen, was wiederum die Maschinerie staatlicher Beobachtung bis zur Einweisung in Gang setzte.
Manche Leidenskarrieren sind geradezu grotesk. Einer der Zeitzeugen, Jahrgang 1927, kam in ein Heim, weil ihn seine unverheiratete Mutter zur Adoption freigeben musste. Das hiess für ihn aber erst einmal, in einem Kinderheim in Thalwil untergebracht zu werden. Dann fand sich eine Pflegefamilie, der das Kind aber nach zwei Jahren zu teuer wurde. Also ging es in die Erziehungsanstalt «Sonnenberg» in Kriens LU.
Ein Mädchen, Jahrgang 1952, jenischer Abstammung wurde 14-jährig von ihrem Onkel vergewaltigt. Es kam zu einer gerichtlichen Verhandlung. Den Onkel liess man laufen, aber das Mädchen wurde in das Erziehungsheim «Zum Guten Hirten» in Altstätten SG verfrachtet. Da wurde ihr wieder und wieder eingebleut, dass sie als Kind einer jenischen Mutter der allerletzte Dreck ist.
Redeverbot
Von den zehn Befragten sind fast alle sichtbar durch die erlittenen Torturen gezeichnet – der eine oder die andere mehr oder weniger. Aber auch diejenigen, die äusserlich unauffällig sind, können über ihre Leidenszeit kaum sprechen, ohne dass sie für Momente von den Erinnerungen überwältigt werden. Die beginnen schon mit dem Leid, als kleines Kind willkürlich aus Bindungen herausgerissen zu werden. Damit keine neuen Bindungen entstanden, durften die Kinder in den Heimen nicht miteinander reden. Daneben gab es weitere Schikanen, die den Tagesablauf in den Heimen bestimmten. Und kleinste Übertretungen hatten drakonische Strafen zur Folge.
Weil das den Erziehern aber noch nicht reichte, steigerten sie die Schikanen bis zu unerträglichen Demütigungen bei einer Übertretung, die typisch für Kinder unter Stress ist und für die sie nichts können: dem Bettnässen. So wurden in einem Heim nachts die Betten kontrolliert, und wenn ein Bettnässer erwischt wurde, musste er bis zum nächsten Morgen neben seinem Bett stehen. Das jenische Mädchen wiederum wurde wegen des Bettnässens in einer Wanne mit eiskaltem Wasser so lange untergetaucht, bis es Todesangst erlebte. Im Laufe der Zeit floss Eiter aus den entzündeten Ohren. Verlor ein Junge bei einem Appell aus lauter Angst Urin, musste er ihn mit seiner Unterhose aufwischen und diese dann wieder anziehen.
Und es fehlte natürlich nicht der sexuelle Missbrauch. Ein Betroffener erzählt, wie er jeweils mit seinen Leidensgenossen nackt in einer Reihe antreten musste, und hinter ihnen ein Priester durchging, sich an ihnen zu schaffen machte, bis er schliesslich mit einem von ihnen in seinem Zimmer verschwand.
«Fürsorge und Zwang»
Gerade Jungen mussten in der Landwirtschaft arbeiten, so dass sie auch mit der Landbevölkerung in Kontakt kamen. Die aber machte vor dem elenden Zustand dieser Kinder ganz fest die Augen zu. Und auch in den Schulen wurde zwar bemerkt, dass die Kinder, die direkt von der Arbeit im Stall kamen, heftig rochen, aber niemand fragte danach, ob es kindgemäss ist, schon vor Sonnenaufgang Ställe auszumisten oder Kühe zu melken.
Die Videoinstallation fokussiert ganz auf die Erzählungen der Zeitzeugen, die nicht durch Interviewfragen unterbrochen werden. Daneben gibt es eine «Vertiefungsstation» mit kulturhistorischen Informationen. Doch können die Leidensgeschichten ganz für sich stehen. Das Landesmuseum verweist diejenigen, die weitere Informationen wünschen, auf das Nationale Forschungsprogramm 76 «Fürsorge und Zwang» (NFP 76). Dort finden sich viele wichtige Forschungsergebnisse, aber es bleiben doch einige Fragen.
So ist es schwer verständlich, warum Einrichtungen, die, wie wiederholt nicht nur im NFP 76 betont wird, dem traditionellen Familienbild anhängen, sich in ihrer Praxis absolut menschenverachtend und nihilistisch gebärden. Es gehört nun einmal nicht zum traditionellen Familienbild, dass man das Selbstwertgefühl von Kindern systematisch vernichtet. Und den Aufsichtspersonen musste ebenso wie den Erzieherinnen und Erziehern klar sein, dass das, was sie praktizierten, mit dem traditionellen Familienbild ebenso wenig zu tun hatte wie ein Konzentrationslager mit einem Sanatorium. Warum entgleisten sie also derartig, und warum handelte es sich dabei nicht um bedauerliche Einzelfälle, sondern um allzu weit verbreitete Missstände?
Die Verführung der Macht
Eine Antwort könnte die Sozialpsychologie liefern. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg haben eine Reihe von Untersuchungen erwiesen, dass in Konstellationen starken autoritären Gefälles das Gewissen des Einzelnen narkotisiert wird. Und die bis heute wichtigsten Experimente und Beiträge stammen von Philip Zimbardo. Immer dann, wenn einzelne Gruppen über andere absolute Macht haben, neigen diese in kürzester Zeit zur Willkür und zum Sadismus. Dagegen helfen nur Strategien der Machtbegrenzung. Es ist anzunehmen, dass die inzwischen erreichten Verbesserungen mit solchen neuartigen Strukturen zusammenhängen.
Aber dass in vor gar nicht so langer Zeit in Institutionen der Schweiz derartig menschenverachtende Verhältnisse möglich waren, wie sie von den Zeitzeugen berichtet werden, schockiert bis heute.
Landesmuseum Zürich bis 27. Oktober 2024