In ihren vielschichten Werken verweist die deutsche Künstlerin Andrea Büttner auf komplexe gesellschaftspolitische Situationen und Brüche. Bei aller Dramatik der Verhältnisse tut sie das behutsam und in leisen Tönen.
Manches ist fraglos schön und von Andrea Büttner (*1972) so inszeniert, dass diese Schönheit auch zum Strahlen kommt: Im grossen Parterre-Raum des Kunstmuseums Basel Gegenwart sind zwei hochformatige grosse Farbholzschnitte dem Spiel des einfallenden Sonnenlichts ausgesetzt. Das lichte Rosa und das Hellblau stehen in einem Kontrast zur «Brown Wall Painting» in erdig dunkelbraunem Ton, die Büttner bis auf jene Höhe der Wände auftrug, die sie mit ihren Händen noch erreichen konnte. Die allfällige Härte des Kontrastes wird gemildert durch den organischen Grundton aller Farben.
Eine Diaschau führt die Assoziationskette weiter. Es ist eine «Kunstgeschichte des Bückens» (2022): Die Künstlerin suchte in der Kunstgeschichte nach Werken vergangener Jahrhunderte, die Menschen – mehrheitlich sind es Frauen – bei Tätigkeiten zeigen, die eine bückende Körperhaltung erfordern wie im Garten, bei der Ernte, bei Haushaltarbeiten wie Waschen und Flicken. Diese Menschen können sich nicht zurücklehnen und ausruhen. Ihre Haltung signalisiert – auch wenn die Bilder nichts dramatisieren – Mühsal und lassen an Unterordnung oder gar Armut denken.
Die Stimmung in diesem Museumssaal mag man als typisch empfinden für Andrea Büttner. Ihrem seit den frühen 2000er-Jahren sich entwickelnden Werk widmet die Kuratorin Maja Wismer die grosse Ausstellung «Der Kern der Verhältnisse», die in alle drei Häuser des Kunstmuseums Basel greift. Sie umfasst zwei Geschosse des Kunstmuseums Basel Gegenwart sowie den grossen Korridor zwischen Haupt- und Neubau und führt zusätzlich mit Interventionen in die Abteilung der Alten Meister. Andrea Büttner schreibt sich damit ein ins ganze Sammlungs- und Ausstellungsprogramm des Museums und ermöglicht spannungsvolle Vergleiche und Einsichten in Querverbindungen.
Die Vielfalt der Medien, die Büttner einsetzt, ist beeindruckend: Holzschnitt, Zeichnungen, Malerei, Fotografie, Video, Installation, Dokumentation. Immer bringt sie ihre Werke in Schönheit zur Geltung. Immer ist die Präsentation wohlüberlegt und von Sorgfalt bis in jedes Detail geprägt.
Selbst die Bänke, auf denen sich die Besucher ausruhen können, sind Kunstwerke: Die handgewebten schönen Rückenkissen kontrastieren mit den Stapelkisten aus Kunststoff aus dem Baumarkt. Doch bei aller Gepflegtheit: Immer gibt die Künstlerin den Besucherinnen und Besuchern den Blick frei in Abgründe menschlicher Existenz. Sie tut das behutsam und eher leise, aber vielleicht gerade deswegen umso nachhaltiger.
«Karmel Dachau»
Zum Beispiel: Im Obergeschoss des Museums Gegenwart sind auf einer blauen Wand fünf Postkarten angebracht. Glasplatten schützen sie. Der Titel der Arbeit: «Dachau, Coventry, Gross St. Martin, Plötzensee». Die Postkarten mögen vielleicht idyllisch, sicher aber besinnlich anmuten. Sie verweisen auf Orte der Spiritualität und nur indirekt auf das, was wir spontan mit diesen Örtlichkeiten verbinden und was uns an Konzentrationslager, Hinrichtungsstätten und Orte der Kriegszerstörung erinnert.
Die blaue Wand ist die Rückwand einer Koje, in der Andrea Büttner ihre Videoarbeit «Karmel Dachau» (2019) zeigt, mit der sie uns in das Karmelitinnenkloster «Heilig Blut» blicken lässt, das 1964 als Ort der Versöhnung neben der Dachau-Gedenkstätte gegründet wurde. Nonnen kommen zu Wort, die seit Jahrzehnten hier leben und – begleitet von Bildern des einfachen und ruhigen Lebens in klösterlicher Bescheidenheit – ihre Beziehungen zur Stätte des Todes schildern.
Ähnlich hintergründig ist auch die Installation von idyllisch-friedlichen Fotos, die den heutigen Zustand einer Gartenanlage in Dachau zeigen (Bild ganz oben). Der sehr lange Titel der 2019/2020 entstandenen Arbeit schildert ihre Doppelbödigkeit und öffnet den Blick in beispielloses Grauen: Diese Gärten benutzte ein SS-Mitglied, selber Gärtner, während er im KZ seinem Mordhandwerk nachging, für Experimente mit biodynamischem Gemüseanbau und Landwirtschaft, einer Anbaumethode, die Rudolf Steiner 1924 entwickelte.
Einer ganz anderen Lebensform katholischer Ordensfrauen als jener der Karmelitinnen in Dachau wandte sich Andrea Büttner bereits 2012 zu: Sie durchforstete das Römer Archiv der Kleinen Schwestern Jesu. Ihre Gemeinschaft wurde im Andenken an den 1916 in Algerien ermordeten früheren Offizier und Forscher und späteren Priester und Einsiedler Charles de Foucauld gegründet. Die kleinen Schwestern leben als eine Art Nomaden und stellen sich ganz in den Dienst randständiger Menschen. Büttner stellte aus dem Archivmaterial die Diaschau «Little Sisters: Lunapark Ostia» zusammen, die den Alltag der Schwestern unter anderem in einem Vergnügungspark in Ostia zeigt, wo sie mit ihrer schlichten Präsenz ein Zeichen setzen. Entstanden ist eine in ihrer Anteilnahme berührende und zugleich unspektakuläre Bildfolge, die extreme Gegensätzlichkeiten menschlichen Daseins bezeugt.
Armut als Thema der Kunst
Ist, was Andrea Büttner hier schildert, Kunst? Oder ist es Journalismus, und ist das Museum überhaupt der Ort, das Thema öffentlich abzuhandeln? Die Frage mag insofern müssig sein, als die Authentizität der Arbeiten, aber auch das Fliessen der Bilder und die Tonspur für sich sprechen. Beide Arbeiten überzeugen und lassen dem Publikum Zeit, sich in die jeweilige Situation einzufühlen. Zusätzlich unterstreicht «Little Sisters» Andrea Büttners Vorliebe für die Dokumentationsarbeit als Strategie der künstlerischen Annäherung an komplexe gesellschaftliche Realitäten.
Andrea Büttner, geboren 1972 in Stuttgart, lebt heute in Berlin. Sie studierte an der Universität der Künste in Berlin bei Dieter Hacker sowie Philosophie in Tübingen und in Berlin. Promotion am Royal College of Arts in London. Sie unterrichtet an der Kunsthochschule Kassel. Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen in Europa und in den USA. 2017 wurde Andrea Büttner aufgrund ihrer Ausstellung in der Kunsthalle St. Gallen für den Turner Prize nominiert.
Diese Vorliebe führt im Durchgang zwischen dem historischen Hauptbau des Museums und dem Neubau zu einer raumgreifenden und vielschichtigen Installation zum Thema «Bettler», das – fasst man es auf als Beitrag zum Thema gesellschaftlicher Brüche – als wesentlicher Strang in Büttners ganzem Werk gesehen werden kann. Die Künstlerin präsentiert hier ihre Serie grossformatiger Holzschnitte «Beggars» (2015). In weissen Linien auf schwarzer Grundfläche zeigen diese Holzschnitte Bettler in archaischer Pose, auf dem Boden hockend, das Gesicht verhüllt, die Hände den Vorbeigehenden entgegengestreckt – an expressive Vorbilder zum Beispiel von Ernst Barlach erinnernd.
Andrea Büttner lässt es nicht bei der Präsentation dieser Holzschnitte auf den eigens grün hergerichteten Wänden des Durchganges bewenden. Sie breitet auf Tischen Drucke von kunsthistorischen Darstellungen von Bettler-Szenen aus dem Londoner Warburg-Institut aus und zeigt zugleich Fotos ihrer Rückseiten. Das verrät: Diese Kunstwerke wurden für viel Geld an Auktionen von Sotheby’s gehandelt. Auch da wird also Doppelbödigkeit ins Spiel gebracht: Der kapitalistisch ausgerichtete Kunsthandel bedient sich ausgerechnet des Sujets «Armut».
Andrea Büttner ist sich zweifelsfrei bewusst, dass sie mit ihrem eigenen (im Handel erfolgreichen) Werk in ein ähnliches systemimmanentes Spannungsfeld gerät, das schwer auszuhalten ist. Diese Problematik teilt sie mit sehr vielen Künstlerinnen und Künstlern, die sich gesellschaftspolitischen Fragestellungen widmen.
Ein ähnliches Spiel mit Gegensätzen findet sich auch in der Diaschau «Shepherds and Kings» (2017) im gleichen Raum: Andrea Büttner trug Abbildungen von 80 Beispielen von Weihnachtsdarstellungen aus der europäischen Kunstgeschichte zusammen. Links läuft die Reihe mit kargen Darstellungen der armen Hirten, rechts jene mit kostbar ausgestatteten Bildern der Drei Könige mit ihren Goldgeschenken.
Fordernde Ausstellung
Dass die Künstlerin in den «Beggars»-Raum Rembrandts Grafiken zum Thema «Bettler» aus den Basler Museumsbeständen integriert, ist nicht nur Reverenz gegenüber dem gastgebenden Institut, sondern hat insofern System, als die Künstlerin die Besucherinnen und Besucher im Hinblick auf die hauseigene Sammlung sensibilisiert und den universellen Charakter ihrer Thematik unterstreicht. Deutlich wird das, wenn sie ihre «Bread Paintings» – auf monochrome Hinterglasmalerei gesetzte Bilder von Brotlaiben so neben entsprechenden Sujets in der Galerie der Alten Meister des Basler Kunstmuseums präsentiert, dass man über Jahrhunderte formale und auch inhaltliche Parallelen wahrzunehmen beginnt.
Die Ausstellung «Der Kern der Verhältnisse» ist auch selber doppelgesichtig: Auf der einen Ebene ist die Sprache Andrea Büttners einfach und schlicht und bisweilen auch eingängig schön – so in einigen grossen Farbholzschnitten. Doch das trügt, denn auf einer zweiten Ebene ist sie in hohem Masse fordernd. Sie entzieht sich jeder raschen und oberflächlichen Rezeption, was sich drastisch in der Installation «Images in Kant’s Critique of the Power Judgment» (2014) zeigt: Büttner, die neben Kunst auch Philosophie studierte, suchte nach bildlichen Entsprechungen zu Sprachbildern in Kants Text. Sie fragt nach den Beziehungen zwischen Bild und Sprache und damit auch nach der Kritik an der (auch der eigenen?) Bild- und Textarbeit. Die grossen Bildtafeln gemahnen an das Projekt Mnemosyne-Atlas des Kulturtheoretikers Aby Warburg (1866–1929). Ohne eine ausführliche Beschäftigung mit Kants umfangreichem Text, der im Saal aufliegt, mag das Ganze aber kaum verständlich werden.
Fordernd ist die Ausstellung auch, weil sie – bei aller Behutsamkeit – auf gesellschaftspolitisch komplexe, dramatische und oft auch widersprüchliche Sachverhalte verweist, dabei aber die Gegensätzlichkeiten nicht entwirren will. Andrea Büttner stellt Fragen, ohne sie zu beantworten. Was wohl als ihr eigenes Kunst-Statement verstanden werden darf.
Andrea Büttner: Der Kern der Verhältnisse. Kunstmuseum Basel Gegenwart sowie Haupt- und Neubau. Bis 1. Oktober. Eine Publikation erscheint in Kooperation mit der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf im Juni.